Wazzim Razzouk hat das Fenster geöffnet, er sitzt in einer Gewölbe-Wohnung über dem Bazar der Altstadt. Die Sonne fällt in die weiß gekalkten Räume, auf große Spiegel und eine Liege mit Lederbezug. Ein Muezzin ruft zum Gebet, vor Wazzim sitzt Maayana, eine junge jüdische Israelin. Auf ihrem Arm kleben zwei kleine Gefäße mit Farbe, dann taucht Wazzim die Nadel in das Schwarz und wirft seine Tätowiermaschine an.
Wazzim Razzouk arbeitet schnell und konzentriert, auf die Innenseite des Oberarms schreibt er 1. Korinther – Kapitel 13 – Das Hohelied der Liebe. Die junge Frau sieht nicht hin, aber sie verzieht kaum eine Mine. Wazzim selbst hat auch viele Tätowierungen, auf dem linken Unterarm ist Jesus am Kreuz eingraviert, am Handgelenk das koptische Kreuz. So, wie es in Ägypten auch heute noch bei Kopten üblich ist.
"Das koptische Kreuz am rechten inneren Handgelenk – das ist ein Erkennungszeichen. Das ist unsere Tradition. Schon meine Vorfahren haben das Kreuz tätowiert. Und es war nur Menschen mit dieser Tätowierung erlaubt, koptische Kirchen zu betreten, daran haben sich in Ägypten koptische Christen wiedererkannt."
Das Kreuz als Zeichen der Ausgestoßenen
Ursprünglich ließen sich Christen in Ägypten ihren Glauben nicht unter die Haut stechen – jedenfalls nicht freiwillig. Das änderte sich um 640 nach Christus. Da wurde das Land islamisch, Andersgläubige wurden zu Ausgegrenzten:
"Unter islamischer Herrschaft wurden die Christen gezwungen, zum Islam zu konvertieren. Die sich weigerten zu konvertieren, die wurden mit einem Kreuz auf ihrer Hand gekennzeichnet. So war allen klar: Das sind Ausgestoßene. Das kam aus der griechischen Tradition: Bereits die Griechen tätowierten Straffälligen die Gesichter, sodass jeder sie als Kriminelle erkennen konnte."
Heute ist das Tattoo eines koptischen Kreuzes positiv besetzt. Wazzim zeigt auf ein verblichenes Foto: Sein Urgroßvater sitzt in der Wüste, neben ihm eine Frau in schwarzen Kleidern. Der Großvater sticht das Kopten-Kreuz. Der Familiengeschichte zufolge tätowieren die Wazzouks seit rund 600 Jahren – damit betreiben sie das älteste fortlaufende Tätowier-Geschäft der Welt, sagt Wazzim. Vor etwa 400 Jahren verließ die Familie Ägypten und ließ sich in der verwinkelten Altstadt von Jerusalem nieder. Mit ins Heilige Land retteten sie ihren guten Ruf.
"Schon vor 400 oder 500 Jahren pilgerten koptische Christen unter schwersten Bedingungen von Ägypten aus ins Heilige Land – für sie war das ein Höhepunkt in ihrem Leben. Sie pilgerten zum koptischen Kloster in Jerusalem. Und viele erinnerten sich an den koptischen Tätowierer, der von Ägypten ins Heilige Land gezogen war. Also kamen sie zu ihm und baten ihn, neben dem koptischen Kreuz, das schon an ihrem Handgelenk tätowiert war, das Wort 'oschalim' für Jerusalem und das Datum ihrer Pilgerreise zu stechen. Das war ihr Beweis, dass sie ins Heilige Land gepilgert waren. Und das ist der Anfang der religiösen Pilger-Tätowierung weltweit."
Das Jerusalemkreuz für Könige und Pilger
Unterschiedlichste Menschen haben sich im Lauf der Jahrhunderte von den Nadeln der Wazzouks stechen lassen: etwa Mitglieder des englischen Königshaus, auch sie auf Pilgerfahrt ins Heilige Land. Damals waren Tätowierungen hoffähig. Offenbar trug Edward, der Sohn von Königin Victoria, ein Jerusalemkreuz aus der Werkstatt der Wazzouks. Christen, Muslime und Juden – alle suchen das Atelier der Wazzouks auf. Und das, obwohl es Religionen gibt, in denen die Tätowierung eigentlich nicht erlaubt ist. Juden etwa ist es nach Levitikus, Kapitel 19, eigentlich nicht gestattet: Ihr dürft euch keine Zeichen einritzen lassen, ist dort zu lesen.
"Einige Leute sagen, dass es nach der Bibel verboten ist, sich tätowieren zu lassen. Andere sagen, nur das Tätowieren von Buchstaben und Nummern sei nicht zulässig. Aber religiöse Motive seien gestattet. Ich habe jede Menge Priester unter meiner Nadel gehabt. Und ein Kreuz tätowiert zu bekommen, ist Tradition in der koptischen Kirche. Also, ich denke: Die Kirche erlaubt es, und heute ist das sowieso eher eine Sache der Interpretation."
Szenegänger und Jerusalem-Touristen
Rund um die Osterfeiertage, sagt Wazzim, stehen die Leute regelrecht Schlange, dann ist Hochsaison für den Tätowierer. Priester drängeln sich neben äthiopischen Christen, Jerusalem-Fans und jüdischen Szenegängern aus Tel Aviv. Gefragt sind Ornamente, Maria mit Kind, die Kreuzigungsszene, das Jerusalemkreuz.
"Ich habe auch einige muslimische Kunden, denn wir stechen natürlich nicht nur christliche Symbole. Wir stechen den Leuten unter die Haut, was sie wollen: künstlerische Tattoos etwa. Wir versuchen schon, mit der Zeit zu gehen. Als ich das Studio von meinem Vater übernommen habe, habe ich beschlossen, auch mehr auf moderne Technik zu setzen. Gleichzeitig will ich aber auch die Familientradition bewahren – so weit wie möglich."
Ursprünglich wollte Wazzim einen anderen Beruf ergreifen. Das Geschäft erschien ihm schlicht zu blutig. Sein Vater, sagt der 41jährige, habe das Ende der Familientradition befürchtet. Dann aber kam die Wende.
"Als ich mich noch gegen das Tätowieren sträubte, arbeiteten bei uns einige russische Künstler aus Tel Aviv. Sie kamen vor allem während der Osterfeiertage, und ich war vollkommen beeindruckt von ihrer Art zu tätowieren. Ich lernte also von ihnen und von meinem Vater – und ich habe das Beste aus Beidem gezogen. Ich werde also weitermachen."
Sein elfjähriger Sohn übt bereits an künstlicher Haut – bis jetzt nur zuhause. Er zeige großes Talent, sagt Wazzim, ohne Probleme würde er sich schon jetzt unter die Nadel des Sohnes legen. In seinem Atelier in der Jerusalemer Altstadt greift Wazzim wieder zur Nadel und setzt sie bei der jungen Jüdin Maayana an. Wieder verzieht sie nur leicht das Gesicht, als Wazzim sein Werk vollendet.
"Ich liebe den Schmerz. Es ist ein Schmerz, aber es ist ein guter Schmerz. Du liebst dein Tattoo. Du hast es dein ganzes Leben – es ist wie heiraten."