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Tauben, Trödel und Touristen

20 Millionen Besucher pro Jahr, gedrängt auf sieben Quadratkilometern. So klein ist das historische Zentrum von Venedig und es platzt aus allen Nähten. Venedig gehört zu den meistbesuchten Orten weltweit. Eigentlich ist die Lagunenstadt mit seinen verwinkelten Gassen und Wasserkanälen gar nicht gemacht für einen solchen Massenandrang.

Mit Reportagen von Kirstin Hausen |
    Die Stadt wurde auf Millionen von Baumpfählen gebaut, die man in den Schlamm der Lagune rammte. Um dem Besucherstau zwischen Markusplatz und Rialtobrücke zu entgehen, schlagen die Einheimischen heute Haken, laufen Umwege durch schmale, schmutzige Gassen abseits des Touristenstroms und versuchen, sich mit dem Ansturm aus aller Welt zu arrangieren.

    Die einen verdienen gut an den Besuchern, die anderen ärgern sich über hohe Preise und überquellende Abfalleimer. 260.000 Venezianer versuchen in der Stadt, die seit 1986 Weltkulturerbe ist, ganz normal zu leben. Kein leichtes Unterfangen. Dementsprechend hitzig sind die Diskussionen über Venedigs touristische Zukunft. "Venedig haben wir allein dem menschlichen Wahnsinn zu verdanken", hat der italienische Skandalfotograf Oliviero Toscani gesagt. Kann man dem Wahnsinn mit Vernunft begegnen?

    Mit seinem 1908 verfassten Gedicht "Venezianischer Morgen" setzte Rainer Maria Rilke, einer der bedeutendsten Lyriker deutscher Sprache, Venedig ein Denkmal. Ähnlich wie Johann Wolfgang von Goethe war Rilke von der Lagunenstadt, die er insgesamt zehn Mal besuchte, fasziniert. Die Faszination Venedigs ist vor allem wegen der besonderen Lage im Wasser, der bewegten Geschichte der Stadt, ihrer unzähligen Kunst- und Bauwerke bis heute ungebrochen. 20 Millionen Besucher aus aller Welt kommen jährlich nach Venedig. Venedig ist somit die von Touristen am häufigsten besuchte Stadt.

    Das schafft Probleme, denn der historische Kern ist nur sieben Quadratkilometer groß. Auf dieser kleinen Fläche drängeln sich die Besucher bisweilen wie auf einem Rummelplatz. Eigentlich ist die Lagunenstadt mit ihren verwinkelten Gassen und Wasserkanälen gar nicht geeignet für einen solchen Massenandrang.

    Der Markusplatz. Er ist das frühere Zentrum der venezianischen Macht, sowohl der kirchlichen als auch der politischen, als Venedig ein eigener Staat war: die freie und stolze Serenissima, Seerepublik mit weltweiten Handelsbeziehungen und einem Dogen als Herrscher, der hier in angemessener Pracht residierte.

    Heute ist die 175 Meter lange und bis zu 52 Meter breite Piazza San Marco eines der Hauptziele der Venedigbesucher. Doch nicht alles ist schön, was es auf diesem Platz der Plätze gibt. So kostet hier ein Cappuccino in einem der zahlreichen Cafés mehr als das Fünffache des durchschnittlichen Preises. Und anstatt Kunst werden kitschige Souvenirs made in China von Straßenhändlern als einheimische Qualitätsprodukte den Besuchern angepriesen.


    Voll, teuer und geschmacklos
    Die abschreckende Seite der Serenissima
    Zehn Uhr morgens. Auf dem Markusplatz tummelt sich bereits die ganze Welt: Koreaner mit schwerer Fotoausrüstung, Chinesen, Südamerikaner, eine amerikanische Reisegruppe, spanische Jugendliche mit Rucksäcken, Russen in kurzen Hosen. Die Besucherschlange vor der Basilika ist bereits mehr als 50 Meter lang. Im Gänsemarsch geht es vorwärts. Auf einer nicht genutzten Absperrung sitzt eine blonde Frau von Mitte 50. Sie lässt die Beine baumeln und blättert in ihrem deutschsprachigen Reiseführer.

    "Wir haben diese Reise von unseren Kindern bekommen, und ich finde das schön, dass wir zu dieser Jahreszeit hier sind. Trotzdem ist es mir fast schon zu voll. Ich mag mich da auch nicht so einreihen in so einen Haufen Leute. Ich bin einmal schon durchgegangen, aber ohne Führung und ohne Literatur schafft man das nicht. Und diese Menschenmassen aus aller Herren Länder, das habe ich nicht so erwartet."

    Mareike Fünderer legt den Kopf in den Nacken und betrachtet die Fassade der Basilika. Antike Säulen aus Marmor und Alabaster wachsen in den Himmel, zwei Stockwerke bauen sich monumental übereinander auf, mit Portalen, Bögen, Skulpturen, Galerien. Löwenköpfe blicken vom Hauptportal auf das Menschengewimmel herunter.

    "Im Sommer würde ich ums Verrecken nicht her wollen. Diese Fülle von Menschen ist mir zuwider. Aber verstehen kann ich es auch, weil das Kulturerbe eben so groß ist, und daher kann man jeden verstehen, der sagt, man muss es mal gesehen haben. Und was die Zukunft anbelangt: Ich weiß nicht, wie man das steuern will."

    Mareike Fünderer schaut ratlos auf die Besucherschlange vor der Basilika. Sie reißt nicht ab. Im Gegenteil: immer mehr Menschen stellen sich an. Wer eine Jacke dabei hat, zieht sie aus. Wer eine Tasche trägt, stellt sie ab. Es ist ein warm. Eine hagere Frau mit Sommersprossen probiert einen Fächer aus, den es am Souvenirstand vor dem Eingangsportal zu kaufen gibt. Ein schwarzes Plastikding mit Gondelmotiv, billigste Ware, made in irgendwo, sicher nicht in Venedig.

    Der Verkäufer klappt weitere Fächer auf, er schüttelt eine Schneekugel mit Miniatur-Markusplatz, zupft an einem T-Shirt mit der Aufschrift "Viva Venezia" in Glitzerbuchstaben.

    "Wir verkaufen die typischen venezianischen Souvenirs: Gondeln, Schlüsselanhänger, Püppchen, Masken aus reiner Handarbeit. Die hier kosten fünf Euro, diese 15. Und die hier mit den Federn dran, die werden besonders gern gekauft."

    Handarbeit? Die Plastikmasken sehen alle gleich aus. Wie aus ein und derselben Fabrik in Osteuropa oder Asien.

    "Diese Maske ist hier gemacht! Die meisten sind hier gemacht. Fragen sie meinen Chef."

    Das Thema ist dem Verkäufer unangenehm. Er setzt sich auf seinen mitgebrachten Stuhl und verschränkt die Arme vor der Brust. Alessandro ist sein Name, aber alle nennen ihn nur Alex.

    Alex kramt eine Schachtel Zigaretten aus seiner Hosentasche. Rauchen darf er eigentlich nicht bei der Arbeit, das schrecke die Kundschaft ab, sagt sein Chef. Aber im Moment ist sowieso nicht viel los an seinem Stand. Das wird sich schnell ändern. Denn erfahrungsgemäß stürzen sich die Touristen nach der Besichtigung von Basilika und dem angrenzenden Dogenpalast auf seine Souvenirs. Und dann werden auch die obligatorischen Fotos gemacht.

    "Ich könnte den Löwen von da vorne, aber dann kriege ich die Glockenschläger nicht, dafür brauche ich einen Zoom."

    Peter Baumann, Hobbyfotograf aus Hamburg, will den Dogenpalast ohne Touristen - zumindest auf seinen Fotos. Immer wieder ändert er die Einstellung, dreht die Kamera auf dem Stativ hin und her, zoomt auf Details.

    "Dieser Platz ist derartig groß, hier könnte man als Fotograf den ganzen Tag ausschließlich hier sein."

    Blaue Augen, grauer Bart, sonnengebräunte, sehnige Arme - Peter Baumann reist gern und viel.

    "Ich bin das zweite Mal hier und ich bin ein Typ, der immer was Schönes und Positives findet. Aber es ist eine Abzocke ohne Ende. 1,50 für die Toiletten. 8,50 kostet der Cappuccino! Das ist doch nicht mehr normal. Was ich gut finde hier, dass ein Unterschied zwischen Touristen und Einheimischen gemacht wird. Aber man muss die Touristen nicht so melken, wie es hier passiert. Das ist einfach zu viel. Ich glaube, die Leute sind zu verwöhnt, sie brauchen nicht viel zu tun, die schönen Bauten sind da."

    Mit einer ausladenden Geste zeigt er über den Platz, dann widmet er sich wieder seiner Kamera.

    12 Uhr, Zeit für einen Aperitif. Nach venezianischer Sitte nimmt man jetzt einen "Ombra", ein Glas einfachen Landwein zu sich. Bloß wo? Die verchromten Caféhausstühle gegenüber des Glockenturms glänzen in der Sonne, sie laden müde Besucher zu einer Pause ein. Sich hier nieder zu lassen, ist verführerisch - und sehr teuer. Ein kleines Glas Wasser kostet sechs, der Landwein zehn Euro. Kein Wunder, dass kein Venezianer seinen "Ombra" auf dem Markusplatz zu sich nimmt.

    Die Tische sind besetzt von Japanern, Amerikanern, Franzosen und Russen. Fast alles Paare. Nur an einem Tisch sitzt eine größere Gruppe. Vier Männer und zwei Frauen aus Sankt Petersburg. Die Männer trinken Bier, die Frauen essen Eis.

    "Trinken dürfen wir nicht", scherzt die jüngere der beiden Frauen. Die Augen sind hinter einer überdimensionalen Sonnenbrille einer italienischen Edelmarke verborgen. Sie balanciert eine Erdbeere auf dem kleinen Silberlöffel Richtung Mund. Die Männer schauen ihr belustigt zu. Dann winken sie nach dem Kellner. Ihre Gläser sind leer.

    "Wir wissen nicht genau, wie viel das hier kostet, wir haben den Preis nirgendwo gelesen", sagt einer der Russen, ein breitschultriger Mittvierziger im Polo-Shirt. Es scheint ihn aber weder zu beunruhigen noch zu interessieren. Seine Augen wandern über den Platz, bleiben an einer jungen Frau im Minirock hängen, die Hand in Hand mit ihrem Freund vorbeischlendert. Sie wirkt verärgert.
    "Es ist sehr schön, aber wir wollten auf den Campanile und im Reiseführer stand etwas von drei Euro, er wollte dann aber acht Euro von uns haben und das ist ein wenig zu teuer, nur um auf diesen Turm zu gehen."

    Stefanie, eine Studentin aus Münster, zeigt anklagend auf den Glockenturm. Die Venedigreise ist ein lang gehegter Traum von ihr, die Reisekasse allerdings nicht sehr voll.

    "Wir bleiben insgesamt sechs Tage, aber auf dem Lido, weil es einfach günstiger war. Wir bezahlen jetzt für ein Drei-Sterne-Hotel drüben dasselbe, was wir hier in einer Privatunterkunft bezahlt hätten. Und dafür kann man ruhig 20 Minuten auf der Fähre fahren."

    Das Lido ist Venedigs größte vorgelagerte Insel. Dort ist es weniger touristisch als auf dem Markusplatz, aber auch auf dem Lido lauert der Nepp. Zum Beispiel beim Essengehen.

    "Das hatten wir gestern Abend schon. Aber ich hatte von Bekannten schon die Warnung bekommen, dass man nicht alles anrühren sollte, was auf dem Tisch steht, und das haben wir uns zu Herzen genommen. Ich glaube, darüber waren die ein wenig erbost. Wir haben auch das Brot stehen lassen, denn man muss alles extra bezahlen, ob es jetzt Erdnüsse sind oder diese Griesstangen oder was das sind. Das kostet alles extra."

    Stefanie zuckt mit den Achseln. So ist es halt. Venedig ist ein Traumziel. Mit Traumpreisen.


    Das Alltagsleben der Venezianer, wie es Wolfgang Koeppen, Jahrgang 1906, in seinem Buch "Ich bin gern in Venedig, warum" beschreibt, hat sich in den letzten Jahrzehnten mit dem Einsetzen des Massentourismus drastisch verändert. Viele kleine Handwerksbetriebe, Zeitungsläden und Bars sind verschwunden. Sie mussten Souvenirläden und Fast-Food-Restaurants Platz machen. Allein an einem ganz normalen Tag - ohne Biennale oder Karneval - strömen zuweilen 150.000 Menschen in die Stadt. Das sind fast drei Mal so viele Personen wie noch im historischen Zentrum auf der Laguneninsel wohnen. Und die werden immer weniger. In den Siebziger-Jahren hatte das historische Zentrum von Venedig noch 140.000 Einwohner, heute sind es knapp 60.000, Tendenz sinkend. Ein Exodus.

    Vor allem junge Venezianer, die nicht im Tourismus beschäftigt sein können oder möchten, verlassen auf der Suche nach einem Arbeitsplatz die Lagunenstadt und kehren meist nicht mehr zurück. Venedig altert deshalb noch schneller als andere italienische Städte.

    Aber es gibt auch Gegenbeispiele: junge Venezianer, die um nichts in der Welt ihrer Heimatstadt den Rücken kehren würden.



    Leben mit dem Massentourismus
    Ein Venezianer in Sorge
    Der Busbahnhof an der Piazzale Roma. Ein Verkehrsknotenpunkt für alle Venezianer, die auf dem Festland arbeiten. Hier starten orangenfarbene Linienbusse in die Umgebung und blaue Überlandbusse, die bis Treviso oder Padua fahren. Ganz in der Nähe stellen die heimkehrenden Venezianer ihre Autos ab. So auch Marco Vidal, 28 Jahre, Repräsentant eines Parfumherstellers in der Provinz Venetien.

    Es ist sechs Uhr abends, der Himmel bewölkt, es windet. Marco, ein kräftiger, großer Mann mit rötlich-braunem Bart schlägt den Mantelkragen hoch und überquert die Brücke über den Rio Nuovo.

    Nur der Canal Grande darf sich Kanal nennen, alle anderen heißen Rio.

    "Der Canal Grande hält uns den Spiegel vor. Und was sehen wir? Nur noch Hotels."

    Marco ist nicht gut zu sprechen auf die Touristen. Sie bringen zwar eine Menge Geld in die Stadt, sagt er, ruinieren aber die Preise. Zum Beispiel für Wohnungen.

    "Der Immobilienmarkt ist stark beeinflusst durch die touristische Nachfrage. Eine Wohnung, die für eine Familie in Frage kommt, eignet sich auch als Bed-and-Breakfast-Hotel. Wenn ich also eine Wohnung suche, muss ich mit völlig überzogenen Mietforderungen rechnen. Die Stadt vergibt zwar auch Sozialbauwohnungen, aber es sind viel zu wenige, und sie gehen nur an die untersten Einkommensschichten. Der Mittelstand profitiert nicht davon und kann sich infolgedessen Venedig nicht mehr leisten."

    Auf seinem Weg nach Hause begegnet Marco immer wieder Leuten, die er mit einem Kopfnicken grüßt. Es sind Pendler, die den umgekehrten Weg haben. Sie kehren von der Arbeit in Venedig heim aufs Festland. Viele arbeiten im Verkauf. Glasperlen, Modeschmuck, Masken.

    "Hier war früher ein Friseurgeschäft, aber das hat inzwischen geschlossen und dabei sind wir hier nicht einmal in einer der touristischsten Gegenden von Venedig. Der Einzelhandel wurde vor zehn Jahren liberalisiert, seitdem sind viele alteingesessene Geschäfte wie beispielsweise Schuster und Metzgereien zugunsten von Souvenirshops verschwunden. Der Stadtrat hätte diese Entwicklung natürlich durch bestimmte Auflagen bremsen könne, aber er hat es nicht getan."

    Die Brauen des 28-Jährigen wandern in die Höhe. Ein Kopfschütteln, ein Schulterzucken.

    "Venedigs größtes Problem ist der Exodus der angestammten Bevölkerung. Und es wird nichts dagegen getan, es gibt kein Projekt, das die Venezianer in den Mittelpunkt stellt. Stattdessen wird der Spekulation und dem Markt Tür und Tor geöffnet. Der Tourismus hat sich so stark ausgebreitet, dass er den Venezianern, die nicht im Tourismus beschäftigt sind, den Raum nimmt. Alle anderen wirtschaftlichen Aktivitäten leiden unter dem Tourismus. Wenn eine Stadt 20 Millionen Touristen pro Jahr empfängt, aber nur 60.000 Einwohner hat, ist klar, dass sich der Einzelhandel nach den Bedürfnissen der Touristen ausrichtet, und nicht nach denen der Einwohner."

    Marco Vidal beschleunigt seinen Schritt. Das Thema wühlt ihn auf, auch wenn er gelassen wirken möchte.

    "Wir verscherbeln unsere Stadt an den Meistbietenden, betreiben einen Ausverkauf ihrer Schönheit. Venedig ist eine Art Disneyland geworden. Hier gibt es einige, die sich an den Touristen eine goldene Nase verdienen. Und weil sie keine Rechnungen ausstellen, können sie ihre Gewinne vor dem Fiskus verbergen und zahlen so noch nicht einmal Steuern. Ihren Reichtum haben sie auf dem Rücken der Stadt und der anderen Bürger gemacht. Sie geben der Stadt nichts zurück, und das ist sehr negativ."

    Inzwischen ist es dämmrig geworden. Rosarot verschwindet die Sonne hinter den Giebeln, taucht die stuckverzierten Palazzi in ein letztes goldenes Licht. Ein magischer Moment, Postkartenidylle.

    "Hier sind wir auf dem Campo San Polo."

    Marco Vidal lächelt stolz.

    "Ich hänge an dieser Stadt und werde bis zum letzten Atemzug hier bleiben. Niemals möchte ich in einer anderen Stadt leben als Venedig. Meine Familie lebt hier schon seit Generationen, und auch ich will hier eine Familie gründen. Ich habe Glück, weil ich eine Arbeit und eine Wohnung habe, aber viele Freunde von mir sind nicht so privilegiert, und für die müsste die Stadt mehr tun."

    Einige dieser Freunde haben mit Marco vor sechs Jahren einen Verein gegründet: giovani veneziani, "Junge Venezianer" heißt er. Heute Abend treffen sich seine Gründungsmitglieder in einer Kneipe am Gemüsemarkt nahe der Rialtobrücke.

    Zwei junge Männer in Jeans und Turnschuhen warten bereits vor einem winzigen Lokals mit Holzportal. Drinnen bestimmen Glas und Chrom die Einrichtung.
    Die Freunde bestellen drei "Spritz", den typischen Aperitif aus Prosecco, Aperol und Selterswasser, aufgegossen mit Eis.

    "Viele Venezianer gehen nach der Arbeit nicht direkt nach Hause, sondern kommen hierher, trinken etwas, treffen Freunde."

    Gianpaolo Toso, der Kassenwart des Vereins, zückt eine Kladde. Er hat ein Dossier der Handwerksinnung mitgebracht.

    "Ich arbeite dort, und wir haben eine sehr interessante Studie gemacht. Es geht um die Ausgaben der Venedigbesucher: was sie kaufen, wer von ihnen profitiert. Heraus kam, dass sie sehr wenig venezianische Handwerkskunst kaufen. Das meiste Geld geben sie für Unterkunft und fürs vaporetto aus."

    Gianpaolo rauft sich die blonden Haare. Blaue Augen hinter Designerbrille. Ein markantes Gesicht. Marco Vidal trinkt seinen Spritz aus. Es gäbe noch viel zu sagen. Aber vielleicht ist es besser, etwas zu tun. Bis zum Sommer wollen die jungen Venezianer Konferenzen und Ausstellungen zum Thema "Venedig gestern, heute und morgen" organisieren.


    "Auf dem Canal Grande" von Conrad Ferdinand Meyer ist eine Liebeserklärung des Schweizer Dichters, der im Winter 1871/72 Venedig besuchte. Wie viele andere Künstler ist er von der morbiden Schönheit der Lagunenstadt tief beeindruckt. Aber es ist nicht nur der äußerliche Eindruck, der den Dichter bewegt, sondern es ist vor allem das Symbolische, das er darin erkennt - und bedichtet.

    Eine Gondelfahrt auf dem Canal Grande, das überlegen sich die Touristen von heute sehr genau, denn eine einstündige Fahrt ohne Gesang kostet 120 Euro. Auch die horrenden Übernachtungspreise schrecken in Zeiten des Gürtel-enger-Schnallens viele Venedigbesucher ab. Viele kommen nur noch als Tagestouristen, hinterlassen viele Schmutz und Müll und wenig Geld. Innerhalb weniger Jahre nahm die Zahl der Übernachtungen in Venedig um drei Millionen ab.

    Die Hoteliers der alteingesessenen Häuser schlagen Alarm. Schäbige Bed-and-Breakfast-Unterkünfte laufen den renommierten Häusern den Rang ab. Die Schuld geben die Hoteliers der Stadtverwaltung, die mit dem vor einiger Zeit eingeführten Onlinebuchungssystem dem Massentourismus zusätzlich Vorschub leistet.


    "Die tun nichts für uns"
    Ein Hotelier gegen die Stadtverwaltung
    Die Rezeption des Hotels Saturnio International unweit des Markusplatzes. Dunkles Holz, gedämpftes Licht, gediegene Einrichtung. Ein historischer Palazzo, in dem früher Adlige wohnten und der heute Gästen aus aller Welt eine komfortable, sehr venezianische Unterkunft bietet. Zwei Männer und eine Frau stehen hinter der Empfangstheke, wickeln das Ein- und Auschecken ab und stehen bereit, um auf Fragen und Wünsche der Gäste einzugehen.

    Ein Japaner in Freizeitkleidung erkundigt sich nach dem Weg zu einer Sehenswürdigkeit, ein amerikanisches Ehepaar schleppt einen Berg Koffer in die Vorhalle, wo sich ein Mann in dunkler Livrée ihrer annimmt. Im Nebenraum, an einem schweren Schreibtisch, sitzt Gianni Serandrei. Anfang 40, schlank, kurz rasiertes Haar. Er ist einer der drei Söhne des Hotelbesitzers und zuständig für die Einrichtung und den Stil des Hauses.

    "Unser Hotel wurde im Jahr 1908 eröffnet und ist in der Folgezeit immer wieder renoviert und umgebaut worden. Die Möbel sind antik, vorwiegend 18. und 19. Jahrhundert. Ich persönlich mag die typisch venezianischen Möbel des 17. Jahrhunderts nicht so sehr. Die Kronleuchter sind natürlich aus Murano-Glas, wir sind hier schließlich in Venedig."
    Gianni Serandrei lacht, obwohl er derzeit eigentlich nicht viel zu lachen hat. Denn die Hotelbranche in Venedig steckt in einer Krise. Aber was soll man machen, sagt er mit einem Schulterzucken.

    "Venedig macht eine schwierige Zeit durch, weil die Stadt nicht beworben wird. Venedig ist wunderschön und weltberühmt, aber niemand kümmert sich um ihr Image. Das wirkt sich jetzt negativ aus. Als der Tourismus noch boomte, haben viele neue Hotels und Pensionen eröffnet und die Bettenzahl hat sich sogar verdoppelt."
    Gianni Serandrei zieht die Stirn in Falten. Der junge Hotelier ist mit dieser Entwicklung gar nicht einverstanden. Die Schuld sieht er auch bei der Stadtverwaltung.

    "Ich bin der Stadtverwaltung gegenüber ziemlich kritisch eingestellt. Die Stadt müsste sich mehr einsetzen, um den Touristen den Besuch unserer Stadt zu erleichtern, stattdessen werden die Fahrpreise für den Vaporetto ständig erhöht. Für uns Hoteliers tut sie nichts. Dieses Onlinebuchungssystem hat uns gerade noch gefehlt. Da kann man die Preise ruckzuck vergleichen, das erhöht den Konkurrenzdruck enorm. Am Ende geht es immer nur um den günstigsten Preis. Das Problem dabei: Es ist sehr schwer, sich auf so einer Internetseite abzugrenzen und den Unterschied klar zu machen zwischen einem Hotel, das Wert auf Service legt, und einem Vier-Sterne-Hotel, das zwar einen Aufzug und Klimaanlage hat, aber seinen Gästen sonst keinerlei Service anbietet."

    Das Handy auf dem Schreibtisch blinkt dezent. Gianni Serandrei nimmt es, liest die eingegangene SMS, steht auf. Auf dem Weg zum Fahrstuhl sucht der Booking-Manager ein Gespräch mit ihm. Doch dafür hat er jetzt keine Zeit. Erst will er die neu gestalteten Zimmer im oberen Stock inspizieren. Renoviert wird im Hotel Saturnio International behutsam und im Bewusstsein der Tradition.

    "Heutzutage wollen die Leute öfter wegfahren und achten viel mehr auf die Preise."

    Mit einem Seufzer tritt Gianni Serandrei aus dem Fahrstuhl und lässt sich von einer Angestellten die Zimmerschlüssel zur Suite geben.

    "Das ist eines der ältesten Zimmer des Hotels: Kassettendecke, Stuck, typisch Barock, natürlich ein Kronleuchter."

    Nur auf dem Schreibtisch steht eine moderne Designerleuchte, elegant, aber schlicht. Auch das Badezimmer ist modern: schwarzer Marmor, Jacuzzi-Badewanne.

    "Eine Hotelkette schaut doch nur auf die Rendite und will für 100 Zimmer so wenig wie möglich ausgeben. Also lässt sie 100 gleiche Betten bauen, 100 gleiche Schränke und fertig. Hier entscheidet die Besitzerfamilie zusammen mit den Architekten. Wir renovieren jedes Jahr ein paar Zimmer, dann ändert sich natürlich der Geschmack, und wir probieren verschiedenes aus."

    Gianni Serandrei löscht das Licht und schließt die Zimmertür wieder ab. Die Suite buchen vor allem Hochzeitspaare. Sie bekommen als Extraservice jeden Tag frische Blumen aufs Zimmer. Der junge Hotelier liebt diese kleinen Aufmerksamkeiten für den Gast, auch wenn sie zusätzliche Kosten verursachen.


    Die beengten Verhältnisse und die hohen Preise lassen immer mehr Venedig-Besucher zum Übernachten auf das Umland ausweichen. So hat sich an der Schnittstelle zwischen Lagune und Adria, dort wo nur eine Vaporettofahrt entfernt vom Markusplatz auch noch weitläufige Sandstrände locken, eine Tourismusindustrie etabliert, die in den Sommermonaten hunderttausende Besucher aufnimmt und als Tagesausflügler nach Venedig schwemmt.

    Vor allem Schulklassen, organisierte Reisegruppen und Anhänger eines sanften Tourismus verbinden ihre Kulturreise nach Venedig mit Naturerlebnissen in Dünen- und Lagunenlandschaft. Denn während in Venedig nahezu jeder Quadratmeter vom Menschen genutzt wird, gibt es an der Küste zwischen Punta Sabbioni und Jèsolo genug Raum. Hier wurden in letzter Zeit neben preisgünstigeren Hotels und Pensionen auch Campingplätze und Feriendörfer errichtet.

    Sanfter Tourismus als Alternative?-
    Eine Naturkundeführerin zeigt die andere Seite Venedigs
    Ein weitläufiger Strand, übersät mit Muscheln. Der Wind treibt die Wellen vor sich her an Land, sie tragen weiße Schaumkronen. Eine Schulklasse aus den Bergen bei Trento vergnügt sich bei einem Geschicklichkeitsspiel im feuchten Sand.

    Martina Rähr hat gerade Pause. Sie ist Naturkundeführerin, gebürtig aus Straubing, lebt aber seit mehr als 20 Jahren hier im Nordosten Italiens. Venedig und die Lagune sind ihre große Liebe.

    "Venedig ist ja in Gefahr, ein Abklatsch seiner selbst zu werden. Was gesagt, fotografiert und gefilmt wird. Keiner kann dem gerecht werden, was Venedig wirklich ist. Das sind über 1000 Jahre Geschichte, die du, wenn du einfach irgendwelche touristischen Punkte abhakst, überhaupt nicht mitkriegst. Venedig ist viel mehr. Auch die Stadt ist viel mehr, aber Venedig ohne Lagune ist nicht zu verstehen."

    Martina blinzelt in die Sonne. Sie hat glattes, schulterlanges Haar mit einem rötlichen Schimmer, helle, wache Augen, Lachfältchen. Ihr Gesicht ist gebräunt, man sieht: Sie hält sich viel draußen auf.

    "Jetzt, ja, am Meer, die Wellen hören und Muscheln suchen."

    Aufmerksam sucht ihr Blick den Sand ab, sie entfernt sich von der Gruppe, wandert am Strand entlang.

    "Ganz am Ende ist Punta Sabbioni, und da ist die Hafeneinfahrt vom Lido. Das ist fast ein Kilometer breit, es beginnt der Lido, geht Richtung Süden. Man kann sagen, die Lagune ist geschützt durch drei Küstenstreifen, zwei sind Inseln, Pellestrina und Lido und eine Halbinsel Cavallino."

    Plötzlich bleibt die Mittvierzigerin stehen. Sie bückt sich nach einer grau marmorierten Muschel.

    "Das ist eine, die heißt wörtlich übersetzt: der Fuß vom Esel, auf jeden Fall eine schöne Muschel, dann die Herzmuschel oder hier zum Beispiel: die Herkuleskeule, da findet man oft noch die Schnecke dazu."

    Martina ist in ihrem Element. Sie scharrt mit dem Fuß im Sand und gräbt immer mehr Muscheln aus. Sie kennt die Flora und Fauna hier sehr genau. Seit zehn Jahren ist sie Mitglied der Kooperative Limosa, die in der Lagune von Venedig einen alternativen Tourismus anbietet. Er richtet sich an Schulklassen und Kleingruppen aus Deutschland, die über einen deutschen Reiseveranstalter Venedig von einer neuen Seite kennenlernen wollen. Martina bringt sie zu Fischern auf der Insel Pellestrina und zu Bauern auf Sant'Erasmo, der Obst und Gemüseinsel vor Venedig.

    "Das ist ja nur ein ganz kleiner Sektor im Tourismus, und die Leute wollen genau das. Seit '99, machen wir diese Städtereisen, und das sind immer tolle Gruppen, die Gewicht dem sanften Tourismus geben und eben nicht wie die Faust eingreifen in eine Umgebung, die so delikat ist."

    Am Horizont taucht ein Schiff auf. Weiß, mit mehreren Stockwerken, ein Koloss. Es kommt aus der Lagune.

    "Der fährt jetzt gerade raus. Die griechische Fähre fährt ja täglich rein und raus, und das ist natürlich auch eine Belastung für die Stadt, durch den Druck für die Fundamente, die fahren da an San Marco vorbei."

    Martina bricht ab, sie könnte noch viel sagen zu den Problemen, die die Fähren und Kreuzfahrtschiffe Venedig ihrer Meinung nach bringen, aber das würde ihr die kurze Pause vermiesen, die sie hat. Gleich ist Abendessen, da muss sie wieder bei der Schulklasse sein.

    Das Feriendorf liegt direkt hinter dem Strand. Im Sommer sind die vielen verstreuten Bungalows restlos ausgebucht. Zurzeit sind die Schüler aus Trento noch die einzigen Gäste.

    "Das war eine kurze Pause, jetzt gibt's eine kleine Einweisung in die cena tipica, also das typische Abendessen, der Tag geht weiter bis elf Uhr abends, wir werden nach dem Abendessen noch eine Stunde rausgehen."


    Venedig - das ist ein Archipel aus Inseln und Inselchen, einige bekannt, wie die Glasbläserinsel Murano, die meisten unbekannt und sogar unbewohnt. Auf der Insel San Michele bestatten die Venezianer ihre Toten, auf der Insel des heiligen Erasmus bauen sie Obst und Gemüse an, auf der Giudecca rauchten bis vor einigen Jahren die Fabrikschlote. Die Industrieanlagen sind heute stillgelegt, stattdessen sind Luxushotels entstanden, die die internationale Prominenz anziehen.

    Denn hier ist noch Platz. Die langgestreckte, südlich gelegene Insel ist von Venedig durch den Canale della Giudecca getrennt. Die aktuelle Eroberung der Insel durch Spitzenhotels mit Wellnessbereich und allem Komfort sorgt unter den Venezianern für rege Diskussionen. Einerseits bringt die Entwicklung Geld auf die Insel, die aufgrund des Niedergangs der Industrie viele Arbeitsplätze verlor, andererseits besteht die Gefahr, dass auch die Giudecca ihre Ursprünglichkeit verliert.


    Inseln für die Reichen?
    Wohin der Luxustourismus ausweicht
    Wohlriechende Öle, viel Bambusholz, Wände in zartem Grün - hier, im Wellnessbereich des Hotelresorts Bauer Palladio, arbeitet Angela. Ihre warmen, leicht gebräunten Hände streichen über den Rücken einer Dame, die es sich auf einer Massageliege, so groß wie ein Bett, bequem gemacht hat. Hinter ihr stehen auf einem Tablett Cremetiegel und Fläschchen mit kostbaren Essenzen. Eine kleine Auswahl, nur das Beste.

    Die Augen geschlossen, den Körper entspannt, genießt die Dame das Streichen, Kneten und Massieren. Eine Stunde lang darf sie abtauchen in eine wohlige Welt des Nichtstuns. Danach wird sie von Angela in einen Bademantel gehüllt und nach dem Umziehen mit einem speziellen Kräutertee versorgt.

    Klassisch weiße Porzellantasse, Silberlöffelchen. Zeitlos schlicht und doch exklusiv ist der Stil, der hier gepflegt wird.

    Ein Paar, sie schmal und dunkelhaarig, er kräftig und blond, schaut herein. Der Mann macht mit Angela einen Termin für den Nachmittag aus, während sie die fabelhafte Aussicht bewundert. Der Wellnessbereich liegt ebenerdig und direkt am Kanal der Giudecca. Gegenüber ragt der Glockenturm des Markusplatzes in die Höhe. Von einem cremefarbenen Sofa aus lässt er sich in Ruhe betrachten. Die Dame mit der Teetasse in der Hand liebt diesen Platz ganz besonders. Sie hat ihn geschaffen. Das gesamte Hotelresort auf der Venedig vorgelagerten Giudecca-Insel ist ihr Werk.

    "Die Giudecca ist eine ganz besondere Insel. Hinter ihrer Fassade öffnet sich eine ganz eigene Welt, nicht so dramatisch und raffiniert wie Venedig, sondern im Gegenteil sehr Natur belassen und naturverbunden. Die Gärten, die Felder mit Gemüse - eine ländliche Welt ist das. Und eine Urlaubswelt. Die Venezianer fuhren früher auf die Giudecca-Insel zur Sommerfrische. Hier hatten sie ihre Gärten, und hier gab es Klöster. Zu dieser Insel gehört auch der Rückzug, die Religiosität und die Meditation."

    Francesca Bortolotto Possati, zierlich, sehr gepflegt, die blonden Haaren aufgesteckt, schlägt die Beine übereinander. Sie stammt aus einer alten venezianischen Familie, die in der Lagune mehrere Fünf-Sterne-Hotels besitzt, darunter das "Bauer Palladio" hier auf der Insel, das im 16. Jahrhundert noch ein Konvent war, gebaut von dem berühmten Architekten Andrea Palladio.

    "Dieser Konvent ist in seiner Geschichte so oft umgebaut und auch verschandelt worden, dass seine wahre Seele nur noch zu erahnen war. Ich habe versucht, ihm seine ursprüngliche Identität zurückzugeben und ein Hotel zu schaffen, das mehr ist als eine Unterkunft mit Verpflegung. Mir ging es um Rückzug in die Natur, um Ruhe und Spiritualität, um eine andere Art von Gastlichkeit in Venedig."

    Deshalb auch der große Garten, wahrer Luxus in einer Stadt wie Venedig, wo sich die Häuser eng aneinanderklammern und die Menschen teilweise noch heute ihre Wäsche zum Trocknen über den Gassen aufhängen, weil ihnen der Platz dafür fehlt.

    Francesca Bortolotto Possati strahlt, als sie den Garten betritt. Eine Terrasse mit eleganten Sonnenliegen lädt zum Verweilen ein, weiter hinten wiegen sich violette Tulpen im Wind. Ein uralter Olivenbaum streckt seine knorrigen Zweige von sich.

    "Das ist ein lebenslanges Projekt, so ein Garten. Jedes Jahr kommt etwas hinzu, man lernt ständig und tritt in einen regen Austausch mit der Natur. Das hier ist erst der Anfang, nächstes Jahr möchte ich den Garten auf die Fläche von einem Hektar ausdehnen. Vorher war hier Wildnis. Ich habe einen Garten anlegen wollen, der die Traditionen von früher berücksichtigt, diese Quadrate, das waren früher typische Gemüsebeete."

    Die Chefin der Bauer Hotel Gruppe streicht eine Haarsträhne nach hinten und verlässt den Garten durch das Restaurant in Richtung Konferenzsaal. In ein paar Wochen hält hier, in dem stimmungsvollen holzvertäfelten Raum mit niedriger Decke, ein tibetischer Meister Vorträge über Buddhismus. Spiritualität und Business - das geht für Francesca Bortolotto Possati sehr wohl zusammen. Venedig darf sich nicht verlieren im Strudel des Massentourismus, meint sie.

    "Quantität ist das Gegenteil von Qualität, das ist bekannt. Natürlich kann Venedig nicht seine Tore vor der Welt verschließen, aber es braucht eine Strategie und gewisse Limits, weil Venedig so kostbar ist und sein Zauber nicht verschlissen werden darf durch Leute, die seinen wahren Wert nicht erkennen, gar nicht mehr erkennen können. So verlieren wir die Qualität."

    Also darf nach Venedig nur noch kommen, wer es sich leisten kann? Francesca Bossolotto Possati schüttelt den Kopf.

    "Das Selektieren von Besuchern darf meiner Meinung nach nicht als Ausschlussverfahren interpretiert werden. Es ist vielmehr eine Schutzmaßnahme, um den Wert Venedigs zu bewahren und sicherzustellen, dass auch die folgenden Generationen noch das Venedig vorfinden, das sie suchen. Venedig braucht ein Bewusstsein für seine Identität und muss entscheiden, was es in der Zukunft sein will."

    Manuskript zur Sendung als pdf oder im Textformat.

    Literatur:
    - Rainer Maria Rilke: Venezianischer Morgen, aus: Mit Rilke durch Venedig: Literarische Spaziergänge. Herausgeber. Birgit Haustedt, Insel Verlag,
    Taschenbuch, 2009;
    - Conrad Ferdinand Meyer: Auf dem Canal Grande, Verlag Artemis & Winkler, 3. Auflage 1996
    - Stefan Zweig: Sonnenaufgang in Venedig, Fischer Verlag
    - Wolfgang Koeppen. Ich bin gern in Venedig warum, Verlag Suhrkamp 1996

    (Deutschlandfunk 2009)