Kommentar zu Taurus-Debatte
Kanzler Scholz' erneutes Zögern vor Lieferung an die Ukraine

Soll Deutschland der Ukraine Taurus-Marschflugkörper liefern? Wieder einmal zögert die Bundesregierung. Doch die Lieferung ist auch diesmal nur eine Frage der Zeit, kommentiert Stephan Detjen.

Von Stephan Detjen | 01.08.2023
Ein Tornado, mit einem davor liegenden Luft-Boden-Marschflugkörper "Taurus".
Begehrtes Kriegsgerät: Ein Marschflugkörper "Taurus" (re.) liegt vor einem Tornado-Kampfjet. (picture alliance / dpa / Jörg Carstensen)
Erst kam der Gepard, dann der Marder, schließlich auch der Leopard. Die Reihe fortzusetzen, fällt nicht schwer: Als nächstes kommt der Taurus, lateinisch der Stier, in Deutschland der Name eines Marschflugkörpers mit einer Reichweite von 500 und mehr Kilometern. Das macht den Taurus zu einem begehrten Objekt der ukrainischen Streitkräfte.
Spätestens seit Großbritannien und Frankreich ein ähnliches Waffensystem – „Storm Shadow“ oder „SCALP“ genannt – geliefert haben, steht die Bundesregierung unter wachsendem Druck, auch den Taurus für den Kampf gegen den russischen Überfall zur Verfügung zu stellen. Etwa 600 Stück besitzt die Bundeswehr, weitere wurden von dem deutschen Hersteller nach Spanien und Südkorea verkauft.

Bislang keine öffentliche Begründung für das Nein

Gründe für die bisherigen Absagen an die Ukraine wurden öffentlich nicht genannt. Hinter den Kulissen wird die technische Frage aufgeworfen, ob der Taurus, der von Kampfflugzeugen abgeschossen wird, mit den in der Ukraine eingesetzten Jets kompatibel ist. Der Hersteller indes bewirbt die Waffe ausdrücklich als Multiple Platform System, das von einer Reihe verschiedener Flugzeugtypen aus eingesetzt werden kann. Auch der britisch-französische Marschflugkörper wurde innerhalb einiger Wochen erfolgreich an die aus sowjetischer Zeit stammenden Bomber der ukrainischen Luftwaffe angepasst.
Anders als in der Debatte um die Lieferung von Kampfpanzern ist Olaf Scholz deswegen auch nicht mehr genötigt, mit der Lieferung eines neuen Waffentyps als erster voranzugehen.

Marschflugkörper weiten Operationsradius der Ukraine aus

Das erneute Zögern des Kanzlers dürfte allein daran liegen, dass Marschflugkörper den Operationsradius der Ukraine weiter als alle anderen bisher gelieferten Waffensysteme ausweiten. Erst in den letzten Tagen haben Drohnenangriffe auf Moskau belegt, dass die Ukraine dazu bereit ist, ihren Verteidigungskampf bis weit in das russische Hinterland auszuweiten. Das ist völkerrechtlich legitim und strategisch verständlich.
Die Bilder von aufgerissenen Hochhausfassaden in Moskau dürften indes vor allem psychologische Wirkung in der von der Kreml-Propaganda eingelullten russischen Bevölkerung entfalten. Militärisch bedeutsamer wäre es, mithilfe westlicher Marschflugkörper Nachschublager, Kommandozentralen und Verkehrsknotenpunkte auch weit hinter der Frontlinie treffen zu können.

Nuklearen Eskalation steht kaum noch zu befürchten

Für die Befürchtung, dass eine immer weitergehende Unterstützung der Ukraine zu einer nuklearen Eskalation des Krieges führen könnte, gibt es heute kaum noch Anlass. Putin zeigt so hartnäckig wie brutal, dass es ihm nicht um das Entfachen eines selbstmörderischen Weltenbrandes geht, sondern um die Zerstörung der Ukraine mit roher Gewalt, Zermürbung und scheinbar überlegenen Reserven.
Wenn Olaf Scholz sein Versprechen halten will, die Ukraine solange wie nötig bei ihrem Existenzkampf zu unterstützen, wird er nicht umhinkommen, noch einmal tiefer in die Waffenarsenale der Bundeswehr zu greifen. Die Lieferung des Taurus kann dann nur noch eine Frage der Zeit und nicht mehr des Willens sein.
Stephan Detjen
Stephan Detjen, Chefkorrespondent von Deutschlandradio. Studierte Geschichtswissenschaft und Jura an den Universitäten München, Aix-en-Provence sowie an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Rechtsreferendariat in Bayern und Redakteur beim Bayerischen Rundfunk. Seit 1997 beim Deutschlandradio, zunächst als rechtspolitischer Korrespondent in Karlsruhe. Ab 1999 zunächst politischer Korrespondent in Berlin, dann Abteilungsleiter bei Deutschlandradio Kultur. 2008 bis 2012 Chefredakteur des Deutschlandfunk in Köln. Seitdem Leiter des Hauptstadtstudios Berlin sowie des Studios Brüssel.