Der Tod der Mutter, der eigene Tod, Erlebnisse einer Pathologin, Beobachtungen im Hospiz – ein Dutzend Autoren lesen in einer Kellerbar in der Leipziger Altstadt. Ganz umstandslos folgt Text auf Text, und das Projekt "Tausend Tode schreiben" entfaltet seine Wirkung. Trotz der Schwere des Themas blitzt immer wieder Humor auf: Als Blödelei, als Wortwitz, als rettende Distanz in Situationen, die ohne das Lachen kaum auszuhalten wären - auch für den Leser. Wie in Ute Webers Geschichte.
"Schwester Hedda kam an mein Bett. Sie legte die Hand auf mein schweißnasses Laken und sah mich fragend an. 'Einmal wenden und einschläfern bitte.' Sie lachte. Ich konnte nicht mehr viel. Aber jemanden zum Lachen bringen, das würde gehen. Bis kurz vor dem Koma."
Ute Weber: "Also ich habe das tatsächlich erlebt. Ich hatte eine Krankheit, die heißt GBS, im Zuge derer man komplett gelähmt ist. Das fühlt sich ein bisschen an wie Sterben, und ursprünglich sollte die Geschichte auch heißen: 'Sterben, mein erstes Mal'."
Autor Frédéric Valin verweigert sich dem Autobiografischen. Dabei hätte er als nebenberuflicher Krankenpfleger eigentlich Dutzende Texte über den Tod herumliegen, sagt er. Für "Tausend Tode schreiben" widmete er sich lieber der Frage, warum Werbekampagnen für Bestatter eigentlich immer in Peinlichkeit enden.
"Ganz gefährlich sind jene Bestatter, die den Pakt mit dem Teufel eingehen und sich in Humor versuchen. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie sich ein Haufen wachsgesichtiger, steifer, tiefschwarz gekleideter Chefbestatter in einen mit kleinen Gedenkkränzen dekorierten, vollfurnierten Konferenzraum begibt, um sich von einer Agentur aus Kaufbeuren junge, frische Ideen präsentieren zu lassen: 'Bei uns liegen sie richtig'."
Fréderic Valin: "Als ich die Projektbeschreibung gelesen hatte, dachte ich, dass ganz viele Leute dann quasi die eigene Geschichte schreiben und dachte, da will ich nicht mitmachen. Aber das ist ja auch schön, dass so ein großes und breites Projekt so was auch ermöglicht. Also auch Texte, die im Grunde nicht so recht da dazu passen. Die vielleicht auf einer Trauerveranstaltung die missglückte Rede sind."
Koordination über Social Media
Eine Trauerveranstaltung ist diese Lesung jedenfalls nicht. Unter den Autoren herrscht eine freundschaftliche Atmosphäre. Viele kennen sich bereits von anderen Lesungen - oder über Twitter. Die soziale Plattform ist zentral für die Arbeit der digitalen Verlegerin Christiane Frohmann, die das Projekt ins Leben gerufen hat. Hier findet sie ihre Autoren.
"Für 'Tausend Tode' hat Twitter eine entscheidende Rolle gespielt. Es hat einfach eine sehr starke Energie entwickelt. Es ist eine sehr emotionale Reaktion in der Regel. Die totalen Blocker gibt's auch beim Thema Tod, aber die meisten sind ganz froh, dass ihnen mal die Möglichkeit gegeben wird, über etwas nachzudenken oder haben vielleicht schon einen Text in der Schublade gehabt, aber keinen Ort, wo der hin soll. Weil das ist ja unter Umständen der persönlichste Text, den man je geschrieben hat. Ja, das gab eine sehr positive Resonanz."
Manche der beteiligten Autoren sind Profis, andere schreiben nur nebenbei. Doch das habe bei diesem Projekt keine Rolle gespielt, sagt die Verlegerin. Zickig oder divenhaft sei keiner gewesen. Sind vor dem Tod eben alle gleich?
"Ja, das sagt man ja, dass das der große Gleichmacher ist. Mag schon sein. Auf jeden Fall hat man das Gefühl, dass man sich da nicht so aufplustern muss. Also wir treten alle sehr stark hinter das Thema und die Geschichten und auch die Leute die erinnert werden in diesen Texten, zurück."
Die Struktur des E-Books ist denkbar einfach: Alle Texte sind durchnummeriert, am Ende steht der Name des Autors, kommentarlos. Ob unbekannt oder namhaft – hier spielt es keine Rolle. Meist sind die Texte kurz, nur ein paar Seiten lang, manchmal auch in Gedichtform. Viele erzählen vom eigenen Erleben, nicht alle funktionieren gleich gut. Aber das macht gar nichts, meint Autorin Ute Weber:
"Ich finde das so eine großartige Idee, dass da tausend Leute ihre unterschiedlichen Sichtweisen einbringen. Es ist auch völlig unnötig, das wirklich von vorne bis hinten durchzulesen. Und ich habe auch schon eine Kritik gesehen, das seien ja zum Teil so schlechte Texte, also vom literaturkritischen Standpunkt aus. Aber das finde ich total unnötig. Weil, man merkt nach zwei Sätzen, ob einem der Text was sagt oder nicht, und dann kann man ja weiter scrollen, das ist ja kein Problem."
"Tausend Tode schreiben" ist digitale Literatur im eigentlichen Sinn. Nicht nur, weil kein konventioneller Verlag so etwas stemmen könnte. Zu wenig massentauglich der Titel, zu ausufernd die Textarbeit, zu hoch die Papierkosten. Sondern auch, weil das Thema erst in digitaler Form zu sich selbst findet. Als fortlaufender, vielstimmiger, unfertiger Prozess der Annäherung an etwas, das letztlich ungreifbar bleibt.
456 Texte sind mittlerweile beisammen - die vierte und letzte Version des E-Books soll nun zur Frankfurter Buchmesse erscheinen. Dann wären die 1000 Texten über den Tod erreicht. Und wenn nicht?
"Ich bin gespannt, wenn's 1000 werden - und wenn nicht, ist es auch egal. Es ist an sich so eine lebendige Geschichte, die ich ganz großartig finde."
"Tausend Tode schreiben" erscheint als E-Book im Frohmann-Verlag und lässt sich auf allen gängigen E-Book-Plattformen herunterladen. Es kostet 4,99 Euro und lässt sich danach kostenlos aktualisieren.