Im September dieses Jahres jährt sich in der Türkei zum 30. Mal der letzte Militärputsch. Im Morgengrauen des 12. September 1980 besetzen Panzer im ganzen Land Straßenkreuzungen und fahren vor Regierungsgebäuden und Politikerwohnungen vor. Die Operation "Fahne" hat begonnen. Die Regierung wird festgesetzt, eine Verhaftungswelle rollt über das Land. Vor allem Linke und kurdische Nationalisten werden zu Zehntausenden in Fußballstadien zusammengetrieben. Die Generäle fühlen sich zum dritten Mal in der jungen Geschichte des Landes berufen, die Republik Mustafa Kemal Atatürks vor dem vermeintlichen Untergang zu bewahren.
Unmittelbar nach seiner Machtübernahme lässt der Junta-Chef, General Kenan Evren eine neue Verfassung in Auftrag geben, die die Macht des Militärs festschreiben und den Einfluss von Liberalen und Gewerkschaften eingrenzen soll. Zwei Jahre später, im November 1982 wird die Neufassung dem Volk zur Abstimmung vorgelegt – ohne vorherige Diskussion und im Schatten der Panzer. Die Türken votieren - wie erwartet - zu 91 Prozent mit "Ja". Der Text beginnt mit einer langen Präambel, deren ersten drei Absätze lauten:
Diese Verfassung, die die ewige Existenz des türkischen Vaterlandes und der türkischen Nation sowie die unteilbare Einheit des Großen Türkischen Staates zum Ausdruck bringt, entsprechend der Auffassung vom Nationalismus, wie sie Atatürk, der Gründer der Republik Türkei, der unsterbliche Führer und einzigartige Held, verkündet hat; mit dem Ziel, die ewige Existenz, die Wohlfahrt, das materielle und geistige Glück der Republik Türkei als ehrenvolles und gleichberechtigtes Mitglied der Völkerfamilie der Welt entschlossen auf das Niveau moderner Zivilisation zu heben.
Erst im dritten Absatz der Präambel wird die Demokratie erwähnt. Das Wort "Grundrechte" erscheint in der Präambel gar nicht, stattdessen ist von Rechten und Pflichten des Bürgers gegenüber der nationalen Existenz die Rede. Außerdem von Vaterland, Volk, Ehrfurcht, Treue, Mühsal und immer wieder den unabänderlichen Prinzipien Atatürks. Schon in der Präambel wird deutlich: Diese Verfassung soll mahnen und erziehen. Ein freiheitliches Manifest sehe anders aus, betont der deutsche Jurist Gottfried Plagemann, der an einer Istanbuler Privatuniversität lehrt:
"Als Erstes ist der Umfang der Präambel ungewöhnlich, zweitens ist ungewöhnlich, dass sie zum bindenden Verfassungstext wird und damit die Wertungen, die darin erhalten sind, zur Grundlage der Urteile des Verfassungsgerichts werden: und drittens ist eindeutig, dass die Formulierungen die türkische Nation und den Staat in den Vordergrund stellen und nicht die Rechte des Individuums."
Seit 1982 wurde die Verfassung mehrfach überarbeitet, doch noch immer ist sie in ihrem Rechts- und Freiheitsverständnis von europäischen Normen entfernt. Zwar finden sich in dem 177 Artikel umfassenden Werk alle üblichen Grundrechte, etwa die Meinungs- und Pressefreiheit, die Religionsfreiheit oder der Schutz des Privatlebens. Doch viele dieser Grundrechte – im Text überschrieben mit "Grundrechte und –pflichten" – werden im Text eingeschränkt oder in widersprüchliche Zusammenhänge gestellt. So heißt es in Artikel 40 unter der Überschrift "Schutz der Grundrechte":
Jedermann, dessen durch die Verfassung zuerkannten Grundrechte und -freiheiten verletzt werden, hat das Recht ... die Anrufung einer Behörde zu verlangen.
Statt des Rechtsweges steht dem Bürger in diesem Fall also nur das Petitionsrecht zur Verfügung. Auch die Geschlechtergleichheit findet sich in der türkischen Verfassung in einem ungewöhnlichen Zusammenhang:
Die Familie ist die Grundlage der türkischen Gesellschaft und beruht auf der Gleichheit von Mann und Frau.
Die Gleichheit von Mann und Frau als Teil des türkischen Familienverständnisses und nicht grundlegender Rechtsnormen. Es sind solche im Zweifel gegen die Freiheit auslegbare Formulierungen, die nach Ansicht des Juristen Gottfried Plagemann diese Verfassung in Verruf gebracht haben:
"Insofern ist das Hauptproblem der heutigen türkischen Verfassung weniger ganz konkrete Regelungen, die ganz offensichtlich gegen europäische Normen verstoßen, sondern vielmehr ein bestimmter Geist, der sich zum Beispiel in etlichen Verboten niederschlägt, in der Präambel und in dem Schutz einzelner staatlicher Institutionen niederschlägt. Wie dem Hochschulrat oder dem Präsidium für Religionsangelegenheiten."
Schon nach ihrem ersten Wahlsieg 2002 hatte die religiös-konservative Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei AKP eine neue Verfassung versprochen. Ministerpräsident Tayyip Erdogan erklärte wiederholt: Nur mit einem modernen Grundgesetz könne die Bewerbung um Mitgliedschaft in der Europäischen Union zum Erfolg führen. Die Reformen von Zivil- und Strafgesetzbuch wurden rasch umgesetzt. Die Rechte der nicht muslimischen Minderheiten wurden gestärkt, das Strafmaß für sogenannte "Ehrenmorde" verschärft. Die neue Verfassung jedoch ließ zur Enttäuschung türkischer Demokraten weiter auf sich warten. Eine von der Regierung bei Staatsrechtlern in Auftrag gegebene liberale Neufassung verschwand 2007 in der Schublade.
Die Verfassungsreform versandete in einem Streit über das islamische Kopftuch. 2008 hatte das Verfassungsgericht eine Ergänzung des Paragrafen 42 über Erziehung und Bildung aufgehoben, die die Erdogan-Regierung so formuliert hatte:
Niemand darf seines Rechts auf Hochschulbildung ohne ausdrückliche Regelung im Gesetz beraubt werden.
Die überwiegend streng kemalistischen Verfassungsrichter sahen in dieser allgemeinen Formulierung den Versuch, Frauen das Tragen von Kopftüchern an Universitäten zu erlauben. Nach Auffassung der Richter verletze dies das Prinzip der Trennung von Staat und Religion. Die Kopftuchfrage spielte wenige Monate später auch im Verbotsverfahren gegen die AKP eine zentrale Rolle. Die Generalstaatsanwaltschaft hatte der AKP vorgeworfen, sie wolle in der Türkei einen islamischen Gottesstaat errichten. Der Verbotsantrag scheiterte am Ende knapp beim Verfassungsgericht.
In diesen Tagen wird in Ankara erneut um eine Reform der Verfassung gerungen. Der Zeitpunkt erscheint günstig, denn die bislang mächtigsten Gegner einer Liberalisierung, die Militärs, sind durch aufgedeckte Verschwörungen in der Öffentlichkeit desavouiert. Etliche hochrangige ehemalige und aktive Generäle müssen sich wegen mutmaßlicher Putschvorbereitungen vor Gericht verantworten. Die alte Macht der türkischen Armee scheint gebrochen.
Doch die Regierung behauptet nun, es gehe nicht darum die Verfassung von Grund auf zu ändern, sondern nur um die Abänderung einiger Artikel. Sie will dem Parlament noch in diesem Monat Änderungsvorschläge für 13 Verfassungsartikel vorlegen. Bakir Bozdag, stellvertretender Fraktionschef der AKP:
"Wir wollen die Demokratie stärken und erneuern. Zum Beispiel in Bezug auf Parteien: Einerseits nennt die Verfassung politische Parteien einen unverzichtbaren Bestandteil der Demokratie, andererseits konnten Parteien durch das Verfassungsgericht immer wieder leicht verboten werden. Dann wollen wir die individuellen Freiheitsrechte des Einzelnen stärken und drittens die Unabhängigkeit der Justiz ausbauen."
Der Kern der Reform betrifft die Rolle der Justiz. Die Befugnisse der Gerichte sollen eingeschränkt, Verbote politischer Parteien erschwert werden. So soll der Oberste Rat der Richter und Staatsanwälte, der über die Besetzung wichtiger Ämter im Justizapparat entscheidet, von sieben auf 21 Mitglieder erweitert werden. Ein Drittel davon soll künftig vom Parlament berufen werden. Damit wolle die Regierung eine echte Gewaltenteilung sicherstellen, heißt es.
Doch die politische Opposition befürchtet, die Regierung wolle die Justiz unterwerfen, um ihre eigene Macht zu sichern und die "Islamisierung" des Landes voranzutreiben. Schließlich sei sie mit ihrem Vorhaben das Kopftuch an Hochschulen freizugeben an der Justiz gescheitert. Und auch das knapp überstandene Verbotsverfahren gegen seine Partei vor zwei Jahren habe bei Tayyip Erdogan den Willen gestärkt, sich diese letzte Bastion des Kemalismus untertan zu machen.
Seit dem Ende der Militärdiktatur 1983 hat das Verfassungsgericht bereits 19 politische Parteien verboten. Solche Verfahren will die Regierung nun erschweren. Die geplante Änderung ist auch deshalb politisch brisant, weil in der Türkei seit Wochen Gerüchte umlaufen, wonach der Chefankläger des Landes bereits einen neuen Verbotsantrag gegen die AKP ausarbeite.
Anhänger der Regierung weisen den Verdacht der angeblich geplanten "totalen Machtergreifung" zurück. Sie sehen die Reform als wichtige Voraussetzung für die weitere Annäherung der Türkei an die Europäische Union. Brüssel habe mehrfach eine Modernisierung der türkischen Verfassung angemahnt. Der türkische Justizminister Sadullah Ergin äußert, die geplanten Änderungen seien notwendig, um das Kapitel "Justiz" in den EU-Beitrittsverhandlungen eröffnen zu können.
Ankara verwies bei der gestrigen Vorlage der Dokumente auf weitere Änderungsvorschläge: So soll unter anderem das politische Betätigungsverbot von höchstens fünf auf drei Jahre gesenkt werden. Beamte sollen das Recht erhalten, sich gewerkschaftlich zu organisieren und zu streiken. Armeeangehörige sollen vor zivilen Gerichten angeklagt werden können; die Immunität der Putschgeneräle von 1980, die diese in die Verfassung schreiben ließen, soll aufgehoben werden. Die noch lebenden Angehörigen der Junta könnten somit nach 30 Jahren vor Gericht gestellt werden.
Die AKP hat die Opposition zu Gesprächen über die geplanten Verfassungsänderungen eingeladen. Doch die beiden Oppositionsparteien – die links-kemalistische Republikanische Volkspartei CHP und die nationalistische MHP - wollen der Reform keinesfalls zustimmen. Mit ihren 337 Abgeordneten verfügt die AKP im 550 Sitze zählenden Parlament nicht über die erforderliche Zweidrittelmehrheit.
Sie könnte die Verfassungsänderung allerdings mit einer Dreifünftelmehrheit von 330 Stimmen verabschieden und dann per Volksabstimmung billigen lassen. Ein solches Referendum würde jedoch das politische Klima weiter anheizen. Deshalb bemüht sich auch Staatspräsident Abdullah Gül in Gesprächen mit den Parteiführern, doch noch eine breite Mehrheit für die Reform zu finden.
Widerstand kommt auch vonseiten der Justiz. Der oberste Richter des türkischen Verfassungsgerichts, Hasum Kilic, hat öffentlich Bedenken gegen die geplante Justizreform geäußert. Der Plan die Macht von Richtern zu schwächen und das Verbot von Parteien zu erschweren könne das Verhältnis zwischen der konservativ-islamischen Regierung und dem säkularen Establishment des Landes stark belasten, betonte Kilic gegenüber der Zeitung "Hürriyet". Nach diesen Äußerungen scheint es wahrscheinlich, dass das höchste Gericht die Änderungen nach einem Referendum wieder annullieren wird.
Die alten Staatseliten - zu denen Teile der Bürokratie, Justiz, Militär und Universitäten zählen - bedienen sich in der innenpolitischen Auseinandersetzung mit den religiösen Kräften häufig der Judikative. Neu verabschiedete Gesetze landen schnell vor dem Verfassungsgericht. Traditionell baute die kemalistische Elite auf die Unterstützung durch die Generäle. Doch mit der partiellen Entmachtung des Militärs durch die Regierung ist diese Allianz geschwächt worden.
Bis 2007 bildete auch das Amt des Staatspräsidenten ein wichtiges Gegengewicht zu Parlament und Gesellschaft. Der vorherige Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer hatte während seiner fünfjährigen Amtszeit über 60 Gesetze der AKP-Regierung mit dem Hinweis auf Verstöße gegen verfassungsrechtliche Grundsätze durch Veto verhindert. Dies änderte sich mit der Wahl von Abdullah Gül aus den Reihen der AKP.
Bei dieser Debatte wird deutlich, wie gering in der Türkei das Vertrauen in die Unabhängigkeit der Justiz ist - und wie groß die Sorge vor politischer Instrumentalisierung. Das hat auch mit den Richtern und Staatsanwälten zu tun. Wann immer diese die Republik in Gefahr sehen – ob durch Kurden, Kommunisten oder Islamisten – fühlen sie sich zum Eingreifen veranlasst. In einer Untersuchung gaben 41 Prozent aller Richter und Staatsanwälte an, die Sicherheit des Vaterlandes im Zweifel über Grundrechte zu stellen. Die Juristen sehen sich traditionell als Teil einer Elite aus Soldaten und Beamten, die für sich das Recht in Anspruch nehmen, zu entscheiden, was gut ist für die Entwicklung von Staat und Gesellschaft. Darum stehen sie Veränderungen bis heute misstrauisch gegenüber
Nicht allein neue Gesetze, sondern einen Mentalitätswechsel bei allen Beteiligten fordern Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen der Türkei. Gegen kemalistische wie religiöse Eiferer gleichermaßen hat sich in den vergangenen Jahren eine breite Front aus Stiftungen, Bürgerinitiativen und Vereinen gebildet. Gemeinsam mit fortschrittlich-liberalen Kreisen fordern diese Kräfte eine radikale Reform des Justizbereichs – einschließlich der Juristenausbildung. Aber ist das auch die Intention der AKP? Soli Özel, Istanbuler Politologe, äußert Zweifel:
"Leider hat uns die Regierung nicht davon überzeugen können, dass sie wirklich einen grundsätzlichen Wandel anstrebt, und nicht in erster Linie vor hat, die Justiz auf Regierungslinie zu bringen. Es geht doch nicht bloß um einen Personalwechsel in der Justiz, sondern es geht um einen Wechsel der Ansichten und der Mentalität der Richter. Ich persönlich habe den Eindruck, dass die Regierung eher an politisches Kalkül denkt, statt an eine Reform. Sie weiß, dass die Vorschläge vom Verfassungsgericht abgewiesen werden können. Und dann kann sie vor die Wähler treten und sagen: 'Wir wollten die Verfassung ändern, aber man hat uns nicht gelassen. Wenn ihr dennoch eine neue Verfassung wollt, müsst ihr uns bei den Wahlen 2011 den Rücken stärken'."
Am vergangenen Wochenende meldeten sich im Internet über 200 Akademiker, Juristen und Künstler zu der laufenden Debatte mit einem öffentlichen Appell zu Wort. Sie rufen das Parlament in Ankara auf, die Chance für eine neue, liberale Verfassung zu nutzen. Und sie fordern über die Regierungsvorschläge hinausgehend:
Die Gleichheit von Frauen in der Verfassung zu stärken und ihre bevorzugte Förderung in allen Bereichen der Gesellschaft festzuschreiben.
Die Immunität von Abgeordneten zu begrenzen, das politische Betätigungsverbot für staatliche Angestellte aufzuheben und die Zehnprozenthürde im Wahlgesetz zu senken.
Letzteres ist eine Forderung der kurdischen Minderheit, denn es sind gerade die den Kurden nahe stehenden Parteien, die immer wieder an der hohen Zehnprozenthürde scheitern. Kurden und andere ethnische Gruppen fordern auch, in der Präambel den Begriff "türkische Nation" durch die neutrale Wendung "Bürger der türkischen Republik" zu ersetzen.
Das Engagement der Zivilgesellschaft könnte einen Ausweg aus der verfahrenen Konfrontation zwischen alter säkularer Elite und reformscheuen Religiös-Konservativen bedeuten. Bürgerinitiativen, Vereine und Stiftungen drängen darauf, den Reformprozess neu zu beleben und auf eine breitere Grundlage zu stellen, etwa mithilfe einer parteiunabhängigen, verfassungsgebenden Versammlung. Der Jurist Gottfried Plagemann:
"Verfassungen werden im Allgemeinen nach Machtwechseln, durch neue Machthaber gemacht. Und der Prozess, der hier bisher stattgefunden hat, ist zwar im Gegensatz zu früher jetzt ein viel offenerer Prozess mit unterschiedlichen Entwürfen, aber die Regierung hat bisher nicht eigene Entwürfe zur Diskussion gestellt und offen darüber diskutiert. Und die vorgelegten Vorschläge bleiben eigentlich derzeit im Leeren stehen."
Bis Ende dieser Woche will die Regierung die Gespräche mit den Oppositionsparteien über die Verfassungsreform abgeschlossen haben. Die zeigen sich jedoch wenig gesprächsbereit. Die rechtsnationale MHP kündigte an, bei den Treffen lediglich aus Höflichkeit den von der Regierung angebotenen Tee trinken zu wollen. Der Vizefraktionschef der AKP, Bakir Bozdag, ist empört:
"Wenn wir über den wichtigsten Text unseres Landes, die Verfassung, nicht miteinander reden können – worüber sollen wir dann reden? Heute als Opposition zu beklagen, dass man nicht konsultiert werde und morgen die Tür zu Gesprächen über die Verfassung zuzuschlagen – das passt nicht zusammen."
Derzeit deutet alles darauf hin, dass die Verfassungsreform im Laufe des Jahres den Türken zur Abstimmung vorgelegt werden wird. Auf die Unterstützung der liberalen Öffentlichkeit kann die Regierung dabei nicht hoffen – dafür bleiben die Änderungen zu sehr hinter deren Erwartungen zurück. Und die alte türkische Nomenklatura aus Militär, Teilen des Staatsapparats und der Justiz wird in diesem Vorhaben noch einmal die Gelegenheit zu einem Kräftemessen mit Tayyip Erdogan und seiner religiös-konservativen Regierung sehen.
Unmittelbar nach seiner Machtübernahme lässt der Junta-Chef, General Kenan Evren eine neue Verfassung in Auftrag geben, die die Macht des Militärs festschreiben und den Einfluss von Liberalen und Gewerkschaften eingrenzen soll. Zwei Jahre später, im November 1982 wird die Neufassung dem Volk zur Abstimmung vorgelegt – ohne vorherige Diskussion und im Schatten der Panzer. Die Türken votieren - wie erwartet - zu 91 Prozent mit "Ja". Der Text beginnt mit einer langen Präambel, deren ersten drei Absätze lauten:
Diese Verfassung, die die ewige Existenz des türkischen Vaterlandes und der türkischen Nation sowie die unteilbare Einheit des Großen Türkischen Staates zum Ausdruck bringt, entsprechend der Auffassung vom Nationalismus, wie sie Atatürk, der Gründer der Republik Türkei, der unsterbliche Führer und einzigartige Held, verkündet hat; mit dem Ziel, die ewige Existenz, die Wohlfahrt, das materielle und geistige Glück der Republik Türkei als ehrenvolles und gleichberechtigtes Mitglied der Völkerfamilie der Welt entschlossen auf das Niveau moderner Zivilisation zu heben.
Erst im dritten Absatz der Präambel wird die Demokratie erwähnt. Das Wort "Grundrechte" erscheint in der Präambel gar nicht, stattdessen ist von Rechten und Pflichten des Bürgers gegenüber der nationalen Existenz die Rede. Außerdem von Vaterland, Volk, Ehrfurcht, Treue, Mühsal und immer wieder den unabänderlichen Prinzipien Atatürks. Schon in der Präambel wird deutlich: Diese Verfassung soll mahnen und erziehen. Ein freiheitliches Manifest sehe anders aus, betont der deutsche Jurist Gottfried Plagemann, der an einer Istanbuler Privatuniversität lehrt:
"Als Erstes ist der Umfang der Präambel ungewöhnlich, zweitens ist ungewöhnlich, dass sie zum bindenden Verfassungstext wird und damit die Wertungen, die darin erhalten sind, zur Grundlage der Urteile des Verfassungsgerichts werden: und drittens ist eindeutig, dass die Formulierungen die türkische Nation und den Staat in den Vordergrund stellen und nicht die Rechte des Individuums."
Seit 1982 wurde die Verfassung mehrfach überarbeitet, doch noch immer ist sie in ihrem Rechts- und Freiheitsverständnis von europäischen Normen entfernt. Zwar finden sich in dem 177 Artikel umfassenden Werk alle üblichen Grundrechte, etwa die Meinungs- und Pressefreiheit, die Religionsfreiheit oder der Schutz des Privatlebens. Doch viele dieser Grundrechte – im Text überschrieben mit "Grundrechte und –pflichten" – werden im Text eingeschränkt oder in widersprüchliche Zusammenhänge gestellt. So heißt es in Artikel 40 unter der Überschrift "Schutz der Grundrechte":
Jedermann, dessen durch die Verfassung zuerkannten Grundrechte und -freiheiten verletzt werden, hat das Recht ... die Anrufung einer Behörde zu verlangen.
Statt des Rechtsweges steht dem Bürger in diesem Fall also nur das Petitionsrecht zur Verfügung. Auch die Geschlechtergleichheit findet sich in der türkischen Verfassung in einem ungewöhnlichen Zusammenhang:
Die Familie ist die Grundlage der türkischen Gesellschaft und beruht auf der Gleichheit von Mann und Frau.
Die Gleichheit von Mann und Frau als Teil des türkischen Familienverständnisses und nicht grundlegender Rechtsnormen. Es sind solche im Zweifel gegen die Freiheit auslegbare Formulierungen, die nach Ansicht des Juristen Gottfried Plagemann diese Verfassung in Verruf gebracht haben:
"Insofern ist das Hauptproblem der heutigen türkischen Verfassung weniger ganz konkrete Regelungen, die ganz offensichtlich gegen europäische Normen verstoßen, sondern vielmehr ein bestimmter Geist, der sich zum Beispiel in etlichen Verboten niederschlägt, in der Präambel und in dem Schutz einzelner staatlicher Institutionen niederschlägt. Wie dem Hochschulrat oder dem Präsidium für Religionsangelegenheiten."
Schon nach ihrem ersten Wahlsieg 2002 hatte die religiös-konservative Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei AKP eine neue Verfassung versprochen. Ministerpräsident Tayyip Erdogan erklärte wiederholt: Nur mit einem modernen Grundgesetz könne die Bewerbung um Mitgliedschaft in der Europäischen Union zum Erfolg führen. Die Reformen von Zivil- und Strafgesetzbuch wurden rasch umgesetzt. Die Rechte der nicht muslimischen Minderheiten wurden gestärkt, das Strafmaß für sogenannte "Ehrenmorde" verschärft. Die neue Verfassung jedoch ließ zur Enttäuschung türkischer Demokraten weiter auf sich warten. Eine von der Regierung bei Staatsrechtlern in Auftrag gegebene liberale Neufassung verschwand 2007 in der Schublade.
Die Verfassungsreform versandete in einem Streit über das islamische Kopftuch. 2008 hatte das Verfassungsgericht eine Ergänzung des Paragrafen 42 über Erziehung und Bildung aufgehoben, die die Erdogan-Regierung so formuliert hatte:
Niemand darf seines Rechts auf Hochschulbildung ohne ausdrückliche Regelung im Gesetz beraubt werden.
Die überwiegend streng kemalistischen Verfassungsrichter sahen in dieser allgemeinen Formulierung den Versuch, Frauen das Tragen von Kopftüchern an Universitäten zu erlauben. Nach Auffassung der Richter verletze dies das Prinzip der Trennung von Staat und Religion. Die Kopftuchfrage spielte wenige Monate später auch im Verbotsverfahren gegen die AKP eine zentrale Rolle. Die Generalstaatsanwaltschaft hatte der AKP vorgeworfen, sie wolle in der Türkei einen islamischen Gottesstaat errichten. Der Verbotsantrag scheiterte am Ende knapp beim Verfassungsgericht.
In diesen Tagen wird in Ankara erneut um eine Reform der Verfassung gerungen. Der Zeitpunkt erscheint günstig, denn die bislang mächtigsten Gegner einer Liberalisierung, die Militärs, sind durch aufgedeckte Verschwörungen in der Öffentlichkeit desavouiert. Etliche hochrangige ehemalige und aktive Generäle müssen sich wegen mutmaßlicher Putschvorbereitungen vor Gericht verantworten. Die alte Macht der türkischen Armee scheint gebrochen.
Doch die Regierung behauptet nun, es gehe nicht darum die Verfassung von Grund auf zu ändern, sondern nur um die Abänderung einiger Artikel. Sie will dem Parlament noch in diesem Monat Änderungsvorschläge für 13 Verfassungsartikel vorlegen. Bakir Bozdag, stellvertretender Fraktionschef der AKP:
"Wir wollen die Demokratie stärken und erneuern. Zum Beispiel in Bezug auf Parteien: Einerseits nennt die Verfassung politische Parteien einen unverzichtbaren Bestandteil der Demokratie, andererseits konnten Parteien durch das Verfassungsgericht immer wieder leicht verboten werden. Dann wollen wir die individuellen Freiheitsrechte des Einzelnen stärken und drittens die Unabhängigkeit der Justiz ausbauen."
Der Kern der Reform betrifft die Rolle der Justiz. Die Befugnisse der Gerichte sollen eingeschränkt, Verbote politischer Parteien erschwert werden. So soll der Oberste Rat der Richter und Staatsanwälte, der über die Besetzung wichtiger Ämter im Justizapparat entscheidet, von sieben auf 21 Mitglieder erweitert werden. Ein Drittel davon soll künftig vom Parlament berufen werden. Damit wolle die Regierung eine echte Gewaltenteilung sicherstellen, heißt es.
Doch die politische Opposition befürchtet, die Regierung wolle die Justiz unterwerfen, um ihre eigene Macht zu sichern und die "Islamisierung" des Landes voranzutreiben. Schließlich sei sie mit ihrem Vorhaben das Kopftuch an Hochschulen freizugeben an der Justiz gescheitert. Und auch das knapp überstandene Verbotsverfahren gegen seine Partei vor zwei Jahren habe bei Tayyip Erdogan den Willen gestärkt, sich diese letzte Bastion des Kemalismus untertan zu machen.
Seit dem Ende der Militärdiktatur 1983 hat das Verfassungsgericht bereits 19 politische Parteien verboten. Solche Verfahren will die Regierung nun erschweren. Die geplante Änderung ist auch deshalb politisch brisant, weil in der Türkei seit Wochen Gerüchte umlaufen, wonach der Chefankläger des Landes bereits einen neuen Verbotsantrag gegen die AKP ausarbeite.
Anhänger der Regierung weisen den Verdacht der angeblich geplanten "totalen Machtergreifung" zurück. Sie sehen die Reform als wichtige Voraussetzung für die weitere Annäherung der Türkei an die Europäische Union. Brüssel habe mehrfach eine Modernisierung der türkischen Verfassung angemahnt. Der türkische Justizminister Sadullah Ergin äußert, die geplanten Änderungen seien notwendig, um das Kapitel "Justiz" in den EU-Beitrittsverhandlungen eröffnen zu können.
Ankara verwies bei der gestrigen Vorlage der Dokumente auf weitere Änderungsvorschläge: So soll unter anderem das politische Betätigungsverbot von höchstens fünf auf drei Jahre gesenkt werden. Beamte sollen das Recht erhalten, sich gewerkschaftlich zu organisieren und zu streiken. Armeeangehörige sollen vor zivilen Gerichten angeklagt werden können; die Immunität der Putschgeneräle von 1980, die diese in die Verfassung schreiben ließen, soll aufgehoben werden. Die noch lebenden Angehörigen der Junta könnten somit nach 30 Jahren vor Gericht gestellt werden.
Die AKP hat die Opposition zu Gesprächen über die geplanten Verfassungsänderungen eingeladen. Doch die beiden Oppositionsparteien – die links-kemalistische Republikanische Volkspartei CHP und die nationalistische MHP - wollen der Reform keinesfalls zustimmen. Mit ihren 337 Abgeordneten verfügt die AKP im 550 Sitze zählenden Parlament nicht über die erforderliche Zweidrittelmehrheit.
Sie könnte die Verfassungsänderung allerdings mit einer Dreifünftelmehrheit von 330 Stimmen verabschieden und dann per Volksabstimmung billigen lassen. Ein solches Referendum würde jedoch das politische Klima weiter anheizen. Deshalb bemüht sich auch Staatspräsident Abdullah Gül in Gesprächen mit den Parteiführern, doch noch eine breite Mehrheit für die Reform zu finden.
Widerstand kommt auch vonseiten der Justiz. Der oberste Richter des türkischen Verfassungsgerichts, Hasum Kilic, hat öffentlich Bedenken gegen die geplante Justizreform geäußert. Der Plan die Macht von Richtern zu schwächen und das Verbot von Parteien zu erschweren könne das Verhältnis zwischen der konservativ-islamischen Regierung und dem säkularen Establishment des Landes stark belasten, betonte Kilic gegenüber der Zeitung "Hürriyet". Nach diesen Äußerungen scheint es wahrscheinlich, dass das höchste Gericht die Änderungen nach einem Referendum wieder annullieren wird.
Die alten Staatseliten - zu denen Teile der Bürokratie, Justiz, Militär und Universitäten zählen - bedienen sich in der innenpolitischen Auseinandersetzung mit den religiösen Kräften häufig der Judikative. Neu verabschiedete Gesetze landen schnell vor dem Verfassungsgericht. Traditionell baute die kemalistische Elite auf die Unterstützung durch die Generäle. Doch mit der partiellen Entmachtung des Militärs durch die Regierung ist diese Allianz geschwächt worden.
Bis 2007 bildete auch das Amt des Staatspräsidenten ein wichtiges Gegengewicht zu Parlament und Gesellschaft. Der vorherige Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer hatte während seiner fünfjährigen Amtszeit über 60 Gesetze der AKP-Regierung mit dem Hinweis auf Verstöße gegen verfassungsrechtliche Grundsätze durch Veto verhindert. Dies änderte sich mit der Wahl von Abdullah Gül aus den Reihen der AKP.
Bei dieser Debatte wird deutlich, wie gering in der Türkei das Vertrauen in die Unabhängigkeit der Justiz ist - und wie groß die Sorge vor politischer Instrumentalisierung. Das hat auch mit den Richtern und Staatsanwälten zu tun. Wann immer diese die Republik in Gefahr sehen – ob durch Kurden, Kommunisten oder Islamisten – fühlen sie sich zum Eingreifen veranlasst. In einer Untersuchung gaben 41 Prozent aller Richter und Staatsanwälte an, die Sicherheit des Vaterlandes im Zweifel über Grundrechte zu stellen. Die Juristen sehen sich traditionell als Teil einer Elite aus Soldaten und Beamten, die für sich das Recht in Anspruch nehmen, zu entscheiden, was gut ist für die Entwicklung von Staat und Gesellschaft. Darum stehen sie Veränderungen bis heute misstrauisch gegenüber
Nicht allein neue Gesetze, sondern einen Mentalitätswechsel bei allen Beteiligten fordern Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen der Türkei. Gegen kemalistische wie religiöse Eiferer gleichermaßen hat sich in den vergangenen Jahren eine breite Front aus Stiftungen, Bürgerinitiativen und Vereinen gebildet. Gemeinsam mit fortschrittlich-liberalen Kreisen fordern diese Kräfte eine radikale Reform des Justizbereichs – einschließlich der Juristenausbildung. Aber ist das auch die Intention der AKP? Soli Özel, Istanbuler Politologe, äußert Zweifel:
"Leider hat uns die Regierung nicht davon überzeugen können, dass sie wirklich einen grundsätzlichen Wandel anstrebt, und nicht in erster Linie vor hat, die Justiz auf Regierungslinie zu bringen. Es geht doch nicht bloß um einen Personalwechsel in der Justiz, sondern es geht um einen Wechsel der Ansichten und der Mentalität der Richter. Ich persönlich habe den Eindruck, dass die Regierung eher an politisches Kalkül denkt, statt an eine Reform. Sie weiß, dass die Vorschläge vom Verfassungsgericht abgewiesen werden können. Und dann kann sie vor die Wähler treten und sagen: 'Wir wollten die Verfassung ändern, aber man hat uns nicht gelassen. Wenn ihr dennoch eine neue Verfassung wollt, müsst ihr uns bei den Wahlen 2011 den Rücken stärken'."
Am vergangenen Wochenende meldeten sich im Internet über 200 Akademiker, Juristen und Künstler zu der laufenden Debatte mit einem öffentlichen Appell zu Wort. Sie rufen das Parlament in Ankara auf, die Chance für eine neue, liberale Verfassung zu nutzen. Und sie fordern über die Regierungsvorschläge hinausgehend:
Die Gleichheit von Frauen in der Verfassung zu stärken und ihre bevorzugte Förderung in allen Bereichen der Gesellschaft festzuschreiben.
Die Immunität von Abgeordneten zu begrenzen, das politische Betätigungsverbot für staatliche Angestellte aufzuheben und die Zehnprozenthürde im Wahlgesetz zu senken.
Letzteres ist eine Forderung der kurdischen Minderheit, denn es sind gerade die den Kurden nahe stehenden Parteien, die immer wieder an der hohen Zehnprozenthürde scheitern. Kurden und andere ethnische Gruppen fordern auch, in der Präambel den Begriff "türkische Nation" durch die neutrale Wendung "Bürger der türkischen Republik" zu ersetzen.
Das Engagement der Zivilgesellschaft könnte einen Ausweg aus der verfahrenen Konfrontation zwischen alter säkularer Elite und reformscheuen Religiös-Konservativen bedeuten. Bürgerinitiativen, Vereine und Stiftungen drängen darauf, den Reformprozess neu zu beleben und auf eine breitere Grundlage zu stellen, etwa mithilfe einer parteiunabhängigen, verfassungsgebenden Versammlung. Der Jurist Gottfried Plagemann:
"Verfassungen werden im Allgemeinen nach Machtwechseln, durch neue Machthaber gemacht. Und der Prozess, der hier bisher stattgefunden hat, ist zwar im Gegensatz zu früher jetzt ein viel offenerer Prozess mit unterschiedlichen Entwürfen, aber die Regierung hat bisher nicht eigene Entwürfe zur Diskussion gestellt und offen darüber diskutiert. Und die vorgelegten Vorschläge bleiben eigentlich derzeit im Leeren stehen."
Bis Ende dieser Woche will die Regierung die Gespräche mit den Oppositionsparteien über die Verfassungsreform abgeschlossen haben. Die zeigen sich jedoch wenig gesprächsbereit. Die rechtsnationale MHP kündigte an, bei den Treffen lediglich aus Höflichkeit den von der Regierung angebotenen Tee trinken zu wollen. Der Vizefraktionschef der AKP, Bakir Bozdag, ist empört:
"Wenn wir über den wichtigsten Text unseres Landes, die Verfassung, nicht miteinander reden können – worüber sollen wir dann reden? Heute als Opposition zu beklagen, dass man nicht konsultiert werde und morgen die Tür zu Gesprächen über die Verfassung zuzuschlagen – das passt nicht zusammen."
Derzeit deutet alles darauf hin, dass die Verfassungsreform im Laufe des Jahres den Türken zur Abstimmung vorgelegt werden wird. Auf die Unterstützung der liberalen Öffentlichkeit kann die Regierung dabei nicht hoffen – dafür bleiben die Änderungen zu sehr hinter deren Erwartungen zurück. Und die alte türkische Nomenklatura aus Militär, Teilen des Staatsapparats und der Justiz wird in diesem Vorhaben noch einmal die Gelegenheit zu einem Kräftemessen mit Tayyip Erdogan und seiner religiös-konservativen Regierung sehen.