Taxonomien
Wie Ordnung in die Natur gebracht wird

Das weltweite Artensterben verweist unmissverständlich auf die Bedeutung der Biodiversität. Zwar wächst die Vielfalt, wenn neue Arten entdeckt und benannt werden. Aber es gleicht einem Wettlauf, wenn Arten schneller aussterben als sie entdeckt werden.

Von Michael Ohl |
Großaufnahme der Riesenkrabbenspinne Heteropoda davidbowie auf einem Laubblatt
Erst mit dem Benennungsakt betritt eine neu entdeckte Art - hier etwa die Heteropoda davidbowie - die Bühne der Wissenschaft (IMAGO / ingimage / via imago-images.de)
Damit die Ordnung der Natur in der systematischen Beschreibung neuer Spezies auch in Zukunft als Wissen erhalten bleibt, und nach dem Aussterben von Arten deren Vergangenheit erinnert werden kann, bedarf es der Taxonomie, der Schule der Benennung.  Diese sprachliche Welterschließung, die Herstellung einer Ordnung der Vielfalt der Naturgegenstände, ist eine der ältesten Kulturtechniken des Menschen. Historisch begann diese Kulturtechnik mit pragmatischen Unterscheidungen, dann galt es, die Weisheit des allmächtigen Schöpfers in der Harmonie der Naturdinge wiederzuerkennen.
Mit den ersten Globalisierungserscheinungen, den Entdeckungsreisen der Neuzeit, offenbarte sich eine unendliche Vielfalt, die neue Ordnungskriterien erforderte. Diese gilt es heute zu schärfen und weiterzuentwickeln. Vielleicht auch, weil neue Arten, ja die biologische Vielfalt insgesamt, besser zu schützen sind, wenn sie einen Namen tragen.
Michael Ohl, geboren 1964, ist Leiter der Sammlung Hymenoptera (Wespen, Bienen und Ameisen) sowie der Neuropterida (Netzflügler im weiteren Sinn) am Naturkundemuseum in Berlin. Dort hat er auch das Zentrum für Integrative Biodiversitätsentdeckung mitbegründet. Zudem lehrt er als außerordentlicher Professor an der Humboldt-Universität Berlin.

Die Vielfalt in der lebendigen Natur hat Menschen seit jeher beschäftigt. Kenntnisse über die ihn umgebende Arten- und Formenvielfalt zu sammeln und die überbordende Fülle an Informationen zu strukturieren, gehört zu den ältesten gedanklichen Bemühungen der geistigen Auseinandersetzung mit den Naturphänomenen. Wie wichtig dies ist, zeigt sich in Zeiten, in denen der menschengemachte Klimawandel die Vielfalt der Arten bedroht, wie nie zuvor. Die Erkenntnis, dass die Vielfalt in der Natur kein Kontinuum aus beliebig ineinander übergehenden und nur temporär bestehenden Erscheinungen ist, stellt dabei ein wichtiges lebensweltliches Vorwissen dar. Wie rapide aber der Wandel und der Verlust von Biodiversität ist, bleibt diesem Vorwissen verschlossen.
Einer der wichtigsten kulturellen Wege, die den Menschen umgebende Vielfalt zu organisieren, zu verstehen und in bestimmter Hinsicht auch zu bewahren, ist ihre Versprachlichung. Dies bedeutet insbesondere, den Naturdingen einen Namen zu geben. Erst die Namen der Tier- und Pflanzenarten erlauben verallgemeinernde Aussagen über die Natur. „Der Hase hat ein graues Fell und läuft schnell“ ist eine Aussage, die anhand der Beobachtung einzelner Feldhasenindividuen gemacht wurde. Diese einzelnen Hasen aber interessieren uns nur in bestimmten Fällen, zum Beispiel als Haustier und im Zusammenhang mit bestimmten singulären Ereignissen, etwa wenn wir beim Spazierengehen ein Haken schlagendes Exemplar zu Gesicht bekommen. In der Regel aber und besonders im wissenschaftlichen Kontext werden generelle Aussagen über die Natur getroffen, die etwas über alle Feldhasen aussagen, vergangene, gegenwärtige wie zukünftige. Die Möglichkeit derartiger allgemeiner Aussagen beruht auf der Annahme, dass Arten in der Natur dauerhaft existieren. Es gehört zur Alltagsbeobachtung, dass die zu einer bestimmten Art gehörenden Individuen miteinander in spezifische Interaktionen treten (zum Beispiel durch Schwarmbildung, Paarung und Brutfürsorge), während die Individuen unterschiedlicher Arten sich voneinander abgrenzen (zum Beispiel durch Entstehung von räumlich oder zeitlich charakterisierten ökologischen Nischen). Die biologische Art ist eine fundamentale Einheit und wichtigster Ausgangspunkt von Ordnungssystemen der Natur. Die Grundlage dieser Ordnungssysteme ist die Benennung der Arten mittels Namen als sprachliche Etiketten.
Aber treten wir noch einmal einen Schritt zurück. Was sind überhaupt biologische Arten? Die Frage nach dem Wesen der Art ist eine der schwierigsten, kontroversesten und zugleich wichtigsten in der Biologie überhaupt. Wir reden von Arten, Artenschwund, Artenschutz, Artenzahlen, und – wenn es wissenschaftlich wird – von Artbildung, Artspaltung, Artdefinitionen. Die Bücher und wissenschaftlichen Zeitschriftenartikel zum Thema Arten sind ungezählt, und es werden jährlich mehr. Von manchen Biophilosophen werden bis zu 30 verschiedene Artkonzepte unterschieden, die aus fundamental unterschiedlichen biologischen oder philosophischen Perspektiven Arten definieren. Trotz dieser konzeptionellen Kontroversen besteht eine weitgehende Übereinkunft unter Biologen, dass es jenseits der menschlichen Wahrnehmung reale Einheiten in der Natur gibt, die wir mit dem Ausdruck „Arten“ bezeichnen.
Alle menschlichen Sprachen beherbergen ein beträchtliches Vokabular für die verschiedenen Pflanzen und Tiere, um über sie kommunizieren zu können. Anfänglich wurden solchen Arten Namen gegeben, die für den Menschen von Nutzen oder Bedeutung sind. Raubtiere wie Wölfe und Bären erhielten in der Frühgeschichte des Menschen ebenso Namen wie die wichtigsten Nahrungsquellen (Rotwild, Hase, Fische, Muscheln, aber auch zahlreiche Nutzpflanzen), Quellen für Nutzmaterialien (Felle, Federn, Fasern) sowie Tiere und Pflanzen, die im Kontext kultureller Traditionen Bedeutung haben. Die ältesten sprachlichen Bezeichnungen für die Tiere und Pflanzen entstammen diesem Kontext.
Als im 15. Jahrhundert das Zeitalter der Entdeckungsreisen begann und von Europa aus die Erde erkundet wurde, lösten die von fernen Inseln und Küsten mitgebrachten Naturobjekte in Europa eine Schockwelle des Staunens aus und füllten die Wunderkammern der beginnenden Neuzeit. Die Beobachtung der lokalen Artenvielfalt vor der eigenen Haustür und die biblische Vorstellung von den Arten als Überlebende der Sintflut hatten die europäische Wissensgesellschaft nicht vorbereitet auf den Formen- und Artenreichtum, der in zuerst singulären Fundstücken in die Naturalienkabinette, Privatsammlungen und Apotheken floss. Anfänglich wurden die Entdeckungsfahrten vom Wunsch nach Reichtum und Expansion getrieben, und exotische Pflanzen, Gewürze und Heilmittel waren begehrte Handelsgüter. Die ferne Artenvielfalt versprach ein unerschöpfliches Füllhorn zu sein, das die Europäer in Besitz zu nehmen und auszubeuten gedachten. Der stete Fluss an Unbekanntem bedurfte dabei einer neuen Ordnung, um es mit dem bereits Bekannten in Beziehung setzen zu können. Die ersten gedruckten Kataloge alles Lebendigen erschienen im 17. Jahrhundert und legten die Grundlage für eine systematische Erforschung der weltweiten Artenvielfalt. Seit dem 18. Jahrhundert beansprucht die Taxonomie endgültig das erhabene Recht für sich, den Tieren und Pflanzen, die noch kein Wissenschaftler zuvor zu Gesicht bekommen hat, einen Namen zu geben.
Erst mit dem Benennungsakt betritt die neu entdeckte Art die Bühne der Wissenschaft. War sie auch vorher schon seit Millionen von Jahren auf diesem Planeten, hatte sie auch vielleicht schon vorher die Aufmerksamkeit der lokalen Bevölkerung und interessierter Naturbeobachter auf sich gezogen, oder existierten die Exemplare, die später zu den Belegen einer neuen Art werden sollten, bereits seit langem in den Sammlungen der Museen, erst mit der Benennung wird die Art Gegenstand der Wissenschaft. Der Art selbst kann es gleichgültig sein, ob sie einen wissenschaftlichen Namen trägt oder weiterhin ohne menschliche Bezeichnung existiert. Das Verhältnis zwischen dem Menschen und den Arten allerdings verändert sich durch die Benennung grundlegend. Es ist der Taufakt, der sie für uns westlich sozialisierte Menschen erst existent werden lässt. Erst mit ihrem Namen kann sie ihren Platz auf den Roten Listen und in den Verbreitungskarten der Biogeografen und Faunisten finden.
Die wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Entdeckung, Beschreibung und Benennung der Arten beschäftigt, heißt Taxonomie. Die wissenschaftlich‑taxonomische Taufe einer Art ist im Rahmen des westlichen Wissenschaftsverständnis ein Meilenstein in ihrer Entdeckungsgeschichte. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass die Verleihung eines wissenschaftlichen Namens mehr als alles andere formaler Ausdruck der Entdeckung einer Art ist.
Namen sind ein sprachliches Element, das in Biologie und Naturkunde so viel Gewicht hat wie in kaum einer anderen Naturwissenschaft. Arten spielen als Produkte der Evolution und als überaus wichtige Verallgemeinerungseinheiten der Biologie eine zentrale Rolle in der Erforschung der Natur. Millionen dieser Gegenstände sind bereits bekannt und benannt. Auch andere Naturwissenschaftler benennen ihre Forschungsgegenstände in ähnlicher Weise wie die Biologen. Das Besondere aber an der Biologie ist die Tatsache, dass der größte Teil der in der Natur vorkommenden Gegenstände der biologischen Forschungspraxis noch nicht bekannt ist. Jedes Jahr werden etwa 18.000 Tier-­ und Pflanzenarten entdeckt, was wiederum bedeutet, dass der Katalog des Lebens, das Wörterbuch der Natur, jährlich um dieselbe Anzahl an Wörtern erweitert wird, von denen der größte Teil tatsächlich sprachliche Neuschöpfungen sind. Niemand weiß wirklich verlässlich, wie viele Arten es noch zu entdecken gilt, aber selbst konservativere Schätzungen auf der Basis von jährlichen Entdeckungsraten lassen keinen Zweifel daran, dass es noch ein paar Millionen sind. Nach der derzeitigen Wissenschaftspraxis bedeutet dies, dass noch Millionen von weiteren Namen benötigt werden, um dieser Vielfalt sprachlich Herr zu werden. Und gewissermaßen Ordnung in der Natur zu stiften.
Die wissenschaftlichen Artnamen besitzen dabei eine einfache Struktur. Sie bestehen aus zwei Bestandteilen, was man an einem populären Beispiel zeigen kann: Homo sapiens, der Mensch. Homo wird als Gattung bezeichnet und kennzeichnet eine übergeordnete Klassifikationsebene, die eine oder mehrere Arten einschließt. Der zweite Namensbestandteil, sapiens, wird als Art-Epitheton bezeichnet und verweist auf die eigentliche Art. Alle heute lebenden Menschen gehören nur einer einzigen biologischen Art an, die den wissenschaftlichen Namen Homo sapiens trägt. In der Frühgeschichte des Menschen allerdings gab es weitere Arten, von denen Wissenschaftler annehmen, dass sie zur Gattung Homo gehören. Ein bekanntes Beispiel ist der Neandertaler, Homo neandertalensis. Nach derzeitigem Stand der Klassifikation der Frühmenschen gehören in die Gattung Homo 14 biologische Arten, von denen alle bis auf Homo sapiens ausgestorben sind. Gattungen können viele Arten umfassen, bis hin zu extremen Beispielen wie die Gattung der Knotenwespen (Cerceris) mit über 900 Arten und die Taufliegengattung Drosophila mit rund 2.000 Artnamen.
Neben dem zweiteiligen Binomen einer Art ist es zumindest in der Wissenschaft üblich, auch den für das Art-Epitheton verantwortlichen Autoren und die Jahreszahl der Publikation des Werkes zu nennen, in dem der Name veröffentlicht wurde. Dabei handelt es sich um eine formale Quellenangabe, die einerseits Autorität vermittelt, andererseits bei identischen oder ähnlichen Namen vor Missverständnissen schützt. Diese Langform des Artnamens inklusive Autor und Jahreszahl lautet beim Menschen Homo sapiens Linnaeus, 1758.
Von biologischen Namen wird ein eindeutiger und unmissverständlicher Verweis auf genau ein Taxon, also eine benannte Gruppe von Organismen, zum Beispiel eine Art, erwartet.
Die sprachliche Bildung eines wissenschaftlichen Namens ist kein bisschen willkürlich, sie wird durch ein komplexes Regelwerk bestimmt, die „Internationalen Regeln für die Zoologische Nomenklatur“. Der Code ist als Selbstverpflichtung der Zoologen der Rahmen, in dem sich die gesamte zoologische Taxonomie und damit die sprachliche Welterschließung bewegt. Hier wird festgelegt, was als gültige Publikation gilt und nach welchen Regeln die Namen gebildet werden. Ein Großteil der Regeln betrifft den Umgang mit historischen Namen, die seit 1758, dem Erscheinen der 10. Auflage der Systema Naturae von Carl von Linné, berücksichtigt werden müssen, häufig aber mit den heutigen Nomenklaturregeln unvereinbar sind.
Die standardisierte binominale Nomenklatur, also das Prinzip der Benennung von Arten mit einem zweiteiligen, aus Gattungsnamen und Art-­Epitheton bestehenden Namen, geht auf Carl von Linné zurück. Latein war die internationale Sprache der europäischen Wissenschaftler im Mittelalter, und bis in das 18. Jahrhundert hinein wurde der größte Teil der wissenschaftlichen Texte in Latein verfasst. Das galt auch für Kräuterbücher und andere Verzeichnisse von Tieren und Pflanzen, die nach Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert in zunehmender Zahl erschienen. Naturkundler vor Linné verwendeten dem zeitgenössischen Sprachgebrauch entsprechend lateinische Namen für Tiere und Pflanzen, von denen viele schon von den griechischen und römischen Gelehrten der Antike gebraucht wurden.
An dieser Stelle sei auf den wichtigen Unterschied zwischen Verfügbarkeit einerseits und Gültigkeit oder Validität eines Namens andererseits hingewiesen. Gültig ist ein Name, wenn er nach eingehender Prüfung und Anwendung aller nomenklatorischen Feinheiten der korrekte Name einer Art ist. Um aber in die Prüfungsmaschinerie des Nomenklaturcodes überhaupt eingehen zu können, muss ein sprachliches Element, das als Name verwendet werden soll, überhaupt erst einmal bestimmte formale Grundbedingungen erfüllen.
Die allerwichtigste Anforderung für einen verfügbaren Namen ist die Publikation. Dazu gibt es in den Nomenklaturregeln einen eigenen Paragrafen, der recht detailliert regelt, was als Publikation gilt. Zudem gilt die Verwendung des lateinischen Alphabets als verbindlich. Mag auch der Beschreibungstext einer Art selbst in kyrillischen Buchstaben oder in chinesischen Schriftzeichen gedruckt sein, der eigentliche taxonomische Name muss vollständig aus lateinischen Buchstaben gebildet sein.
Eine wichtige weitere Anforderung ist die, dass ein Name aus dem Lateinischen, dem Griechischen oder einer anderen Sprache herleitbar sein muss. Zwar gilt auch eine willkürliche Buchstabenkombination als zulässig, sie muss allerdings „ihrer Bildung gemäß als Wort benutzt werden“ können. So gibt es viele Artnamen, die aus australischen Aborigines­-Sprachen stammen und für unser Dafürhalten recht ungewöhnliche Buchstabenkombinationen im lateinischen Alphabet aufweisen. Ihre sprachliche Herleitung aber ist gesichert, und der Name ist seinem Wesen nach ein Wort. Demgegenüber aber kann eine künstliche Buchstabenkombination wie cbafgd nicht als Wort verstanden und als Name benutzt werden.
Und nicht zuletzt müssen in einer taxonomischen Arbeit mit taxonomischen Entscheidungen die Prinzipien der binominalen Nomenklatur, also der zweiteiligen Artnamen, angewendet werden.
Damit sind die Anforderungen an die Verfügbarkeit eines Namens im Grunde auch schon beisammen. Keine schwierige Hürde, eigentlich. Wurde nun also eine Art entdeckt und beschrieben, kommt als Krönung des Artbeschreibungsprozesses die Wahl des passenden Namens. Hier ist Fantasie gefragt, denn jetzt kann der Wissenschaftler die recht strikt begrenzten Pfade der reinen Wissenschaft verlassen und seinen Vorlieben und Neigungen frönen.
Im Rahmen dieser einfachen Regeln sind der Kreativität der Wissenschaftler beinahe keine Grenzen gesetzt. Namen mit Bezug zu wichtigen Erkennungsmerkmalen oder der geografischen Herkunft der Art sind Klassiker und bis heute unter den Taxonomen sehr beliebt. Manche Wissenschaftler aber legen es mit der Wahl ungewöhnlicher und skurriler Namen auf öffentliche Wahrnehmung an, die über den Kreis der Fachkollegen hinausgeht. So heißen einige südostasiatische Arten von Riesenkrabbenspinnen Heteropoda davidbowie, Heteropoda ninahagen und Heteropoda udolindenberg, mit denen der Spinnenexperte Peter Jäger seine persönliche Begeisterung für diese Musiker ausdrückt. Auch die aktuelle Popkultur ist ein beliebter Quell für ungewöhnliche Artnamen. Die Namen der neuseeländischen Wespenarten Shireplitis peregrini und Shireplitis meriadoci sind nach zwei der Hobbits aus der Herr der Ringe-Trilogie von J.R.R. Tolkien benannt. Zudem ist der erste Bestandteil des Gattungsnamens (Shire) die englische Bezeichnung für das Auenland. Darth Vader aus „Krieg der Sterne“ findet sich als Name für einen Tausendfüßer (Zoosphaerium darthvaderi) ebenso im „Katalog des Lebens“, wie Coloborhynchus spielbergi, ein nach Steven Spielberg als Regisseur von Jurassic Park benannter Flugsaurier. Besonders Patronyme, also Namen nach realen oder fiktiven Personen, sind aktuell in die Kritik geraten. In der Vergangenheit sind nicht wenige Arten nach Diktatoren, Feldherren und Machthabern benannt worden, die aus heutiger Sicht als ethisch fragwürdig gesehen werden. Die Taxonomen diskutieren zurzeit intensiv, ob solche Namen mit fragwürdiger Herkunft nachträglich geändert werden können und wie man sie künftig vermeiden kann.
Als Carl von Linné im 18. Jahrhundert die Entdeckung unbekannter Arten zu einem Forschungsprogramm entwickelte, schien dabei der Traum von der Vollständigkeit in greifbarer Nähe zu sein. In einem Schöpfungsakt hatte Gott nur eine gewisse Zahl von Arten erschaffen, und nun war es die Aufgabe der Forscher, Gottes Schöpfungsplan zu entschlüsseln und zu dokumentieren. Nur einige 1.000 Arten mochte die göttliche Vielfalt umfassen, und man konnte mit Fug und Recht erwarten, innerhalb einer Generation, oder sogar früher, das Ziel eines vollständigen Katalogs der Arten zu erreichen.
Linné wäre sicherlich überrascht gewesen, dass sein Forschungsprogramm, die vollständige Erfassung aller Tier- und Pflanzenarten der Erde, 250 Jahre später noch immer kein Ende gefunden hat. Mehr noch, mit unserem heutigen Wissen über den tatsächlichen Umfang der Aufgabe wähnen wir uns weiter von ihrer Vollendung entfernt denn je.
Für die Taxonomen des 21. Jahrhunderts hat sich die Ausgangssituation allerdings dramatisch verändert. Das „Linnéische Programm“, wie der prominente Biodiversitätsforscher Edward O. Wilson die systematische und auf Vollständigkeit abzielende Inventarisierung der Biosphäre bezeichnete, hat sich inzwischen zu einem globalen Großforschungsprogramm entwickelt. Heute verfügt die Wissenschaft über eine Evolutionstheorie und kann Hypothesen über die Entstehung und Entwicklung der Arten diskutieren.
Wie groß aber ist die Aufgabe, die noch auf die weltweite Wissenschaftlergemeinschaft wartet? Es mag überraschen, aber die Zahl der Arten, die auf der Erde existieren, kann auch nach 250 Jahren Biodiversitätserfassung noch nicht mit wünschenswerter Genauigkeit beziffert werden. Die Wissenschaftler können auch nicht mit einigermaßen vertrauenserweckender Genauigkeit sagen, wie viele schon entdeckt und benannt worden sind. Beide Zahlen aber wären von wissenschaftlicher und politischer Bedeutung, auch wenn sich die Suche nach einer verlässlichen Schätzung inzwischen zu einer „Obsession der Artenzahl“ ausgewachsen hat.
Die Zahl schon bekannter Tierarten als eine der beiden Unbekannten in der Biodiversitätsgleichung fehlt aus einem überraschend einfachen Grund: Die Zoologen haben über lange Zeit versäumt mitzuzählen. Bis vor wenigen Jahren gab es keine verbindliche Registratur der neu entdeckten Arten. Anfänglich schien dies nicht nötig zu sein, da ihre Zahl überschaubar war. Mit der exponentiellen Zunahme der Beschreibungsrate wurde es schließlich unmöglich, den Überblick über alle Tiergruppen zu bewahren. Spezialistentum verdrängte zunehmend das Universalwissen, und die Spezialisten versuchten, durch Kataloge und Verzeichnisse ihrer bevorzugten Organismengruppe der wachsenden Mannigfaltigkeit Herr zu werden. Heute übernehmen umfangreiche, internetbasierte Datenbankprojekte wie die „Encyclopedia of Life“ die Aufgabe einer vollständigen Inventur alles Lebendigen.
Erst seit dem 1. Januar 2008, also auf den Tag genau 250 Jahre nach dem offiziellen Beginn der zoologischen Nomenklatur, der auf den 1. Januar 1758 festgelegt wurde, ist die Registrierung eines jeden neuen Namens und jeder nomenklatorischen Entscheidung in einer von der Internationalen Kommission für Zoologische Nomenklatur eingerichteten Datenbank namens „Zoobank“ verpflichtend. Das wiederum bedeutet, dass alle zwischen dem 1. Januar 1758 und dem 31. Dezember 2007 veröffentlichten taxonomischen Namen in oft mühevoller Handarbeit aus Zeitschriften und Büchern herausgesucht werden müssen. Nur zum Teil kann diese „Retrokatalogisierung“ der Taxonomie auf Kataloge und Inventuren aufbauen, die für spezielle Tiergruppen veröffentlicht wurden. Daher also ist die Hauptursache dafür, dass wir nur eine ungefähre Vorstellung davon haben, wie viele Arten bislang schon entdeckt worden sind, das zweieinhalb Jahrhunderte währende Fehlen einer verpflichtenden Registratur.
Die Zahl der tatsächlich auf der Erde existierenden Arten ist jedoch naturgemäß die eigentliche große Unbekannte in der Biodiversitätsentdeckung, und die Wissenschaftler nähern sich ihr mithilfe von Hochrechnungen und Schätzungen an. Weltweite und regionale Entdeckungsraten, Hochrechnungen aus umfangreichen Beispielprojekten und das Abschätzen des Einflusses neuer Technologien bei der Artendifferenzierung sind die Quellen, aus denen sich die Gesamtartenzahlen kalkulieren lassen. Es liegt in der Natur der fortschreitenden Artenentdeckung besonders in den Tropen, dass die Schätzwerte über die Gesamtzahl der Arten immer weiter zunehmen. So umfasste die 10. Auflage der Systema Naturae, Carl von Linnés zoologischem Hauptwerk von 1758, noch genau 4.376 Arten. Linné nahm dabei an, damit der Zahl der wirklich existierenden Arten schon recht nah gekommen zu sein, die er mit jeweils 10.000 Tier- und Pflanzenarten ansetzte. Heute wissen wir, dass Linné den Umfang der weltweiten Artenvielfalt um mehrere Größenordnungen unterschätzte. Es sollte bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts dauern, bis die Millionen-Marke überschritten wurde. Eine politisch enorm wirkmächtige Zahl veröffentlichte der US-Entomologe Terry Erwin im Jahr 1982. Erwin hatte Ende der 70er Jahre tropische Bäume in Panama mit einem Insektizid benebelt und die in Trichter und auf Tücher fallenden Arthropoden – also Gliederfüßler wie Insekten und Tausendfüßer – ausgezählt. Er extrapolierte seine in Panama gewonnenen Ergebnisse auf die die weltweite Vielfalt tropischer Baumarten und errechnete so die atemberaubende Zahl von 30 Millionen Insektenarten, die es weltweit geben sollte.
Heute gehen die Spezialisten von einem niedrigeren Schätzwert aus. Meist nimmt man derzeit an, dass weniger als zehn Millionen Arten vielzelliger Tiere auf der Erde zu erwarten sind. Der neuseeländische Biologe Mark John Costello hält nach Datenbankanalysen die Zahl von fünf Millionen Arten für plausibel, allerdings mit einem Fehler von plus minus drei Millionen.
Davon wurden wahrscheinlich erst 10 bis 15 Prozent entdeckt. Entsprechend warten noch Millionen von Tierarten auf ihre Entdeckung, so viele, dass wir bei der heutigen Entdeckungsrate mehrere 100 Jahre benötigen würden, sie alle zu erfassen. Zurzeit werden von Wissenschaftlern weltweit rund 18.000 Arten pro Jahr entdeckt. Das klingt nach einer beeindruckenden Leistung, selbst wenn man davon ausgeht, dass es weltweit mehrere 1.000 Taxonomen gibt, die in Hunderten von Publikationen all diese Artbeschreibungen und -benennungen veröffentlicht haben. Allerdings würde man bei angenommenen fünf Millionen noch unentdeckter Arten bei einer gleichbleibenden Entdeckungsrate von 18.000 Arten pro Jahr ganze 277 Jahre benötigen, sie alle zu registrieren. Ganz zu schweigen davon, dass man sie überhaupt erst einmal finden und dingfest machen muss.
Doch bleibt dafür nicht die Zeit. Abgesehen davon, dass wir in einer sich in kurzen Zeiträumen ändernden Welt leben, in der Forschungsprogramme und Zukunftspläne mit Laufzeiten von vielen Jahrzehnten oder sogar Jahrhunderten nicht sinnvoll sind, läuft uns aus einem viel gewichtigeren Grund die Zeit davon.
Die Erde befindet sich derzeit in einem gravierenden Umgestaltungsprozess, der im Wesentlichen auf den Menschen zurückzuführen ist. Klimaerwärmung, Lebensraumverlust, Umweltverschmutzung und viele andere Faktoren führen dazu, dass stetig Arten aussterben. Die meisten von ihnen verschwinden unerkannt von der Bühne der Natur, zum Teil so, als hätte es sie nie gegeben. Insekten, Würmer, Quallen sind genauso bedroht wie charismatische Großtiere wie Flussdelfine und Tiger, deren Existenz vielen Menschen am Herzen liegt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass schon in wenigen Jahrzehnten ein erheblicher Teil aller Arten nicht mehr existiert.
Legt man das pessimistische Modell einer Aussterberate von fünf Prozent der Arten pro zehn Jahre zugrunde, wären innerhalb von 150 Jahren rund die Hälfte aller Arten der Erde ausgestorben. Eine Aussterberate von unter einem Prozent der Arten pro Jahrzehnt gilt derzeit aber als die realistischere Schätzung. Bei diesem Modell würde zwar die jährliche Erfassungsrate über der Aussterberate liegen, aber all das gründet sich auf eine unsichere Zahlenbasis. Die Schätzungen beruhen nämlich auf den Daten einer nur geringen Zahl von Arten. Nur 2,7 Prozent der 1,5 Millionen bekannten Arten sind bislang hinsichtlich ihrer Bestandsentwicklung und Gefährdung überhaupt bewertet worden. Diese geringe Zahl wiederum basiert beinahe ausschließlich auf Beobachtungen und Untersuchungen an Wirbeltieren. Die Millionen von Insektenarten und anderen Wirbellosen gehen nicht in die Statistik ein. Eine weitere grundlegende Schwierigkeit bei der Modellierung künftiger Aussterberaten sind mögliche synergistische Wechselwirkungen durch fortschreitenden Lebensraumverlust und durch den Verlust von Arten. Das komplexe Netzwerk der Beziehungen zwischen Arten, ihren Lebensräumen und einer Vielzahl weiterer organischer und anorganischer Faktoren haben wir bislang nur unzureichend begriffen. Stirbt eine für das Beziehungsgeflecht kritische Art aus oder wird ein Habitat unwiederbringlich geschädigt, kann dies zu einem erdrutschartigen Aussterben weiterer Arten führen.
Die Erfassung der Artenvielfalt ist also ein steter Wettlauf mit der Zeit. Die Taxonomen, die sich bemühen, die noch unentdeckte Artenvielfalt zu entschlüsseln, tun dies im Wissen, dass parallel unentwegt Arten aussterben, bevor sie überhaupt gefunden und wissenschaftlich dokumentiert wurden. Sie sind, wie es der Autor Douglas Adams ausdrückt, „fast wie jemand, der durch eine brennende Bibliothek eilt und versucht, ein paar der Titel jener Bücher hinzukritzeln, die niemand mehr wird lesen können“.
Die höchste Priorität müssen natürlich Maßnahmen haben, die den fortschreitenden Artenverlust stoppen. Dennoch tun Taxonomen gut daran, sich mit der Erfassung alles Lebendigen und der sprachlichen Erschließung der der Natur innewohnenden Ordnung zu beeilen. Wenn schon das allermeiste nicht zu retten ist oder bewahrt werden kann, so ist es doch für die Menschheit, auch für jene Generationen, die auf die vermeintlich „Letzte Generation“ folgen werden, wichtig zu wissen, was uns verloren gegangen ist.

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