Mesopotamien, das Land zwischen Euphrat und Tigris, gilt seit langem als eine Wiege der Zivilisation: Dort erfanden Händler und Beamte im 4. Jahrtausend vor Christus die Keilschrift, dort entstanden technische Innovationen wie das Rad und die Bronzemetallurgie, die das Leben grundlegend veränderten – im Vorderen Orient und auch in Europa. Doch nun gehen Zweifel um am Zweistromland: Kamen doch nicht alle Erfindungen aus Mesopotamien? Forscher präsentieren jetzt neue Kandidaten: Kulturen in dem mächtigen Gebirge am Ostrand des Schwarzen Meers, wo Europa und Asien aufeinander treffen, im Kaukasus.
"Ich denke, dass ein Gutteil der Innovationen, für die wir lange den Vorderen Orient verantwortlich gesehen haben, dass die eigentlich aus dem Kaukasus kommen. Weil der Kaukasus eben an der Schnittstelle von Westasien mit den Schriftkulturen im Vorderen Orient und den europäischen-eurasischen Gruppen als Scharnier sitzt. Und von beiden Seiten bekommt und an beide Seiten gibt und zwischen beiden vermittelt."
"Wir sehen im Kaukasus wichtige Innovationen wie zum Beispiel den Wagen oder die frühe Metallurgie, und der Kaukasus als eine Brücke spielt in vielen Zeiten eine wichtige Rolle. Die höchsten Berge sind über 5000 Meter hoch, aber zugleich ist er keine Barriere, sondern über viele Pässe bequem überquerbar und die Ausbreitung von technischen Innovationen, die sehen wir über die Objekte, aber auch heute über die Genetik, denn dort wo Austausch stattfindet, findet er nicht nur als trockener Wissensaustausch statt, sondern auch körperlich."
Sabine Reinhold und Svend Hansen arbeiten in der Eurasien-Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts. Sie erforschen eine Region, die die westliche Wissenschaft lange vernachlässig hat – weil sie weit jenseits des Eisernen Vorhangs lag und weil man überzeugt war, dass allein das Zweistromland die Quelle der eurasischen Zivilisationen gewesen sei.
Doch südlich des Kaukasus entspringen die beiden Quellflüsse des Euphrat, dort beginnt das nördliche Zweistromland, dort stoßen auch die alten Kulturräume Anatoliens und des Iran aneinander. Und nördlich des schroffen Gebirges lagen die Reiche der Steppenvölker: Im Westen wenig beachtet, ja, nach jahrhundertealten Erfahrungen noch immer als bedrohliche Invasoren verrufen, werden sie erst allmählich als reiche, innovative Gesellschaften anerkannt. Manche existierten schon im 4. Jahrtausend vor Christus – zur selben Zeit wie die berühmten Kulturen Mesopotamiens. Das besterforschte Beispiel ist die Maikop-Kultur, benannt nach einem Städtchen am Nordwestrand des Kaukasus. Der größte Grabhügel von Maikop wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts erforscht, berichtet Professor Hansen:
"In der Maikop-Kultur sehen wir schon vor der Mitte 4. Jahrtausends – also etwa um 3700, 3600 – in dem großen Kurgan von Maikop einen Herrscher bestattet, der eine Vielzahl von Dingen bei sich hat, die zeigen, dass er sich selber als eine Art König verstand, etwa eine Vielzahl goldener Applikationen von Löwen – hier sehen wir das erste Mal, dass der Löwe als Bestandteil der Königs-Ideologie eine wichtige Rolle spielt – und dann ist er in diesem über 10 Meter hohen Grabhügel ausgestattet gewesen mit einer Vielzahl von weiteren goldenen Gefäßen, silbernen Gefäßen, bronzenen Gefäßen. Also hier sehen wir eine Form der Herrschaftsrepräsentation, die für diese Zeit ganz außergewöhnlich ist und die man immer gern mit den frühen städtischen Zentren in Mesopotamien verbunden hat, für die es aber dort keine so frühen Beispiele für entsprechende Gräber gibt."
Wurde die Bronze im Kaukasus entdeckt?
Dass Innovationen auch in den Gesellschaften des Kaukasus entstanden sein könnten, zeigen naturwissenschaftliche Datierungen mit der C-14-Technik, berichtet Dr. Reinhold.
"Da hat man immer gedacht, die Schriftkulturen sind älter, dem ist eben nicht so. Das hat die Radiokarbonmethode ganz klar belegt: Die Funde im Kaukasus von bestimmten Technologien sind weitgehend älter als die in Mesopotamien, etwa die Edelmetall-Gefäße haben Sie in Maikop in der ersten Hälfte des 4. Jahrtausends, da haben Sie keine Stücke in Mesopotamien aus der Zeit. Tatsächlich hat sich da einiges umgekehrt – was nicht bedeutet, das wurde im Kaukasus erfunden und nach Mesopotamien importiert, sondern wir haben einfach in Mesopotamien aus dieser Zeit keine Belege."
Für die Entstehung im Kaukasus spricht, dass es dort die Rohstoffe für Bronzegeräte und hölzerne Wagenräder gab – aber nicht im Zweistromland!
"Natürlich ist der Kaukasus als eine Ressource beispielsweise für alle Formen von Metall sehr attraktiv, als eine Ressource für Holz, möglicherweise auch, wenn wir an die frühen Wollschafe denken – und das ist ein Feld, auf dem wir mit unseren Forschungen weiterkommen wollen, die frühe Herauszüchtung des Schafs mit einem Wollvlies, und der nördliche Kaukasus und die anschließende Steppe sind Kandidaten, die man heute mit genetischen Untersuchungen genauer in den Blick nehmen kann."
Schließlich brauchte man Wollkleidung in den eisigen Höhen des Gebirges nötiger als in den Ebenen des Mesopotamiens.
Die Innovationen könnten aus der ländlichen Peripherie des Kaukasus in die Metropolen an Euphrat und Tigris gewandert sein, meint Svend Hansen - also umgekehrt zu dem Weg, den man erwarten würde.
"Die Legierung, die aus Kupfer dann Bronze macht, da gibt es gute Gründe, das zuerst im Kaukasus zu vermuten, weil es dort Erze gibt, wo das natürlich schon mal vorkommt, das könnte etwas sein, was aus dem Kaukasus nach außen gestrahlt hat. Andere Aspekte wie die Wagen, das ist nicht so leicht zu klären, denn wir haben praktisch von Nord-Mesopotamien, vom Nord-Kaukasus bis Nord-Deutschland fast gleichzeitig Belege für Räder-Transport, für Wagen. Wo kommt das nun her, ist die große Frage."
Haben Menschen in Norddeutschland schon im 4. Jahrtausend vor Christus Wagen benutzt? Bisher kannte man nur Reste hölzerner Räder aus den Feuchtböden der Seeufer-Siedlungen im Voralpenraum. Hansen konkretisiert:
"Diese frühen Wagen sind dort nur durch Wagenspuren, die unter Grabhügeln sich erhalten haben, nachgewiesen, so etwa in Flintbek, oder in den jütländischen Steinhaufengräbern sind die Ochsen und die Wagen als Aussparungen im Grab zu identifizieren."
Vom Kaukasus zu den Karpaten
Über die Route, auf denen der Austausch stattfand, wird noch diskutiert: Lange waren die Wissenschaftler überzeugt, dass Innovationen von Süden über den Balkan nach Mitteleuropa gelangten, doch Reinhold und Hansen gehen von einer anderen Strecke aus:
"Wenn Sie auf die Karte schauen, sehen Sie, dass Sie, wenn Sie vom Kaukasus weiter nach Westen kommen, sehr bequem am Ostrand der Karpaten marschieren können, das sind um die 2000 Kilometer. Wir müssen uns das heute verdeutlichen, dass das Distanzen sind, die Individuen oder kleinere Gruppen auch zu Fuß sehr bequem durchmessen können."
Zwischen dem Kaukasus und dem Karpatenbecken, das heute teils zu Ungarn, teils zu Rumänien gehört, fand im 4. und frühen 3. Jahrtausend vor Christus ein Austausch statt. Das bezeugen archäologische Funde aus beiden Regionen, die sich sehr ähneln: vor allem bronzene Äxte, die zum Kämpfen wie zum Holzfällen taugten. Die Ost-West-Kontakte reichten aber noch weiter nach Europa hinein:
"Ein ganz augenfälliges Beispiel für den ganz direkten Austausch zwischen dem Kaukasus und Mitteleuropa ist beispielsweise die Darstellung früher Kompositbögen nicht weit von Maikop in Nova Svobodnaja und in einem Kammergrab aus Göhlitzsch bei Magdeburg, die sich so ähnlich sind, dass man einen Kontakt nicht verneinen kann und ich glaube, diese Darstellungen sind deswegen in den Gräbern angebracht worden, weil der Bogen selbst eine Innovation war, die sich eben auch rasch verbreitet hat."
Unklar ist noch, wie sich die Innovation nach Mitteleuropa verbreitete, die eine neue Epoche begründete: die Bronze-Metallurgie. Hansen ist überzeugt, dass auch das Wissen über die Bronze-Herstellung aus den Kulturen des Kaukasus nach Europa kam.
Bronze war das erste, praktische Metall, das Menschen entdeckten. Am Ende der Steinzeit hatten sie begonnen, Waffen und Werkzeuge aus Kupfer zu gießen, doch Kupfer ist relativ weich. Im 4. Jahrtausend vor Christus erkannte man, dass Kupfer härter wird, wenn man ihm einen kleinen Anteil Arsen zusetzt. Auch Sauerstoffblasen, die eine Kupferklinge brüchig machen, können sich dann nicht mehr einlagern.
"Das waren entscheidende Elemente, die dann auch den Guss neuer Metallformen ermöglichten: Wir haben eben schon im 4. Jahrtausend sehr lange Dolche weit verbreitet vom Kaukasus bis über Anatolien und den Mittelmeerraum, vereinzelt auch in Mitteleuropa. Und im Kaukasus und in Ostanatolien dann im späten 4. Jahrtausend Schwertklingen, die über 60 Zentimeter lang sind."
Auf den Spuren der frühen Metallverarbeitung
Vermutlich ist diese Art der Bronzeherstellung in Europa nördlich der Alpen nicht bekannt geworden. Dort begann die Bronzezeit erheblich später – und mit einer anderen Legierung: Man setzte dem Kupfer kein Arsen, sondern Zinn zu. Mario Küßner, Archäologe beim Landesamt für Archäologie und Denkmalpflege in Thüringen, betont: "Dass wir erste echte Zinnbronzen in Mitteleuropa erst nach 2000 vor Christus haben und vorher haben wir die nicht!"
Küßner erforscht die Spuren der frühen Metallverarbeitung in Mitteldeutschland. Dort kam es etwa ab 2000 vor Christus zu einer Kulturblüte, auf der Basis der Bronzeherstellung. Die "Aunjetitzer Kultur", benannt nach dem tschechischen Dorf Únĕtice, umfasste Gebiete vom Harz bis zur Donau. Zu ihrem Symbol ist die Himmelsscheibe von Nebra geworden, die in Sachsen-Anhalt ans Licht kam: Die grünspan-bedeckte Bronzescheibe mit den goldenen Symbolen der Gestirne, im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle zu bewundern, hat der archäologischen Forschung einen starken Impuls gegeben: In den letzten Jahren haben Ausgrabungen viel klarer gemacht, welche Veränderungen die Entdeckung der Bronze in Mitteleuropa auslöste.
Vorher kannte man am ehesten die Highlights der Epoche: Der riesige Grabhügel bei Leubingen, im Herzen des Thüringer Beckens, ist schon Ende des 19. Jahrhunderts erforscht worden. Um 2000 vor Christus wurde darin mit großem Aufwand ein mächtiger Mann bestattet. Seine Grabkammer aus einem Balkengerüst, bedeckt mit Schilf, Erde und Steinen, ist in Weimar im Museum für Ur- und Frühgeschichte rekonstruiert worden. Eine Vitrine daneben zeigt, über welchen Reichtum er verfügte:
"Zum einen das reiche Goldornat, das er getragen hat, mit zwei Ringen, die als Haarschmuck dienten, zwei goldene Gewandnadeln, einen Armring und dazu noch ein goldenes Röllchen, im Ganzen ist es immerhin ein halbes Pfund Gold."
Dass er eine hohe Position innehatte, belegen auch die Waffen, die man ihm mit ins Grab gab, vor allem der "Stabdolch", der vornehmsten Persönlichkeiten vorbehalten war: eine lange Bronze-Klinge, die wie eine Sensenklinge quer auf einem Stab steckt. In der Kammer lag auch ein so genannter "Kissenstein", der als Unterlage bei der Metallbearbeitung diente: Die Elite war sich also darüber im Klaren, dass die Kontrolle über die Metall-Technologie die Grundlage ihrer Herrschaft war.
Die Trennung zwischen Arm und Reich
Solche außergewöhnlichen Grabbauten können die Forscher jetzt in den Kontext einordnen. Sie haben weniger prunkvolle Gräber freigelegt, in denen Krieger mit Waffen und goldenen Haarringen beigesetzt waren – offenbar eine Art Unterführer. Und sie haben zahllose schlichte Bestattungen ohne Beigaben für das Gros der Bevölkerung gefunden. Die Gesellschaft der frühen Bronzezeit war demnach viel hierarchischer aufgebaut als zuvor in der Steinzeit. Die egalitären Gesellschaften zerfielen in unterschiedliche soziale Schichten: Mit der Bronzezeit entstand die Trennung zwischen Arm und Reich.
Die Macht des Metalls wurde offenbar bewusst zelebriert. Das verrät ein außergewöhnlicher Fund, der in der nächsten Vitrine des Weimarer Museums ausgestellt ist. Bei Dermsdorf im Thüringer Becken haben Mario Küßner und seine Kollegen kürzlich die Spuren eines außergewöhnlich großen, bronzezeitlichen Hauses entdeckt. Vergraben im Boden vor dem Eingang fanden sie einen Tontopf, der bis zum Rand mit grün und bläulich schimmernden Bronzeklingen gefüllt war.
"98 Beile und zwei Stabdolchrohlinge, das unterscheidet den Hort auch von anderen, denn wir haben hier stark abgearbeitete Beile. Wir haben Rohlinge, wir haben frisch gegossene Exemplare, die nie in Funktion waren, und wir haben sogar einen Roh-Guss, der frisch aus der Form in dieses Depot hineingekommen ist!"
Alle Beile haben dieselbe Grundform, sie sehen aus wie genormt: ein langer Hals läuft aus in eine breite, leicht abgerundete Klinge. Die wertlosen hölzernen Schäfte hat man entfernt, die metallenen Klingen haben die Menschen vergraben: Warum?
"Eine naheliegende Vermutung wäre, es war ein Materialdepot, da sprechen aber viele Gründe dagegen, vor allem der herausgehobene Platz der Niederlegung, direkt vor dem Giebel des Gebäudes, der eher für einen willentlichen Akt mit Publikum spricht und auch, dass der Platz im Gedächtnis bleiben sollte und jeder wissen sollte, wir können uns das leisten", vermutet der Archäologe. Denkbar wäre auch, dass jeder Waffenfähige der Gruppe, Alte und Junge, ein wertvolles Beil als Opfer dargebracht hat: um die Götter zu ehren und von ihnen Glück im Kampf zu erbitten.
Alle Klingen sind aus Zinnbronze gegossen, wie in Mitteleuropa im 2. Jahrtausend vor Christus üblich. Einen Teil haben die Archäologen als Import aus der Schweiz identifiziert, andere sind offensichtlich in der Nähe des Fundorts hergestellt worden. Darauf deutet vor allem der Rohguss hin, an dem noch die Gussnähte erkennbar sind: Bei einer Handelsware hätte man sie abgeschliffen. Die Bronzegießer der Aunjetitzer Kultur zählten nördlich der Alpen vermutlich zu den Pionieren der Bronzeherstellung. Aber wie kamen sie zu ihrem Wissen – und wie zu ihren Rohstoffen?
"Man muss genau schauen, wann in bestimmten Regionen die gesamte Metallurgie-Kette beherrscht wurde, also von der Beschaffung der Erze bis zum Guss der verschiedenen Objekte", konstatiert Svend Hansen. Vielleicht findet er demnächst eine Antwort. In einem Großprojekt, das vom Europäischen Forschungsrat gefördert wird, wird er nicht nur den Ursprung, sondern auch die Verbreitung wichtiger Innovationen noch detaillierter erforschen: neben Rad und Wagen und der Züchtung des Wollschafs wird es auch um die Bronzemetallurgie gehen. Hansens Ziel ist, eine "Archäologie der Innovationen" zu begründen. Der Kaukasus wird dabei eine zentrale Rolle spielen.