Es ist der 10. März 2016. Ein Zug schießt durch den Gotthard- Basistunnel.
Es ist die letzte Fahrt vor der offiziellen Eröffnung des Basistunnels. Journalisten sind dazu eingeladen. Sie tragen Schutzhelme und gelbe Warnwesten. Auch der Selbstretter ist Pflicht - er würde seinen Träger im Brandfall mit Atemluft versorgen. Die Blicke der Besucher finden jenseits der Zugfenster keinen Halt. Mit 200 Stundenkilometern fliegt die Tunnelwand vorbei. Dann hält der Zug in einer Nothaltestelle. Aussteigen.
"Wenn ein Zug oder ein Waggon vom Zug brennen würde, haben wir hier oben lauter solche Abluftkamine, die wir in dem Moment öffnen und dann über den Schacht zwei ihre Brandgase abführen."
Vorgeführt wird, was mit Bahnpassagieren im Tunnel geschieht, wenn es brennen sollte im Zug.
"Sie befinden sich in einem sicheren Bereich. Bitte helfen Sie sich gegenseitig und befolgen Sie die Anweisungen des Personals."
Schnurgerade ziehen sich die Gleise hin. Links und rechts erstrecken sich Lüftungs- und Fluchtstollen, Kavernen und Schächte. 150.000 Datenpunkte sind mit den Tunnel-Leitsystemen verbunden. Alle 114 Jahre darf die Datenautobahn im Tunnel für eine Stunde ausfallen. Seit Monaten finden Tag und Nacht Testfahrten im Tunnel statt.
Ein technisches Meisterwerk
Vor zehn Jahren war hier noch ein lärmiger staubiger Ort. Es wurde gesprengt und gebohrt.
Vor 14 Jahren begannen die ersten Tunnelbohrmaschinen damit, sich langsam durch den Gotthard zu fressen. Noch nie waren bis dahin so große Maschinen so tief im Berg bei so hartem Gestein im Einsatz.
Herrenknecht steht auf den Tunnelbohrmaschinen. Herrenknecht wie ihr Hersteller Martin Herrenknecht aus Schwanau.
"Ich würde sagen, weltweit ist das todsicher das Top-Ereignis. Ohne hier die anderen Baustellen zurückzustellen. Aber der Sankt Gotthard wird absolut an der Weltspitze mit sein. Das hören sie an Fachtagungen in Amerika oder China. Wenn Sie vom Sankt Gotthard sprechen, weiß jeder wie das Projekt ist und weiß jeder, welche Schwierigkeiten da auftauchen."
Denn der Gotthard hat sich gewehrt. Mit Bergschlägen, mit Hitze im Tunnel, mit schwierigster Geologie. Heinz Ehrbar, der Leiter Tunnel und Trassenbau, über sein Verhältnis zum Gotthard.
Enorme Gewalten der Natur
"Wir haben es mit Überlagerungen von über 2000 Metern zu tun, mit Gebirgstemperaturen von bis zu 50 Grad, mit Wasserdrücken von bis zu 2000 Metern Wasserdruck. Das heißt: das sind enorme Gewalten der Natur mit denen man sich da einlässt. Vor diesen Gefahren ist Respekt angezeigt. Keine Furcht, aber Respekt."
Der Tunnel sei nicht machbar. Das war die anfängliche Kritik von Tunnelgegnern und Experten. Aus ganz Europa wurde Tunnelbau-Know how an den Gotthard geholt. Und so schafften die Tunnelbauer den Gotthard. Die Trennung von den Familien und schwerste Arbeit verbindet die Arbeiter wie eine unsichtbare Seilschaft. Der Nachbar der Dich heute in der Baracke nervt, kann Dir morgen im Tunnel das Leben retten, sagt Produktionsleiter Jens Classen.
"Wenn man einmal im Tunnel gearbeitet hat, dann arbeitet man immer im Tunnel. Das ist wie ein Virus. Man geht in den Tunnel arbeiten und man geht vielleicht nach zwei Tagen nach Haus und sagt, das ist nichts für mich. Oder man bleibt es ein ganzes Leben lang. Ein Tunnelbauer ist wie ein Astronaut. Er setzt jeden Tag seinen Fuß dorthin, wo noch nie ein Mensch gewesen ist. Und ich glaube, das ist das Entscheidende, das nicht wissen, was am nächsten Tag passiert. Es kann schwierig sein oder auch schön."
Im Gotthard wurde technisches Neuland betreten. Aber den einzelnen Pionier, der alle überragt, gibt es nicht. Der Gotthard-Basistunnel ist das Werk vieler Hände und Köpfe aus vielen Ländern der Welt. Dieter Robert Sieger war Techniker an der Tunnelbohrmaschine.
"Wir sind Abenteurer. Und der Tunnelbau ist mitunter das letzte Abenteuer in Europa. Man darf nicht vergessen, die ganze Welt ist durch Abenteurer erschlossen worden. Und das ist hier ein Abenteuer direkt vor unserer Nase. Ich meine, was wir hier machen, das ist schon Geschichte. Natürlich werden wir hier nicht erwähnt. Hier arbeiten mehrere hundert Menschen. Aber wir wissen, was wir getan haben. Das nimmt uns keiner."
14 Jahre Bauzeit bis zum Hauptdurchschlag
Vier Mal hat das Schweizer Stimmvolk an der Urne über das Projekt an sich, über den Alpenschutz und über die Finanzierung der neuen Alpentransversalen entschieden. Vier Mal hat es ja gesagt. 14 Jahre Bauzeit vergingen bis zum Hauptdurchschlag. Der politische Prozess bis zum Spatenstich dauerte 26 Jahre. Renzo Simoni ist Vorsitzender der Alptransit Gotthard AG, die Bauherrin war am Gotthard.
"Es gab Schlagzeilen in den Zeitungen, ich kann Sie Ihnen zeigen, aus den 90er-Jahren, da hat es geheißen: Fass ohne Boden, niemals machbar, und so weiter, und nichts kommt. Ich mache meinen Kollegen von Stuttgart 21 auch immer wieder Mut mit solchen Gegenüberstellungen von Schlagzeilen aus den 90er-Jahren und den aktuellen, positiven die wir jetzt in der Schweiz haben."
Und Simoni tut dies, weil seine Erfahrungen auch bei Stuttgart 21 interessieren. Simoni sitzt im Beirat der Projektgesellschaft der Stuttgart-Ulm GmbH, von Stuttgart 21 also. Die mutmaßlichen Endkosten am Gotthard belaufen sich auf 8,7 Milliarden Euro. Die drei Milliarden Mehrkosten gehen zum größten Teil auf politisch gewollte Bestellungsänderungen zurück, zum Beispiel besserer Brandschutz, Maßnahmen für die Umwelt oder aufwendigere Bahntechnik.
"Da bauen Sie am Schluss nicht mehr das, was Sie ursprünglich einmal gedacht haben zu bauen. Die Technik entwickelt sich, die Sicherheitsanforderung entwickelt sich. Wir stellen heute ein Objekt zur Verfügung, das viel mehr kann, viel sicherer ist, als damals angedacht, als man die Kosten versucht hat so gut wie möglich zu prognostizieren."
Längster Bahn-Tunnel der Welt
Der Gotthardbasistunnel ist mit 57 Kilometern Länge der längste Bahn-Tunnel der Welt. Doch dieser Tunnelbau-Weltrekord ist nicht der erste am Gotthard. Schon der Scheiteltunnel 1882 war damals der längste der Welt, ebenso wie der Straßentunnel von 1980. Die Schweiz bewahrt und baut die Alpenübergänge auch für ihre Nachbarländer. Dieses Selbstverständnis blieb seit der Eröffnung des Eisenbahntunnels 1882 unverändert. Bundesrat Simon Baviers sagte in seiner Eröffnungsrede 1882:
"Die Scheidewand, die die Nationen trennte, ist gefallen und die erste Bresche in die helvetischen Alpen gelegt. Die Länder sind einander näher gerückt und haben sich dem Weltverkehr geöffnet. Nachdem seit Jahrtausenden kampfgerüstete Heeressäulen ihre eroberten Standarten über das Gebirge trugen, um bald hüben, bald drüben Verderben und Zerstörung zu bereiten, werden nun täglich reich beladene Karawanen auf dem neugeschaffenen Verkehrswege dahinziehen und statt Vernichtung Segen und statt Krieg Frieden bringen."
Am 5. September 1980 wurde der Gotthard-Straßentunnel eröffnet. Diesmal hielt Bundesrat Hans Hürlimann die Eröffnungsrede. Er bemühte den Mythos Gotthard, den Gotthard als Wurzelgrund des Schweizer Staatswesens, als Dienst an den Nachbarstaaten im Norden und im Süden:
"Was vor Jahrhunderten die Kaiserpolitik bestimmte, ist mit den Dimensionen unseres Zeitalters neu Tatsache geworden: Der abendländische Brückenschlag zwischen dem Norden und dem Süden."
"Eines der größten Umweltprojekte des Kontinents."
Welche Rede der Schweizer Bundespräsident zur Eröffnung des Basistunnels halten wird, weiß noch niemand. Doch beim Hauptdurchschlag am 15. Oktober 2010 hat der Schweizer Verkehrsminister Bundesrat Moritz Leuenberger den Mythos Gotthard auf seine Weise erneuert:
"Mit diesem Tunnel bauen wir mit an den Infrastrukturen Europas und beweisen so: Wir gestalten unseren Kontinent mit, solidarisch und nachhaltig, indem wir die Verlagerung von der Straße auf die Schiene vorantreiben. Hier, inmitten der Schweizer Alpen, entsteht eines der größten Umweltprojekte des Kontinents."
Dass die Eidgenossen bei den diversen Referenden immer ja gesagt haben zur neuen Alpentransversalen, das hat die Tunnelbauer beflügelt.
"Großes haben wir gewagt - gemeinsam. Großes haben wir geschaffen - gemeinsam. Weil wir wissen: Der Berg ist groß. Wir sind klein. "
Von Anfang an waren die drei Alpen-Basistunnel in der Schweiz als Teil des europäischen Güterbahnkorridors von Rotterdam nach Genua konzipiert. Das betonte Peter Füglistaler wenige Tage vor der Tunneleröffnung. Er ist Direktor des Bundesamtes für Verkehr.
"Ich bin überzeugt, dass Europa weltwirtschaftlich nur eine Chance hat, wenn wir die Kräfte bündeln, also die Wirtschaftsräume verbinden. Und der Gotthardtunnel verbindet Deutschland mit Italien. Er ist das Herzstück der neuen Eisenbahntransversale. Er ist im Kern ein europäisches Bauwerk."
Verkehrswachstum auf der Schiene statt auf der Straße
Im Korridor Rotterdam - Genua soll der Güterverkehr bis ins Jahr 2040 um 30 bis 50 Prozent anwachsen. Ein Verkehrswachstum, das auf die Schiene soll und nicht auf die Straße. Darum hat die Schweiz den Basistunnel gebaut.
"Jetzt wird dieses Werk vollendet. Und wir stellen fest, dass wir mitten im Trend sind, europäische Güterverkehrskorridore, dass wir zu einem Wirtschaftsraum zusammenwachsen, Deutschland, Italien. Ich glaube das ist ein großer Schritt für Europa."
Im Jahr 2020 sollen alle Ausbauten entlang der Gotthardstrecke abgeschlossen sein. Dann ist auch der Ceneri-Basistunnel bereit. Doch die Zulaufstrecken zwischen Basel und Karlsruhe entlang des Rheins bleiben auch dann noch ein Flaschenhals. Obwohl die diesbezüglichen Verträge zwischen der Schweiz und Deutschland bereits vor 20 Jahren abgeschlossen wurden.
"Ja, vor fünf Jahren hatten wir wirklich nichts, nur Widerstand. Und in diesem Frühjahr hat jetzt der deutsche Bundestag über eine Milliarde Euro für Mehrkosten gesprochen. Es gibt diesen Projektbeirat, der sich auf eine Linienführung geeinigt hat. Ich sehe da schon eine Bewegung. Sie ist noch etwas zögerlich und langsam. Aber es geht in die richtige Richtung."
Bis 2030 soll der Güterverkehr um ein Drittel zunehmen. Doch die Kapazität der Rheinstrecke wird bis dahin noch nicht signifikant angewachsen sein. Andreas Meyer ist der Chef der Schweizerischen Bundesbahn SBB. Er findet deutlichere Worte als der diplomatische Peter Füglistaler. Meyers Forderung:
"Dass wir eine gute Zufahrt haben zwischen Basel und Karlsruhe. Dass diese Strecke ausgebaut werden wird. Es ist ein bisschen beunruhigend, dass die Eröffnung jetzt sogar nach 2030 angekündigt wird. Ich hoffe, sie machen da viel, damit wir auf der ganzen Achse etwas machen können. Denn ein Gotthardtunnel allein reicht nicht."
Große volkswirtschaftliche Vorteile
Nördlich des Gotthards befindet sich Deutschland. Im Süden Italien. Der Verkehrsexperte Lanfranco Senn ist Professor an der Wirtschaftsuniversität Bocconi in Mailand.
"Mit der Eröffnung der Brücke über den Öresund zwischen Malmö in Schweden und Kopenhagen in Dänemark, hat der Austausch von Waren und Menschen zwischen diesen zwei Zentren explosionsartig zugenommen. Mit der neuen Hochgeschwindigkeitsstrecke dauert die Fahrt von Mailand nach Rom und zurück fünf Stunden."
Und genauso werden die Städte Mailand und Zürich zusammenwachsen, prognostiziert Senn. Ist der Güterbahnkorridor einmal voll ausgebaut, so rechnet Senn allein in Italien mit volkswirtschaftlichen Vorteilen von 1,2 Milliarden Euro pro Jahr. Deutschland ist der größte Handelspartner Italiens. Umgekehrt ist Italien für Deutschland der siebtgrößte Exportmarkt mit 58 Milliarden Euro Umsatz.
Lanfranco Senn hat die Transportkette zwischen Deutschland und Italien im Detail untersucht. Er analysiert, bei welchen Warengruppen dank der neuen Schweizer Alpentransversalen, welche Zuwächse zu erwarten sind. Der Handel mit Pharmaartikeln und Automobilen zwischen Italien und Deutschland erzielt heute ein jährliches Volumen von 20 Milliarden Euro. Dank der Schweizer Alpentransversalen soll hier ein Wachstum von acht Prozent entstehen, hat Lanfranco Senn berechnet. Der Gotthard ist bereit, aber auch am Brenner wird ein Basistunnel gebaut. Lanfranco Senn glaubt nicht, dass Brenner und Gotthard einander schaden.
Die strategischen Güterbahnkorridore in Europa bilden ein Netz. Ost - West und Nord-Süd. Wenn dereinst Basistunnels in der Schweiz und am Brenner bestehen, dann stehen Brenner und Gotthard nicht in direkter Konkurrenz. Beide bedienen unterschiedliche Verkehre mit unterschiedlichen Quellen und Zielen. Wenn ein Alpenübergang gesperrt werden muss, dann bleibt der zweite offen.
So werden also nördlich und südlich des Gotthard die ganz großen strategischen Räder gedreht.
In Busto Arsizio vor den Toren Mailands geht es wesentlich konkreter zu. Hier werden pro Jahr siebeneinhalb Millionen Tonnen Güter zwischen Eisenbahnwagen und Lastwagen verladen. Es ist einer der größten Güterterminale in Norditalien. Er wird betrieben von HUPAC. Die Schweizer Firma ist die größte Anbieterin im kombinierten Verkehr.
Kombinierter Verkehr soll wachsen
Lastwagenfahrer Fabio Bertoni erklärt seine Arbeit. Jetzt wartet er auf eine Zisterne mit Flüssigchemie. Die liefert er aus, dann erhält er vom Disponenten den nächsten Auftrag, die Containernummer und das Ziel der Lieferung.
Früher waren Bertonis Fahrten lang. Manchmal war er die ganze Woche unterwegs. Jetzt fährt er in der Region und ist am Abend oft wieder zu Hause. Die Ladung macht die Langstrecke auf der Schiene. Nur die Auslieferung vom Terminal zum Endkunden erfolgt auf der Straße. Genau dieser so genannte kombinierte Verkehr soll mit der neuen Alpentransversalen besonders stark wachsen.
Stefano Morosi hängt in der Kabine in einem der zwölf Portalkrane in Busto Arsizio. Ein gutes Auge braucht es, sagt er, hoch oben über dem Gleisfeld. Sein Kran greift Container auf einem Güterzug, hebt sie hoch und setzt sie auf die Ladebrücke eines Lastwagens.
"Mit der neuen Alpentransversalen kommt sicher sehr viel mehr Ware in den Terminal. Die Züge werden länger. Die Züge werden schwerer. Es gibt mehr Arbeit."
Mehr Arbeit in den Container-Terminals
Seit zehn Jahren arbeitet er bei HUPAC. Und von Anfang an war bei jeder Sitzung der Gotthard ein Thema. Alle Vorbereitungen waren ausgerichtet auf diese Chance.
Russo mag seine Arbeit: Die Geräusche der Kräne, der Lastwagen und der Güterzugbremsen. Den Geruch von Eisen, Diesel und heißen Motoren. Immer mehr Güter sollen auf die Schiene. Das treibt Francesco Russo an. Er lebt in der Millionenstadt Mailand. Und doch redet er wie einer der Mineure am Gotthard.
Man spürt die Energie, die von diesem Tunnel ausgeht. Und bin Teil dieses Projekts. Niemand wird dereinst die Namen kennen von all jenen, die dabei gewesen sind. Aber ich weiß: Es ist eine große Sache und ich war dabei.