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Teilchenphysik
Manuskript: Der Himmel über Sichuan

China drängt an die Weltspitze. In der Wissenschaft engagiert sich das Riesenreich immer stärker in der Grundlagenforschung, auch in der Physik. Denn Spitzenleistungen in der Forschung bringen auch dem Land Prestige. Ein rekordsetzender Neutrino-Detektor ist in Vorbereitung, das weltweit tiefste Untergrundlabor in der Provinz Sichuan wird demnächst stark ausgebaut. Und für die fernere Zukunft spielt man in China sogar mit dem Gedanken, den größten Beschleuniger aller Zeiten zu beherbergen – einen Speicherring, der mit 80 Kilometern Umfang dreimal größer ist als der LHC in Genf.

Von Frank Grotelüschen |
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    Das tiefste Untegrundlabor der Welt wird in einem Versorgungstunnel für den Jinping-Staudamm in der chinesischen Provinz Sichuan errichtet. (Frank Grotelüschen)
    "Manchmal wird in Europa gesagt: Das Zeitalter der Chinesen kommt! Aber aus meiner Sicht ist es schon da."
    Chinas Physiker eilen voran. In Riesenschritten. Motiviert durch erste Erfolge, bepackt mit ehrgeizigen Plänen.
    Shaomin Chen: "Chinas Forschung ist auf der Überholspur. Früher hieß es nur 'made in China', hergestellt in China. Doch die Regierung will was anderes: Statt 'in China hergestellt' soll es nun heißen: in China erfunden!"
    Ein Gebirge in der Provinz Sichuan, mit Gipfeln weit über 4000 Metern. Durch eine der steilen Schluchten schlängelt sich der Yalong. Der Fluss ist Schauplatz für eines der gigantischen Bauprojekte in China. 305 Meter ist die Staumauer hoch, die höchste der Welt. Das Wasser tost durch sechs riesige Turbinen. Vier laufen schon, an den letzten beiden arbeitet der Bautrupp unter Hochdruck. Ende des Jahres wird es fertig sein: das Wasserkraftwerk "Jinping 1". Leistung: 3,6 Gigawatt, so viel wie drei Atommeiler.
    "Der Bau der Staumauer hat gerade einmal 15 Monate gedauert, es ging wirklich schnell."
    Qian Yue beobachtet die Bauarbeiten. Yue ist Teilchenphysiker – und profitiert von dem Megaprojekt auf ganz spezielle Weise.
    "Dieser Damm erzeugt nicht nur Energie, sondern er hat uns das tiefste Untergrundlabor der Welt beschert."
    Staudamm mit Zusatznutzen
    8. August 2008. Wie viele seiner Landsleute sitzt Yue vor dem Fernseher und schaut sich die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele von Peking an. Zwischendrin die Nachrichten – und da wird der Professor von der Tsinghua Universität hellhörig.
    "Da kam die Meldung, dass in Sichuan gerade ein Versorgungstunnel für den Bau eines Wasserkraftwerks fertiggestellt worden war. Und als ich hörte, dass zweieinhalb Kilometer Felsgestein über dem Tunnel liegen, war mir sofort klar: Das ist die Gelegenheit, ein Untergrundlabor zu bauen – und zwar das tiefste der Welt."
    Dann ging alles sehr schnell: Yue kontaktierte das Bauunternehmen und stieß auf offene Ohren. Die Baumaschinen waren sowieso vor Ort. Da lag es nahe, eine Kaverne in der Tunnelmitte zu erweitern zu einem Labor für die Physik. Nur zwei Jahre später, Ende 2010, war das Jinping-Untergrundlabor fertig.
    "Das Bauunternehmen hat uns sehr geholfen. Ein gutes Beispiel für ein Staatsunternehmen, das die Grundlagenforschung unterstützt. Ein sehr gutes Beispiel."
    Jetzt ist Qian Yue in einem Kleinbus zum Labor unterwegs. Zwei Stunden ist er durch die Provinz gefahren, vorbei an Gehöften groß wie Gartenschuppen und an Bauern, die ihre Felder mit dem Ochsenpflug beackern. Dann die Einfahrt in den Tunnel. Eine schummerige Röhre mit grob verputzen Wänden, durch die schwere Lastwagen rumpeln. Nach 20 Minuten Tunnelfahrt hält der Bus vor einem Metalltor.
    "This is the fan for the ventilation system of the tunnel."
    Yue muss gegen die Frischluft-Ventilatoren anschreien. Um dem Lärm zu entkommen, macht er schnell das Tor hinter sich zu. Geräumig ist das tiefste Untergrundlabor der Welt nicht gerade: Drei Räume mit kahlen Betonwänden, jeder kaum größer als ein Klassenzimmer. Im Raum in der Mitte zeigt der Physiker Xiang Liu auf eines der Experimente. PandaX, so heißt es. Ein wuchtige Tonne, umgeben von einem Schutzschild aus Blei, Kupfer und Kunststoff.
    "Da sind 400 Kilogramm Flüssig-Xenon drin, bei einer Temperatur von unter minus 100 Grad. Damit suchen wir nach dunkler Materie – nach kleinen, bislang unentdeckten Elementarteilchen. Und wir hoffen, ein paar davon mit unserem Detektor aufspüren zu können."
    Der Dunklen Materie auf der Spur
    Dunkle Materie. Winzige Elementarteilchen, die in rauen Mengen durchs All schwirren und kraft ihrer Gravitation auf ihre Umgebung einwirken. Ohne sie, so glauben viele Physiker, sei nicht zu erklären, warum Galaxien zusammenhalten und wie sich das Universum in seine heutige Gestalt entwickeln konnte. Nur: Gibt es diese dunkle Materie wirklich, und wenn ja, woraus besteht sie? Das ist derzeit eines der größten Rätsel der Physik. PandaX ist einer von vielen Versuchen, das Geheimnis endlich zu lüften.
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    Zugang zum Untergrundlabor am Jinping-Staudamm in der chinesischen Provinz Sichuan. (Frank Grotelüschen)
    Liu: "Trifft ein Dunkle-Materie-Teilchen auf den Detektor, könnte es mit einem der Xenonkerne zusammenstoßen und ihn wegkicken wie eine Billardkugel. Der Kern sollte dann im Detektor eine Art Bremsspur hinterlassen – eine Spur aus Licht und Ladung. Beides wollen wir mit Sensoren messen. In gewissem Sinne ist PandaX also eine hochempfindliche Kamera."
    Das Problem: Störfaktoren können die Existenz eines Dunkle-Materie-Teilchens vorgaukeln. Vor allem die Myonen, das sind schnelle Teilchen aus der kosmischen Höhenstrahlung. Das ist der Grund, warum Xiang Liu, Professor an der Jiaotong-Universität in Shanghai, den Detektor möglichst tief in einen Berg gestellt hat.
    "Auf der Erdoberfläche schlagen pro Sekunde rund 140 Myonen auf einen Quadratmeter ein. Hier unten im Berg ist es nur noch ein Myon pro Woche. Damit ist die Strahlung um das Zigmillionenfache reduziert. Der Berg über unseren Köpfen dient also als Schutzschild vor der kosmischen Strahlung."
    Und zwar als wirkungsvollster Schutzschild der Welt. Jinping ist das tiefste Untergrundlabor überhaupt – 400 Meter tiefer als das führende Labor in Nordamerika, sogar 1000 Meter tiefer als das in Europa. Beste Voraussetzungen für eine chinesische Offensive. Eine Offensive in der Spitzenforschung.
    China will den Westen einholen
    Xiang Liu: "Zwar haben wir noch einen Nachholbedarf gegenüber der internationalen Konkurrenz. Aber wir holen auf. Und mit diesem neuen Untergrundlabor hier hoffen wir, schon bald wirkliche Spitzenresultate zu erzielen."
    "Das Land war in der Grundlagenforschung abgehängt. Mao hatte ja die Vorstellung einer ländlichen Gesellschaft. Es sollte alles auf dem Land passieren. Das hat sicherlich China sehr weit zurückgeworfen."
    Iris Abt, Max-Planck-Institut für Physik, München. Sie arbeitet eng mit chinesischen Physikern zusammen, hat sich mit der Geschichte des Landes befasst.
    "China ist im 20. Jahrhundert ganz unten gewesen. Alle haben auf China heruntergeguckt. Keiner hat es ernst genommen. Und das hat die Chinesen durchaus gestört. Die Chinesen sehen sich als ein 2000-Jahre-Kulturvolk. In China hat Wissen immer einen sehr hohen Stellenwert gehabt. Und das schon seit Konfuzius."
    Stahl, Porzellan und Papier. Kompass, Buchdruck und Schwarzpulver. Im Mittelalter war China dem Westen technologisch überlegen, und zwar haushoch.
    "Man kann das auch daran belegen, dass die Supernova von 1054, aus der der Krebsnebel entstanden ist, in Europa zu keinerlei Beobachtungen geführt hat. Da ist nichts aufgeschrieben. Während die Lichtkurven, die chinesische Astronomen aufgezeichnet haben, heute dafür verwendet werden, um diese Supernova zu klassifizieren. Die sind sehr genau gemacht."
    Dann aber, nach Bürgerkrieg und Kulturrevolution, galt China als rückständig und abgehängt. Das aber ändert sich nun. Wirtschaftlich sind die Chinesen schon länger auf der Erfolgsspur. Nun sind sie dabei, sich auch in der Forschung zu etablieren.
    Iris Abt: "Sie möchten von der Welt respektiert werden. Und Grundlagenforschung ist etwas, das Respekt verschafft."
    Grundlagenforschung verschafft Respekt
    Besonderen Respekt versprechen Erfolge in der Teilchenphysik. Sie geht der grundlegendsten aller wissenschaftlichen Fragen nach: Aus welchen Urbausteinen besteht die Welt, was hält sie zusammen? Für kein anderes Gebiet gab es so viele Physik-Nobelpreise. Für China ein aussichtsreiches Feld, um der Welt zu zeigen: Wir sind wer in der Wissenschaft. Die Anstrengungen dafür lassen sich unter anderem in einem Vorort von Peking bestaunen.
    Gleich neben der U-Bahn-Station Yuquanlu, inmitten eines Wohnviertels, liegt das IHEP, das Institut für Hochenergiephysik, so wie die Teilchenforschung auch genannt wird. Hesheng Chen, ehemaliger Direktor des IHEP.
    "Das Institut ist das größte Zentrum für Grundlagenforschung in China. Sowohl, was das Budget angeht als auch die Zahl der Angestellten."
    Fast 1300 Angestellte hat das Institut. Über knappe Kassen kann sich Chen nicht beschweren.
    "Als ich 1998 Direktor des Instituts wurde, lag der Jahresetat bei umgerechnet knapp zehn Millionen Euro. Als ich Ende 2011 aufhörte, hatte der Etat eine Größe von 120 Millionen Euro erreicht. Also ein Steigerung um mehr als das Zehnfache!"
    Bei Forschungsaufenthalten im Ausland lernten Chen und seine Kollegen, wie man Teilchenbeschleuniger konstruiert und Messdaten analysiert. Dann bauten sie in Peking ihren eigenen Beschleuniger.
    "Beijing electron-positron collider. This is our machine."
    Der Physiker Xiaobin Ji übersetzt die Schriftzeichen über der Eingangstür. BEPC, so heißt die Anlage, Pekinger Elektronen-Positronen-Collider. Zwei Ringe, einer beschleunigt Elektronen, der andere Positronen, die Antiteilchen von Elektronen. Dort, wo sich die Ringe kreuzen, prallen beide Teilchensorten frontal aufeinander. Beobachtet werden die Kollisionen von einem Teilchendetektor namens BES-III. Ein sensorgespickter Klotz, zehn Meter hoch und 650 Tonnen schwer. Ji stapft die Treppe hoch zu einem Raum, in dem Physiker konzentriert auf Monitore starren und Befehle in die Tastaturen tippen.
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    Blick in den Kontrollraum des chinesischen Beschleunigers IHEP. (Frank Grotelüschen)
    Ji: "Das ist der Kontrollraum von BES-III, unserem Teilchendetektor. Ziemlich viele Bildschirme hier. Der große zeigt die Kollisionen, die gerade im Detektor stattfinden. Die vielen kleinen Monitore stellen dar, was in den Subsystemen des Detektors passiert."
    Alle paar Sekunden erscheint auf dem Hauptmonitor ein neues Bild: Ein Elektron ist frontal mit einem Positron kollidiert.
    "Regelmäßig entstehen bei diesen Kollisionen neue Teilchen. Allerdings sind diese Teilchen instabil und zerfallen sofort wieder. Die Bruchstücke kann unser Detektor aufspüren. Und diese Spuren sehen wir dann auf diesem Monitor hier."
    Führend bei der Hadronen-Erzeugung
    240 Meter Umfang hat der Beschleuniger in der Pekinger Vorstadt. Nur ein Zwerg im Vergleich zum LHC, dem 27-Kilometer-Ring in Genf. Dennoch: Auf ihrem Gebiet ist die Anlage führend – der Erzeugung von sogenannten Hadronen. Das sind Teilchen, die aus Quarks zusammengesetzt sind, den nach heutiger Kenntnis kleinsten Materiebausteinen überhaupt.
    Xiaoyan Shen, Sprecherin des BES-III-Experiments:
    "Die Hadronen, die wir bislang kennen, bestehen entweder aus zwei oder aus drei Quarks. Das Standardmodell der Teilchenphysik lässt aber auch andere Kombinationen zu, etwa Teilchen, die aus vier Quarks bestehen, sogenannte Tetraquarks. Bis vor kurzem waren solche Teilchen noch von keinem Experiment beobachtet worden."
    Doch dann, im letzten Jahr, gelang in Peking eine aufsehenerregende Entdeckung.
    Shen: "Wir haben hier ein paar ungewöhnliche Teilchen erzeugt und genau unter die Lupe genommen. Dabei stellte sich heraus, dass sie wahrscheinlich aus vier Quarks zusammengesetzt sind. Also vielversprechende Kandidaten für das Tetraquark."
    Noch ist unklar, ob diese neuen Teilchen tatsächlich aus vier Quarks bestehen oder nur aus zwei Quark-Pärchen. Eine Frage, die neue Versuche am Pekinger Beschleuniger klären sollen. Doch auch für die fernere Zukunft hegen Chinas Teilchenforscher Pläne – ehrgeizige Pläne.
    Hesheng Chen: "Es gibt den Vorschlag, in China einen viel größeren Beschleuniger zu bauen – einen Ring dreimal größer als der LHC in Genf. In der ersten Phase würde er Elektronen und Positronen aufeinander schießen. Damit ließe sich das jüngst entdeckte Higgs-Teilchen viel genauer studieren als mit dem LHC. In Phase 2 würde man dann, um viel höhere Kollisionsenergien zu erreichen und ganz neue Teilchen zu erzeugen, Protonen aufeinander feuern."
    Ein Riesenring mit einem Umfang von 80 Kilometern – das wäre der größte Teilchenbeschleuniger aller Zeiten. Er würde zweistellige Milliardensummen verschlingen. Durchaus denkbar, dass China ihn bauen wird – als Anführer eines internationalen Megaprojekts. Denn:
    Chen: "Wenn unsere Wirtschaft weiter so wächst, dürfte noch mehr Geld in Wissenschaft, Technologie und Bildung fließen."
    Aufbruchstimmung
    "Ich glaube, es ist eine positive Aufbruchsstimmung hier."
    Miaogen Zhao arbeitet am Chinesisch-Deutschen Zentrum für Wissenschaftsförderung in Peking – ein Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG und ihrer chinesischen Partnereinrichtung NSFC. Die NSFC ist die wichtigste Förderagentur für Naturwissenschaften. Gegründet wurde sie 1986, seitdem ist ihr Budget um das 250-fache gestiegen. Das Zentrum von Miaogen Zhao fördert Gemeinschaftsprojekte und Symposien von deutschen und chinesischen Forschern. Als es vor 14 Jahren gegründet wurde, war es vor allem als Anschubhilfe für die Chinesen gedacht. Es sollte ihnen die Gelegenheit bieten, in deutschen Labors zu arbeiten und dort zu lernen.
    "Jetzt, mit der Zeit, ist die Situation langsam anders geworden. Die Wissenschaftler kehren wieder zurück und haben meistens eine wichtige Position in der Forschung hier in China bekommen. Sie können jetzt in Augenhöhe mit ihren deutschen und ausländischen Partnern zusammenarbeiten."
    Lange war es das sehnlichste Ziel vieler chinesischer Physiker, eine Stelle im Westen zu ergattern und dort zu bleiben. Heute sehen sie den Aufenthalt im Ausland eher als Durchgangsstation. Jian Tang etwa, Nachwuchsforscher am Max-Planck-Institut für Physik in München.
    "Wenn sich eine Möglichkeit bietet, gehe ich gern zurück. Denn unsere Regierung unterstützt die Grundlagenforschung derzeit sehr großzügig. Und sie hat gut dotierte Programme aufgelegt, um chinesische Forscher, die im Ausland arbeiten, wieder ins Land zu holen. Unter solch günstigen Bedingungen würde ich meine Forschung gern dort fortsetzen und damit meinem Land helfen."
    Und nicht nur junge Physiker, auch Spitzenforscher kehren in ihre Heimat zurück. So der renommierte Quantenphysiker Jian-Wei Pan. Er lernte sein Handwerk in Österreich und Deutschland und leitet heute das Physikinstitut einer chinesischen Eliteuni. Rückkehrer wie er bilden das Rückgrat einer immer schlagkräftiger werdenden Forschungsmacht. Ein weiterer Grund für den Boom: Ende der neunziger Jahre legte die chinesische Regierung eine Exzellenzinitiative für die Universitäten auf und baute erst neun, dann sogar 36 Hochschulen zu Eliteunis aus. Miaogen Zhao:
    "Die Universitäten hatten auf einmal viel Geld bekommen. In der ersten Phase haben sie moderne Gebäude und erstklassige Forschungsgeräte beschafft. Sie sehen auch überall in China: Viele Universitäten haben einen neuen Campus eingerichtet."
    Paukenschlag aus der Nähe von Hongkong
    Eine Investition, die sich auszahlt. In den Rankings klettern Chinas Top-Unis stetig nach oben. Außerdem baut China immer mehr Großgeräte für die Wissenschaft: der Beschleuniger SSRF in Shanghai, er erzeugt extrem starkes Röntgenlicht. Das LAMOST-Teleskop, es durchmustert die weiträumigen Strukturen des Alls. Und die im Bau befindliche CSNS. Bald soll sie Neutronen für die Materialforschung liefern. Allesamt Anlagen, die international konkurrenzfähig sind. Für einen Paukenschlag aber sorgte vor zwei Jahren ein anderes chinesisches Experiment – der Teilchendetektor Daya Bay. Shaomin Chen, Physiker an der Tsinghua-Universität:
    "Der Detektor liegt in der Nähe der Kernreaktoren des Daya-Bay- Kraftwerks unweit von Hongkong. Mit ihm haben wir Neutrinos untersucht, das sind äußerst flüchtige Elementarteilchen, die kaum mit normaler Materie wechselwirken. Die Reaktoren erzeugen solche Neutrinos in rauen Mengen. Und wir haben untersucht, inwieweit sich diese Neutrinos auf ihrem Weg von den Reaktoren zu unserem Detektor in andere Neutrinosorten verwandeln."
    Chen und seinen 160 Kollegen aus fünf Ländern ging es um folgende Frage: Wie oft verwandeln sich sogenannte Elektron-Neutrinos in andere Neutrinosorten? Innerhalb weniger Jahre stellten sie ihr Experiment auf die Beine – und überholten zwei Konkurrenzteams in Frankreich und Südkorea. Diese hatten zwar eher mit dem Bau ihrer Detektoren begonnen, konnten aber mit dem Tempo der Chinesen schlicht nicht mithalten.
    Chen: "2012 erzielten wir ein Ergebnis, das uns wirklich überraschte: Die Fachwelt hatte angenommen, die Verwandlungsrate sei äußerst gering, vielleicht ein Prozent. Doch wir haben einen Wert von neun Prozent gemessen, also viel mehr als erwartet. Unser Resultat gehörte zu den zehn wichtigsten wissenschaftlichen Durchbrüchen des Jahres 2012."
    Der Grund für die Aufregung: Die von Daya Bay entdeckten Verwandlungskünste sind so ausgeprägt, dass sie einen folgenschweren Prozess angestoßen haben könnten. Einen Prozess, der mit einer der Grundfragen der Physik zusammenhängt: Warum gibt es im Universum Materie, aber kaum Antimaterie? Offenbar hat ein winziges Ungleichgewicht dazu geführt, dass kurz nach dem Urknall die Antimaterie verschwand, wohingegen genug Materie übrig blieb, um Sterne und Planeten zu bilden.
    Chen: "Dank unseres Experiments wissen wir nun: Es könnte durchaus sein, dass die Neutrinos bei der Ausbildung dieses Ungleichgewichts die entscheidende Rolle gespielt haben. Und nun gibt es tatsächlich die Chance, die Vorgänge mit künftigen Experimenten zu vermessen."
    300-Millionen-Detektor geplant
    Der Erfolg von Daya Bay hat China das erhoffte Renommee beschert. Und er hat das Land motiviert, ein noch größeres Projekt anzugehen: Juno, ein 20.000-Tonnen-Detektor, 300 Millionen Euro teuer. Juno soll herausfinden, welche von den drei Neutrinosorten die schwerste beziehungsweise leichteste ist – eine für die Fachwelt höchst grundlegende Frage.
    Shaomin Chen: "Es geht sehr gut voran. Und wir hoffen, spätesten Anfang nächsten Jahres mit dem Bau beginnen zu können."
    2019 könnten die Messungen beginnen – so wie es aussieht wieder deutlich früher als bei der Konkurrenz in anderen Ländern.
    "Das hier ist der größte Raum in unserem Untergrundlabor. Hier steht noch ein Experiment, mit dem wir nach dunkler Materie suchen. Es besteht aus einer dicken Abschirmung, in der zwei Germaniumdetektoren stecken, jeder mit einer Masse von einem Kilogramm."
    Zurück bei Qian Yue im Jinping-Labor in Sichuan. Seit seiner Eröffnung vor dreieinhalb Jahren ist es das tiefste Untergrundlabor der Welt. Aber es ist relativ beengt und bietet gerade einmal Platz für zwei kleine Experimente. Deshalb wollen es die chinesischen Physiker ausbauen – und zwar in einem schier abenteuerlichen Tempo.
    "Das neue Labor wird zwanzigmal größer als das hier und damit eines der größten der Welt. Gleich nebenan werden wir vier neue Hallen graben, jede 115 Meter lang. Dann haben wir genug Platz für neue und größere Detektoren. Ende des Jahres sollen die Bauarbeiten losgehen. Und darauf freuen wir uns schon sehr."
    Abenteuerliches Ausbautempo
    Nach dem Ausbau wird Platz sein für neue Apparate. Yue und seine Kollegen haben ehrgeizige Pläne. Sie planen einen Super-Detektor, 50-mal größer als sämtliche Vorgänger. Eine Tonne hochreines Germanium soll in ihm stecken – was die Chance, die dunkle Materie endlich aufzuspüren, drastisch erhöhen würde. Nur: Alleine können auch die Chinesen so ein Megaprojekt nicht stemmen. Zum einen wären die Kosten von ca. 500. Mio. Euro dann doch zu hoch. Zum anderen fehlt ihnen das technologische Know-how für ein derart komplexes Experiment. Deshalb suchen sie Kooperationspartner aus dem Westen – etwa aus dem Max-Planck-Institut für Physik in München.
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    Blick auf den Rohbau des Jinping-Staudammes in der chinesischen Provinz Sichuan. (Frank Grotelüschen)
    "Wir gehen davon aus, dass wir es in diesem Labor tun werden. Es werden dort bis Anfang nächsten Jahres neue große Höhlen gegraben. Und wir planen, eine dieser Höhlen zu beziehen."
    Max-Planck-Physikerin Iris Abt kann sich das Gemeinschaftsprojekt mit Qian Yue und seine Leuten gut vorstellen. Seit zwei Jahren schon gibt es eine Kooperation zwischen den Forschern.
    Abt: "Das läuft eigentlich völlig reibungslos. Der große kulturelle Unterschied ist natürlich das Essen. Es gibt so manche Dinge, die man in China vorgesetzt bekommt, die bei uns nicht auf die Speisekarte gehören. Aber auf persönlicher Ebene läuft das reibungslos."
    Auch ihr Kollege Bela Majorovits ist von der Tatkraft der Chinesen fasziniert.
    "Das ist beeindruckend, nachdem es scheinbar sehr kurze Entscheidungswege gibt, die bei uns so nicht denkbar sind."
    Ebenso wie Iris Abt träumt auch Majorovits von einem tonnenschweren Germaniumdetektor. Allerdings will er damit keine dunkle Materie aufspüren, sondern einen exotischen, bislang unentdeckten radioaktiven Kernzerfall, den neutrinolosen Doppel-Betazerfall.
    "Dieser Zerfall kann auftauchen, wenn das Neutrino sein eigenes Antiteilchen wäre. Das wäre das fundamental Wichtige an diesem Prozess."
    Würde es diesen Zerfall geben, ließe sich womöglich die Frage beantworten, warum es im Weltall mehr Materie gibt als Antimaterie. Eigentlich will Majorovits den Superdetektor gemeinsam mit US-Physikern bauen. Doch sowohl in Europa als auch in Amerika fällt es derzeit schwer, die nötigen Forschungsgelder einzuwerben. Da liegt es nahe, sich mit China zusammenzutun, hier sitzt das Geld deutlich lockerer. Doch Bela Majorovits ist skeptisch.
    "Das ist ein Punkt, den wir uns ganz genau überlegen müssen. Wenn man sein Wissen einbringt, möchte man natürlich auch etwas zurückkriegen. Das Untergrundlabor ist zwar schön und gut, aber es gibt auch andere Untergrundlabors in der Welt, die gute Infrastruktur haben. Ich denke, es wird davon abhängen, inwieweit diese Zusammenarbeit nicht nur in eine Seite geht, sondern dass auch etwas zurückkommt."
    Den Forschern selber würde man vertrauen, meint Majorovits. Das Problem könnten die im Hintergrund agierenden Behörden sein. Sie könnten verhindern, dass einige der Schlüsselpositionen im Projektmanagement mit Forschern aus Europa oder den USA besetzt werden – was für Majorovits die Grundvoraussetzung für ein Teamwork wäre. Hier muss das gegenseitige Vertrauen offenbar erst noch wachsen.
    Nur: Wenn man nicht mit den Chinesen arbeitet, sondern gegen sie – steht dann nicht zu befürchten, dass sie einen schneller überholen als man denkt?
    "Das muss man sehen, wie sich das entwickelt – klar."