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Teju Cole: "Blinder Fleck"
Die Beschwörung des Sehens – von Augenlicht und Augenblick

2011 erblindete der in Nigeria aufgewachsene US-Autor und Fotograf Teju Cole zeitweise auf dem linken Auge. Diese Erfahrung hat er in "Blinder Fleck" verarbeitet und präsentiert anhand von Fotos und Kurztexten seine ganz persönliche "neue Art des Sehens" - die dem Leser jedoch einiges abverlangt.

Von Joachim Geil |
    "Blinder Fleck" von Teju Cole
    2011 erblindete Taju Cole zeitweise auf dem linken Auge (Verlag Hanser Berlin/imago/Leemage)
    Nein, man muss sich ganz alleine aufmachen, um dieses Buch zu bereisen. Um mit diesem Buch die Welt zu bereisen, die Welt des Teju Cole – und schließlich die eigene Welt im Kopf. "Blinder Fleck" heißt es. Teju Cole, der seit seinem viel beachteten Romandebüt Open City im Jahr 2011 als großer Wanderer zwischen den Genrewelten gefeiert wird, hat folgerichtig ein Reisebuch im ungewöhnlichsten Sinne des Wortes geschaffen. Eine Wort-Bild-Meditation über das Sehen, das Nicht-Sehen, das Sagen, das Nicht-Sagen, das Stehen und das Bewegen, kurz gesagt: über das sichergeglaubt Sichtbare und das unzweifelhaft Ungesehene.
    Fotografien aus drei Jahren Reisen um die Welt
    150 Fotografien, die Cole in drei Jahren auf Reisen rund um die Welt so scheinbar zufällig wie traumwandlerisch treffsicher aufgenommen hat, stehen Seite an Seite mit jeweils einem kurzen Text. Darüber ein gemeinsamer Ortsname. Wort und Text begleiten einander nicht einfach, denn wir haben hier keinen illustrierten Essay vor uns, auch keinen kommentierten Bildband.

    Cole ist Kunsthistoriker, Schriftsteller und Bildender Künstler. Er ist ein Fotograf, der mithilfe der analogen Aufnahme sein Gedächtnis erweitert und den Blick festhält. So ist ein klassisches und doch ungewöhnliches Künstlerbuch entstanden, mit dem man durch die Welt flanieren kann wie der Protagonist Julius aus "Open City" durch New York oder Brüssel. Nur sind hier die Orte zahlreicher, diverser und die Verknüpfungen aus Gesehenem und Gedachtem schier unermesslich oder eben sehr persönlich, denn "Blinder Fleck" ist ein autobiografisches Buch, auch für jeden, der es liest. Cole erlitt kurz nach seinem Erfolg mit "Open City" eine papilläre Vaskulitis, eine Gefäßblutung in der Netzhaut.

    "An dem Morgen damals im Frühjahr 2011, als ich aufwachte und auf einem Auge blind war, dem Morgen, als das Mydriatikum die Sicht des anderen Auges sabotierte, war mit meinen Beinen eigentlich alles in Ordnung. Und trotzdem konnte ich kaum laufen. Winkel und Gleichgewicht waren Glückssache. Ich schwankte, ich stolperte. […] Eine Schwächung des einen Sinnes kann zur Mehrbelastung des anderen führen oder (was häufiger vorkommt) zum Gegenteil: Der Ausfall des einen Sinnes führt zur Arbeitshypotrophie eines anderen."
    Mit intuitiv-poetischem Blick das Nicht-Sichtbare erfassen
    "Blinder Fleck" setzt eine gewisse Bereitschaft voraus, die Bereitschaft, ungesehen auch das in den Blick zu nehmen, was zum Gedächtnis eines Ortes gehört. Die Bilder sind an Orten entstanden, die wiederum mit jenen Themen aufgeladen sind, die Cole stets leidenschaftlich umtreiben. Da geht es nicht nur um das Sehen selbst, sondern auch immer darum, wie Menschen andere gesehen haben und miteinander umgegangen sind. Es geht um Sichtweisen, die beispielsweise zu Gewalt, Unterdrückung und Ausgrenzung geführt haben. Ein Thema wie Sklaverei taucht nicht nur in einem Foto aus Brooklyn rund um die Bewegung "Black Lives Matter" auf. Auch in Vals im schweizerischen Kanton Graubünden, wo Kinder aus ärmlichen Verhältnissen noch bis vor dreißig Jahren auf Bauernhöfen systematisch "verdingt", also versklavt wurden.

    Wir begeben uns auf die Reise, allein mit dem Gepäck aus unserem Bildgedächtnis, den Erinnerungen und der Fähigkeit, mit unserer Vorstellungskraft Dinge zu assoziieren, Bilder aufzurufen und Gedanken zu verknüpfen. So begegnen wir Coles Gleichgesinnten, von ihm verehrten Künstlern wie Dürer, Caravaggio oder Sophie Calle, Filmemachern wie Chris Marker und Alfred Hitchcock, Schriftstellern wie Emily Dickinson, Tomas Tranströmer oder John Berger, dem auch das Buch gewidmet ist. Wir begegnen aber ebenso den Wunden all der Orte, an die Cole gereist ist und in die er wie der ungläubige Thomas seinen Finger legt. Sehen bedeutet nämlich immer auch Zweifel und Selbstvergewisserung.

    Die Versehrung des eigenen Blicks durch die kurzzeitige Erkrankung markiert bei Teju Cole eine Wiedergeburt seines Bewusstseins, seines Umgangs mit dem Sehen, dem Nicht-Sehen und dem inneren Auge.
    Der beobachtende Junge am Kongo
    In der Bildfolge seines Buches kehrt er immer wieder an einzelne Orte zurück, oft mit einem Motiv, das in unmittelbarer Nähe zu einem anderen aufgenommen wurde, nur aus neuem Blickwinkel. Am auffälligsten und geradezu als Veranschaulichung seines Konzeptes hat er dies mit den beiden Bildern von Brazzaville im Kongo getan. Man sieht das identische Motiv an zwei Stellen im Buch. Es zeigt einen afrikanischen Jungen, der sich vor dem Hintergrund eines Flusses an der roten Stange eines Geländers festhält. Nur durch Unterschiede in Kontrast und Belichtung ergeben sich zwei Sichtweisen. Ist das Gesicht des Jungen im ersten Foto einfach nur eine schwarze Fläche, so sind im zweiten die Gesichtszüge zu erkennen: gerötete Augen, unklar ob vom Widerschein der roten Stange oder vom Weinen, jedenfalls ein gesenkter Blick, ob traurig, ob versonnen, ob müde oder wissend, bleibt zunächst unklar. Cole, der häufig auf Motive christlicher Ikonografie verweist, verbindet das erste Bild im Text mit Christus und Christophorus. Beim zweiten Bild, dem letzten des Buches, ist der Kontext ein ganz anderer:
    "Bei der Vorbereitung dieses Bands studiere ich noch einmal die Aufnahme von dem Jungen am Kongo. "Seine Augen verschwinden", hatte ich geschrieben. Aber plötzlich sehe ich bei geringfügig veränderten Einstellungen sein Gesicht, seine Augen. Das Dunkel ist nicht leer. Es ist Information im Wartezustand.
    Ende des 19. Jahrhunderts ergaben sich die Dörfer am oberen Kongo nach Hunderten von Jahren Druck vonseiten der europäischen Kolonisten den Invasoren. Als Reaktion auf die zivilisatorische Krise wurden immer größere Minkisi-Ritualfiguren geschnitzt, wurden aus Miniaturen mannshohe Machtfetische. Über jedes Dorf wachte der Nkisi und wehrte den bevorstehenden Zusammenbruch ab, »sprungbereit«, wie die Forscher meinten, und "tief nachdenklich". […] Dieser Junge ist doppelsehend. Er hält Ausschau nach außen und schaut auch, am Rande der Krise, hinein, nach innen."
    Weltumspannend und ortsgebunden zugleich
    Weltumspannend und ortsgebunden zugleich sind die Bilder und Texte in ihrem poetischen Miteinander. Blinder Fleck erzählt in der sehr gelungenen Übersetzung von Uda Strätling Geschichten von augenblicklichen Freuden wie von großen nachhallenden Wunden und ermöglicht ein konzentriertes Reisen im Geist, nicht esoterisch, sondern mit politischer und historischer Aufmerksamkeit gegenüber dem Sehen als Handlung des Wissens.
    Teju Cole, "Blinder Fleck".
    aus dem amerikanischen Englisch von Uda Strätling
    und mit einem Vorwort von Siri Hustvedt
    Verlag Hanser Berlin. 235 Seiten, 38,00 Euro.