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Telegram-Kanal "Nexta"
Wo sich der Protest von Belarus organisiert

Für unabhängige Medien ist es schwer, über die Gewalt gegen Demonstranten in Belarus zu berichten. Deshalb ist der Messengerdienst Telegram, sonst auch bekannt als digitale Heimat von Rechten, in den Fokus gerückt: Dort informieren und organisieren sich Millionen im Kanal "Nexta Live".

Florian Kellermann im Gespräch mit Mirjam Kid |
Der Telegram-Kanal "Nexta Live" auf einem Computerbildschirm
Auf dem Telegram-Kanal "Nexta Live" dokumentieren Gegner von Präsident Lukaschenko unter anderem die Polizeigewalt gegen Demonstranten in Belarus (Deutschlandfunk / Michael Borgers)
Was für ein Kanal ist "Nexta Live"? Welche Informationen werden dort geteilt?
Auf "Nexta Live" gibt es einerseits Aufrufe, zum Beispiel zu Demonstrationen, oder wie zuletzt, zum Generalstreik. Und es werden Informationen geteilt, die in der Regel abbilden, was gerade irgendwo in Belarus passiert ist. Meistens ist das ein Foto oder ein Video – und dazu ein kurzer Text, der erklärt, was zu sehen ist oder auch sagt, wo das Gezeigte gerade stattgefunden hat.
Es handelt sich also um eine Mischung aus Journalismus und Unterstützung für Regimegegner. Und das geht an (aktuell) 1,7 Millionen Abonnenten, die der Kanal hat – also eine enorme Zahl für ein Land mit neun Millionen Einwohnern
Welche Bedeutung hat "Nexta Live" für die Proteste in Belarus?
"Nexta Live" hat sich einerseits zum wichtigsten Informationen-Medium entwickelt – und andererseits auch zum wichtigsten Instrument, mit dem sich die Protestierenden koordinieren. Dem Informationskanal sind nämlich auch noch etliche Chat-Kanäle zugeordnet, mit bis zu 100.000 Mitgliedern, auch für verschiedene Regionen des Landes.
Und: Der Kanal funktioniert trotz der Internetblockade, wenn auch häufig in relativer schlechter Qualität. Es passiert immer wieder, dass die Menschen in Belarus dann die Fotos und Videos nicht sehen können, die über den Kanal verbreitet werden, aber die kurzen Texte dennoch sichtbar sind.
Warum ist nur Telegram nicht von den Störungen betroffen?
Das liegt daran, wie der Messenger-Dienst technisch gestaltet ist. Er bietet eine End-zu-End-Verschlüsselung, das heißt, es ist nicht nachvollziehbar, woher eine Nachricht gesendet wurde. Deshalb hat Russland jahrelang versucht, Telegram zu unterbinden – und ist letztendlich damit gescheitert.
Weißrussland oder Belarus?
Belarus oder Weißrussland? Viele Menschen hierzulande sind unsicher, wie das Land denn nun wirklich heißt. Noch bei den Olympischen Spielen hieß es Weißrussland – nun taucht immer öfter die Bezeichnung Belarus auf.
Wer steckt hinter dem Kanal?
Der Blogger Stephan Putilo hat ihn gegründet und betreibt ihn aus Polen. Der 22-Jährige hat schon als Schüler Videos online gepostet mit Kritik gegenüber Präsident Lukaschenko, zum Beispiel in Spottliedern. So hatte er etwa bei der Wahl vor fünf Jahren Lukaschenko mit einem abgefahrenen Autoreifen verglichen. Und schon damals, als Schüler, hatte er deshalb Besuch von Mitarbeitern des Regimes bekommen.
Nach der Schule hat Putilo dann ein Studium in Warschau aufgenommen. In Polen gibt es ein Stipendienprogramm für Belarussen. Und von hier aus hat er seinen Youtube-Kanal weiterentwickelt. Richtig bekannt wurde er im vergangenen Jahr mit einem kritischen Film anlässlich 25 Jahren, die Lukaschenko damals an der Macht war. Das war eine Zusammenstellung von weitgehend bekanntem Material, aber in einer Form aufbereitet, die auch junge Leute angesprochen hat. Anfang 2020 hat Putilo dann beschlossen, tagesaktuell zu arbeiten.
Erhält Putilo Unterstützung?
Den Telegram-Kanal betreibt Putilo nicht alleine, sondern mit einem Redaktionsteam, das er inzwischen zusammengestellt hat und das aus insgesamt vier Personen besteht. Öffentlich bekannt ist vor allem noch der Name von Chefredakteur Roman Protasewitsch.
Die Redaktion erhält laut Protasewitsch derzeit eine Flut von Nachrichten von Nutzern, vor allem nachts seien es Hunderte pro Minute. Diese werden dann über Telegram verarbeitet. Die Redaktion versuche auch, die Nachrichten zu überprüfen, heißt es, aber das ist natürlich nur sehr eingeschränkt möglich. Deshalb gibt es auch Kritik von belarussischen Journalisten, die sagen: Die Arbeitsweise von "Nexta" ist nicht seriös, es werden zu viele Fehlinformationen verbreitet.
Proteste ohne Pressefreiheit
Alexander Lukaschenko bleibt Präsident von Belarus – doch dieses Mal lehnen sich Tausende gegen ihn auf. Dabei gibt es im Land selbst kaum noch Medien, die frei berichten könnten. Denn auch für internationale Journalisten hat sich die Lage weiter verschärft.
Wer finanziert das Projekt?
"Nexta" gibt an, sich über Spenden zu finanzieren. Eine glaubwürdige Erklärung: Alleine in den letzten Tagen haben die Belarussen eine halbe Million Euro gespendet, um denen zu helfen, die bei den Kämpfen verwundet wurden. Sie sind also durchaus bereit, oppositionelle Projekte finanziell zu unterstützen.
Gibt es neben "Nexta" noch weitere, ähnliche Initiativen?
Es gibt auch viele andere Kanäle, vor allem im Messengerdienst Telegram, allerdings haben sie weniger Abonnenten. "Nexta" hat sich hier zur wichtigsten Quelle für die Protestierenden entwickelt.