Journalisten sind nicht so gern gesehen auf den Fluren der Intensivmedizin der Berliner Charité, aber wenn es darum geht, den Visitenroboter vorzustellen, macht Claudia Spies eine Ausnahme. Professor Spies, eine zierliche Dame mit einem – selbst unter der Mund-Nase-Maske gewinnenden Lächeln, leitet die Intensivmedizin an der Berliner Klinik.
"Die Mehrheit der Patienten profitiert sehr davon, weil man eben natürlich – wie eine Art Zweitmeinungsverfahren – einen Vorteil hat, wenn ein gemeinsames Gremium drum kümmert und wenn natürlich wie jetzt, wo es so akut ist und Wissen so schnell generiert wird und wo auch Wissen so schnell anzuwenden ist, wenn man das wirklich gemeinsam auch steuern kann."
Der Oberarzt an ihrer Seite – zivil im dunkelblauen Hemd – heißt Björn Weiß. Der Intensivmediziner betritt ein winziges Zimmer voller Rechner und Bildschirme und stellt eine Video-Verbindung her – vom Charité-Campus in Berlin Wedding zum Krankenhaus Havelhöhe in Berlin-Spandau.
-"Hallo, Herr Esposito. Na?"
- "Hallo!"
- "Hallo, Herr Weiß."
Roboter wird in Berlin gesteuert und geht in Havelhöhe mit zur Visite
Auf dem Bildschirm grüßt Fabrizio Esposito, Intensivmediziner im Krankenhaus Havelhöhe, im azurblauen Kittel. Dort erscheint Charité-Arzt Weiß als das Gesicht eines Roboters. Er sieht aus wie eine mannshohe weiße elektrische Zahnbürste, auf der anstelle des Bürstenkopfes ein Bildschirm befestigt ist. Darauf erscheint der Kopf von Björn Weiß. Der navigiert den Roboter von der Charité aus.
- "So, jetzt fahren wir hier ins Zimmer des Patienten rein. Der weiß auch Bescheid, dass wir kommen."
- "Hallo! Guck mal, wer da ist!"
- "Hallo!" – "Hallo."
- "Er weiß Bescheid, dass Sie heute da sind."
- "Ah wunderbar. Hallo. Guten Tag. Wie geht’s Ihnen heute?"
- "Er hat einen Brustwickel gerade bekommen von Schwester Conny."
- "Ah, sehr gut."
- "Hi!"
- "Es geht ihm sehr gut. Er ist entfiebert."
Björn Weiß sieht auf dem Bildschirm einen älteren Herrn, der fast völlig reglos auf dem Rücken liegt. Er leidet an COVID-19. Seit vier Wochen wird er auf der Intensivstation behandelt, wird immer noch beatmet.
- "Und Schmerzen?"
- "Haben Sie Schmerzen?"
- "Nein."
- "Gar nicht."
- "Das sieht nicht so aus. Das ist ja schon mal sehr gut."
Der Patient im fernen Krankenhaus Havelhöhe kann nicht mehr sprechen. Dr. Esposito, seine Schwestern und Pfleger deuten seine Mimik, so gut sie können. Am Ende der Zeit auf der Intensivstation bekommt der Mann Ergo-, Logo-, Musik- und Physiotherapie. Selbst das Schlucken muss er neu lernen.
In 30 Krankenhäusern fahren Roboter mit zu den Patienten
Bei der Visite mit dem Roboter lernen alle: die Spezialisten in der Charité wie auch die Ärzte in den 30 Berliner Krankenhäusern, in denen die Roboter zu den Patienten fahren.
"Was definitiv was ganz Neues ist, ist der Anwendungsfall, nämlich Wissenschaft und evidenzbasierte Medizin, also das, was dem Patienten nachweislich nutzt, ans Patientenbett zu bringen, und zwar jeden Tag."
In der Hochphase der Coronainfektionen, berichtet Oberarzt Björn Weiß, machten die Experten bis zu 400 Fernvisiten wöchentlich per Roboter.
"Was wir jetzt nutzen konnten, und das ist das, was einfach auch sehr faszinierend ist, dass wir die Geschwindigkeit der Wissenschaft nachhalten konnten am Krankenbett. Das ist ein Riesenvorteil, den Sie ja sonst nicht leisten können."
Jeden Tag entstehe während der Coronaepidemie neues Wissen, sagt Professor Spies, die Chef-Intensivmedizinerin der Charité. Dieses Wissen könne man mithilfe des Visitenroboters sofort in allen Kliniken anwenden. Umgekehrt sammeln die Charité-Ärzte in kürzester Zeit eine Fülle an Erfahrungen mit sehr vielen Patienten.
- "Die Ehefrau war auch da?"
- "Die Ehefrau war seit ein paar Tagen nicht da. Weil sie ist Covid positiv."
- "Oh."
- "Und dann habe ich noch eine Frage: Wie ist denn das jetzt mit der Mobilisation. Hat er jetzt schon draußen gesessen?"
- "Er hat allein seine Zähne geputzt."
Direkter Austausch hilft den Ärzten
Seit Wochen tauschen sich Dr. Esposito in Havelhöhe und Dr. Weiß von der Charité über Fachfragen aus wie das Sedierungskonzept, die Delirprophylaxe, das Verabreichen von Antibiotika und die Beatmungsstrategie. Weiß ist auch der direkte Dialog mit dem Patienten wichtig – wenn er möglich ist. In diesem Fall liegt der Patient so, dass er den Roboter und damit Björn Weiß bislang noch gar nicht bemerkt hat.
- "Sagen Sie mal, können Sie mich sehen?"
– "Nee."
– "Na, nicht so richtig."
– "Hallo, winke, winke."
– "Können Sie winken?"
– "Ah!"
- "Sehr gut, hallo."
– "Wie geht es Ihnen heute? Ist alles in Ordnung?"
Ob der Patient schon ein Vertrauensverhältnis zum Roboter und damit zu Dr. Weiß aufgebaut hat, lässt sich noch nicht erfahren. Der Arzt am anderen Ende, Fabrizio Esposito, ist jedenfalls zufrieden.
"Herr Weiß hat fast durchgehend immer die Visite mitgemacht. Mehrere Kollegen, die sehr erfahren waren, auch. Und die haben auch die Erfahrungen von den anderen Kliniken eingebracht. Und da haben wir uns ein bisschen ausgetauscht und ein bisschen versucht, den Komplikationen ein Schritt voraus zu sein. Und nicht warten, dass etwas passiert."
Der Roboter ermögliche den Charité-Experten und den Medizinern in der Peripherie in Pandemiezeiten, gemeinsam und im Netzwerk zu lernen, sagt die Intensivmedizin-Chefin Spies.
"Weil natürlich jeder, wenn er es alleine lernen muss, einfach deutlich länger Zeit braucht als wenn die Gruppe zusammen lernt – auch in so einer akuten Pandemie."
Instrumente wie der Visitenroboter seien es, meint Spies, die der deutschen Medizin in der Pandemie einen Vorsprung verschafft hätten.
Die Visite im Krankenhaus Havelhöhe ist zu Ende. Dr. Björn Weiß steuert den Roboter aus der Ferne zurück über die Flure – und lässt sich ein bisschen helfen.
- "Ich fahre mal wieder da vor. Parken Sie mich ein?"
- "Bis dann. Tschüss. Ciao Ciao."