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Tempel, Trümmer und Theater

Im "Osterspaziergang" geht es am Ostermontag in die westliche Türkei, in den küstennahen Ägäissteifen: ein uralter hellenistischer Siedlungs- und Kulturraum, der auch, als er ins römische Weltreich okkupiert wurde, seine größte Blüte erreichte.

Von Franz Nussbaum |
    Das große Halbrund des Theaters, ich schätze rund 10.000 Sitzplätze, auf 50 ansteigenden Reihen und Rängen. Es ist –damals- in einen Berg reingeschnitten worden. Und der Gedanken, wie viele Sklaven und Facharbeiter unter Anleitung von Großbaustellen-Architekten vor 2000 Jahren diesen Hügel abrutschsicher aufgeschnitten haben ... ? Ohne Pfusch am Bau, ohne verramschte Bleifüllungen, mit denen man tragende Säulenscheiben etwas erdbebensicher ineinander verankern konnte. Vor rund 100 Jahren besucht der Berliner Archäologe Walther von Diest dieses Theater von Nysa und notiert:

    "Über die stark zerstörten, vom einstigen Marmorbelag fast ganz entblößten Sitzreihen hinweg erklettern wir den obersten Rand. Mit Begeisterung rühme ich dies erste Schauen über die heutige Landschaft. Zu unseren Füßen wie Dornröschen unter Blüten und Dickicht verborgen die seit einem Jahrtausend schlafende Stadt."

    Und über den Bühnenraum hinaus öffnet sich quasi als Bühnenbild und als Naturkulisse der Blick in das Flusstal des Mäanders. Und man hatte wohl damals sowohl eine Seele- und auch ein Händchen dafür, für die Verbindung von Kunst und Kultur und Natur. Das war eine philosophische Einheit. Nysa liegt also auf einer Anhöhe. Und der Berliner Archäologe weiter:

    "Das weite herrlich prangende Mäandertal. Des Stromes vielgewundenes Silberband zieht sich durch die immergrünen Fluren, hinter denen am jenseitigen Ufer die Schneehäupter des Kyon-Gebirges stolz emporsteigen"

    Über 1100 Meter hoch. Und der Mäander schlängelt sich in vielen Windungen noch 80 Kilometer weiter, bis er in die –damals- breite Mittelmeerbucht der antiken Hafen- und Weltstadt Milet einmündet. Der Berliner Archäologen Walther von Diest reist damals per Schiff über Izmir/Smyrna an.

    "Im März 1907 unternahm ich mit meinem ältesten Sohne, nach seinem wohl bestandenen Abiturium eine Studienreise nach Griechenland als Schlussstein für das Gebäude seiner humanistischen Erziehung. Wir blieben, nach unserer Ankunft, noch bis Mittags an Bord und speisten noch mit unserem Generalkonsul Dr. Mordtmann, der zur Begrüßung des ebenfalls an Bord angelangten Generaldirektors der Preußischen Museen Dr. Bode zugegen war."

    Das mag sich heute etwas gestelzt anhören, man speist noch an Bord. Interessant ist der Name "Dr. Wilhelm Bode", Generaldirektor der Preußischen Museen. Nach ihm ist das heutige Bodemuseum in Berlin benannt. Und Bode kommt nicht wegen der Baumblüte hierher, der sucht und stochert, nachdem der Pergamonaltar schon seit 1885 in Berlin ist, stochert er nach weiteren Sensationen für seine Museen. Es könnten -mit Fragezeichen- Bildhauer des berühmten Pergamonaltars auch im reichen Nysa gearbeitet haben? Fragezeichen. Hier wurde damals sehr gutes Geld verdient. Und diese Studienreise "Vater und Sohn von Diest", es ist so schön formuliert: als Schlussstein der humanistischen Erziehung, das werden wir noch einmal aufgreifen.

    Wenn wir heute hier in diesem kaum ausgeschilderten Nysa eintreffen, sehen Sie nichts. Natürlich sehen wir was, Trümmer, eine von Bachläufen tief eingeschnittene Landschaft, Säulensockel, das Theater. Am Theater verwitterte Friese, Figuren. Sie sollen den Dionysos-Kult darstellen. Im griechischen Götterkabinett ist Dionysos, der Sohn des Zeus, für die Herstellung und Vermarktung des Weins zuständig- und für alles, was mit Allotria, Ekstase, rauschhaft, und orgiastisch zu tun hat. Salopp, für "Wein, Weib und Gesang", zusätzlich Fußball und Karneval.

    Wir sehen undefinierbare Mauerreste unter derzeit blühenden Bäumen. Wieselige Eidechsen nehmen ein Sonnenbad auf den Theaterstufen und warten auf die nächste Vorstellung. Walther von Diest notiert, der gesamte kostbar bearbeite Marmor der reichen Stadt Nysa ist –später- zu Kalk für die heutigen Orte der Umgebung verbrannt worden. Also suchen wir nicht weiter nach stummen Steinen, sondern blättern nun in den Reisenotizen des früheren Studenten Strabon. Er hat zum großen Glück dieser Ruinenstadt einiges als Geschichtsschreiber und Reiseschriftsteller in seiner 17-bändigen "Geographica" festgehalten. Wir lesen über Strabon:

    "Er stammt aus einer begüterten Familie, ist ungefähr 63 v. Chr. geboren und rund 70 Jahre alt geworden. Gegen 50 v. Chr. studiert er in Nysa und lebt später, unabhängig von seinen vielen Reisen, längere Jahre in Alexandrien und Rom. Strabon schreibt seine Bücher für den gebildeten Laien, besonders für Persönlichkeiten in politischen Stellungen. Als "oft zitierte Quelle" ist Strabon dagegen erst tausend Jahre nach seiner Zeit, auch in der Vatikanischen Bibliothek bekannt geworden"

    Also, als 13-Jähriger tippelt oder reitet der junge Strabon, wahrscheinlich mit Dienerschaft, 900 Kilometer quer durch die heutige Türkei nach Nysa. 900 Kilometer, das ist ungefähr von Hamburg bis Garmisch-Partenkirchen, 900 Kilometer, damit der Junge einen anständigen Bildungsabschluss machen kann. Das heißt Nysa ist zu jener Zeit eine bekannte Adresse, wenn es um ein gutes Studium geht. Campus und Karriere. Der Jüngling mag als Hausgast eines Lehrers aufgewachsen sein. Wir kommen inzwischen zur Agora, dem Marktplatz. Michael Kleu, ein junger Althistoriker:

    "Die Agora müssen wir uns als das politische Zentrum vorstellen, weniger ein Markt für Kopfsalat und Weintrauben. Ein Markt für Meinungen, für die tägliche Diskussion der führenden Leute, unter imposanten, schattigen Säulengängen. Die prächtige, marmorgetäfelte Visitenkarte einer reichen Stadt. Umgeben ist die Agora auch von palastartigen Privatbauten, Villen. Und dass Nysa "reich" war, beschreibt uns Strabon am Beispiel eines - im heutigen Sinne- Millionärs."

    "Pythodoros war im Besitze eines königlichen Vermögens von mehr als zweitausend Talenten...und immer sind Leute aus ihr ... und immer sind Leute aus ihr ... .auch die höchsten Würdenträger der Provinz"

    Und dieser Pythodoros steht, ebenso wie die Stadt Nysa, in den Wirren und Bürgerkriegen nach Cäsars Ermordung auf der richtigen politischen Seite. Das bringt ihm und dem Ort ... Steuerbefreiung, Sonderrechte, Belohnung mit Posten und Ämtern.

    Und in Nysa überschneiden sich, indirekt auch die Wege des Abiturienten aus Berlin, der im Schlepptau seines Vaters hier den "Schlussstein einer humanistischen Erziehung setzen will", und der des jungen Strabon. Das ist in der Zeit, als Cäsar gerade unser Rheinland erobert hat. Strabons Familie erwarten wohl in Nysa wegen der hoch geschätzten Lehrer (auf die kommen wir noch) eine glänzende Ausbildung. Und Strabon berichtet uns auch über den Plutontempel, etwas höher gelegen, außerhalb des Stadtzentrums.

    "Einem Tempel Plutons und der Kore und dem Charonion, einer oberhalb des Hains gelegenen Grotte, die erstaunliche Eigenschaften besitzt. Sagt man doch, dass auch die Kranken, die sich der Heilung durch diese Götter hingeben, dorthin kommen und bei der Grotte bei den darin erfahrenen Priestern logieren, die sich für sie in der Grotte schlafen legen und auf Grund ihrer Träume die Behandlung verordnen "

    Es war eine Grotte mit schwefelhaltigen Dämpfen. Nun übersetzen wir uns das etwas. Diese Heilstätte Nysa und der Plutontempel sollen damals den Ruf einer heutigen Wallfahrt nach Lourdes gehabt haben. Monika Tholen:

    "Ein Plutontempel kann nur in der Nähe eines Grotteneingangs erbaut werden. Denn Pluton ist der Gott der Unterwelt. Pluton ist aber mythologisch kein verteufelter Finsterling, keiner, der da unten ein Höllenfeuer betreibt. Pluton ist positiv besetzt, ist auch der Gott des Reichtums, im Sinne von Bodenschätzen, Gold, Silber, Erzen. Er ist aber auch, etwas pointiert gesagt, der Gott der Besserverdienenden. Wir kennen ja den Begriff "Plutokratie", die politische Einflussnahme einer Gruppe, deren Macht auf Reichtum, also Kapital beruht."

    Kabarettisten nennen das heute auch pointiert "Mövenpick-O-kratie". Am Beispiel Nysa kommt hinzu, alle antiken Tempel, ob Zeus, Athene, Artemis, Saturn, alle haben auch die Funktion einer Geldbank, die die Opferspenden an den Gott verwaltet und investiert. Wer also zu einem Plutontempel wallfahrtet, in einem Orakel Rat und Hilfe sucht, der muss auch etwas springen lassen. Deswegen führt -wie Strabon beschreibt- eine heilige Prozessionsstraße aus dem Stadtzentrum zu diesem Heiligtum und zu der Grotte hoch.

    Und auf dieser Prozessionsstraße inszeniert sich der (neu-) reiche Wall-fahrer, er zeigt sich und seine Opfergaben, das können Goldbarren, auch 50 Tiere, Stiere sein. Er strunzt mit seinem Habitus, zeigt sich im Festgewand, vielleicht auf einem Festwagen, vier- oder sechsspännig. Pferdestärken haben immer schon imponiert. Und er mag als Zahlungsmittel oder Souvenir auch Münzen mit einem Nysa-Motiv mitgeführt haben. Eine solche Münze habe ich in Fotokopie. Und was die Abbildung zeigt, beschreibt Walther von Diest, der das antike Geldstück gefunden und registriert hat:

    "Sechs marschierende Burschen tragen einen Stier. Vorn schreitet ein weiterer, der einen um die Hörner des Stieres geschlungenen Strick trägt."

    Und Strabon, der das gesehen hat.

    "Dann (...) nehmen um die Mittagszeit die Jungen, die Epheben aus dem Gymnasion, nackt und mit Öl gesalbt einen Stier auf die Schulter und bringen ihn im Laufschritt hinauf zu der Grotte; dort lassen sie ihn los, er geht etwas weiter hinein, fällt zu Boden und haucht sein Leben aus."

    Diese Zeremonie mit dem Opferstier gehört zu einem jährlichen mehr-wöchigen Tempelfestival. Solche Spiele, Tempelfeste wurden bereichert mit Sportwettkämpfen. Das Stadion und das Gymnasion, wo also die jungen Athleten beispielsweise Ringkämpfe bestreiten, liegt –drüben- in der Nähe des Theaters. (Fundamente). Meist gehören zu solchen Spielen auch Wettkämpfe von Dichtern, Sängern ("Nysa sucht den Superstar").

    Auch erweitert um Rhetorikwettbewerbe, natürlich auch Theatervorführungen. Die Wettbewerbsteilnehmer bekommen ein Antrittsgeld, freies Logis. Und es sind lukrative Preise ausgeschrieben, gesponsert von den großen Familien der Stadt.

    Stellen wir uns bitte auch die Goldschmiede, die exquisiten Schuh- und Stoffhändler vor, die bei diesen Festwochen ihre Kreationen in noblen Boutiquen gegenüber dem Theater oder in der Nähe des Marktplatzes präsentieren. Stellen wir uns auch alle Formen des Wallfahrtgeschäftes vor. Hotellerie, mietbare Villen, Zeltplätze für einfache Besucher. Der bibelbekannte Apostel Paulus soll ein mobiler Zelteverkäufer gewesen sein und solche Festivalorte besucht haben. Und Nysa ist zudem ein hoch gerühmter Weinort.

    Dionysos lässt grüßen. Ob der junge Strabon, mit Öl gesalbt, auch Opfer-Stiere bis zum Höhleneingang schleppt, sagt er uns nicht. Und wir denken noch einmal über die merkwürdige Grotte nach. Strabon:

    "Kranke, die sich der Heilung durch diese Götter hingeben und bei den darin erfahrenen Priestern logieren, die sich für sie in der Grotte schlafen legen und auf Grund ihrer Träume die Behandlung verordnen."

    Diese Behandlung findet wohl mit Hypnose, Psychoanalyse (ist ja so ein moderner Begriff), mit Orakelvorhersage und mit hippokratischen Medizinkenntnissen statt. Schlaftherapie? Und die "Tempel-GmbH", sprich, die Priesterschaft, die von den führenden Familien gestellt wird, verkauft dieses Paket als Heilung durch die herbei gerufenen Götter, herbeigerufen auf Grund der priesterlichen Transmission. Und dieses Geschäft: Grotte, Heilstätte, Orakel, Tempel, Dionysos, Festspiele ... das war "das Kapital" von Nysa. Damit finanziert sich dann auch das Bildungszentrum. Und wieder blättern wir beim Studenten Strabon nach. Er schreibt von den berühmten Männern, den Lehrern aus Nysa, die speziell er erlebt. Unter anderem

    "Aristodemos, den wir ganz jung als hoch betagten Greis in Nysa gehört haben. Und ein weiterer Aristodemos, sein Vetter, der Lehrer des Pompeius Magnus, waren bedeutende Philologen."

    Entwirren wir die uns fremd klingenden Namen. Da sind also zwei Cousins Aristodemos. Und der etwas Ältere ... .aus dem Bildungszentrum Nysa wird als der Lehrer des Pompeius nach Rom berufen. Neben Cäsar ist Pompeius der größte Politiker seiner Zeit. Wir lesen, zusammengefasst:

    "Der dem Pompeius gewährte Zusatz "Magnus" deutet die Ausnahmestellung des römischen Politikers und Feldherrn an. Pompeius steigt außerhalb des römischen Establishments bis zum Konsul auf. Pompeius erobert u. a. Jerusalem, und befreit den Mittelmeerraum von der Seeräuberei, verbündet sich anfangs mit Cäsar, später werden sie Rivalen um die alleinige Macht."

    Also der ältere Cousin aus Nysa ist der Lehrer des Pompeius. Den etwas jüngeren Aristodemos erlebt Strabon persönlich, als alten Mann und ergänzt:

    "Der unsere war auch Rhetor und hielt zwei Lehrveranstaltungen: morgens die rhetorische und nachmittags die philosophische."

    Den jüngeren Aristodemos aus Nysa, den Lehrer des Strabon, den wirbt dieser Pompeius Magnus ab und vertraut ihm die Unterrichtung und Erziehung seiner beiden Söhne an. Nichts unterstreicht den Ruf von Nysa mehr als die beiden "Cousins Aristodemos" in Rom. Auch, wenn ein halbes Duzend weiterer Philosophen aus Nysa historisch bekannt sind. Wie können wir uns eine Philosophie-Vorlesung vorstellen? Monika Tholen zeigt mir eine kleine Kopie eines Raffael Freskos von 1530 aus dem Papstpalast in Rom.

    Raffael zeichnet eine Szene aus dem antiken Athen. Wir sehen würdige, aber wild diskutierende Männer, Philosophen?. Einer steht an so einer Säule und ist umringt von einem Halbkreis junger Leute. Das ist wohl ein "Professor". Er trägt etwas vor. Etwa zehn Schüler hängen sehr gespannt, intensiv an seinem Mund. Die Familien dieser Schüler werden dem Rhetoriker oder Philosophen dafür natürlich auch ein Honorar bezahlt haben. Campus und Karriere.

    Abschließend: Nysa blüht noch lange nach dem Scheitelpunkt des Römischen Imperiums. Dann kommen die Byzantiner, später die Türkvölker und einige Erdbeben. Und irgendwann knipst ein Letzter hier oben, oberhalb des Mäandertales das Licht aus.

    Literatur:

    Walther von Diest: Nysa ad Maeandrum / Strabon: Geographica Bd. XIV.

    Stefan Radt: Kommentare zu Strabons Geographika / Wolf Koenigs: Westtürkei