Christiane Florin: Es war kaum mehr als eine Randnotiz in einer Woche zwischen Terroranschlägen und Parlamentswahl: 130 Imame aus Großbritannien verweigern den Attentätern von London das Totengebet. Solche Handlungen seien nicht mit den edlen Lehren des Islam zu vereinbaren, schrieben sie in einer Stellungnahme. Es gibt inzwischen eine gewisse Distanzierungs- und Distanzierungsforderungsroutine, aber eine solche Aktion ist neu. Mahmoud Abdallah lehrt Islamische Theologie am Zentrum für Islamische Theologie der Universität Tübingen. Herr Abdallah, was bedeutet eine muslimische Bestattung für Gläubige?
Mahmoud Abdallah: Die Bestattung ist für gläubige Muslime - wie in jeder anderen Glaubensgemeinschaft - eine Anerkennung der Glaubensgemeinschaftsmitglieder dieser Person als Mitglied. Sie hat ihre wissenschaftliche und ihre theologische Bedeutung. Die wissenschaftliche Bedeutung ist natürlich, dass die Gemeinde oder die Nachbarn diesen Menschen als Mitglied der Gemeinde anerkennen und Solidarität den Hinterbliebenen zeigen. Was die Theologie angeht: Wir haben hier auch wirklich Überlieferungen, die besagen, wenn einer stirbt und zwei von seinen Nachbarn bezeugen, er war ein guter Mensch, dann kommt er auch ins Paradies, sinngemäß, so ist die Überlieferung. Das heißt, die Bestattungen ist, wenn viele Leute dann auch daran beteiligt sind, ein Signal dafür, er war ein guter Mensch und dafür legen sie auch ein Wort bei Gott ein, wenn man das so sagen kann. Sie beteiligen sich auch an den Bittgebeten auf dem Friedhof der Verstorbenen. Von daher spielt die Bestattung im Islam eine sehr wichtige Rolle, das ist der Abschied vom Diesseits auf dem Weg zum jüngsten Tag.
Florin: Was bedeutet es, wenn nun Imame einem Attentäter die Bestattung verweigern? Wer wird damit bestraft? Der Attentäter oder die Hinterbliebenen?
Abdallah: Es ist im Prinzip eine wichtige Frage. Den Fall kennen wir auch von der islamischen Geschichte. Prinzipiell berichten die Überlieferungen davon, dass sich der Prophet selbst sich distanziert hat von dem Totengebet bei einem, der Selbstmord begangen hat. Er wollte damit signalisieren, dass es nicht erlaubt ist, dass man das nicht machen durfte und er wollte auch ein Signal dafür geben, dass sowas auf das Schärfste zu kritisieren ist.
"Der Prophet verurteilt Selbstmord und Mord"
Florin: Also der Selbstmord ist das Problem, nicht der Mord an anderen?
Abdallah: Nein. Der Mord an einem Menschen - an einer Seele prinzipiell - ist im Islam sehr verpönt. Wir haben ganz klare Koranstellen, die besagen: Wer einen Menschen tötet, wäre er so schuldig, als hätte er die ganze Menschheit getötet. Dadurch macht es ja keinen Unterschied, ob er Selbstmord begeht oder andere Menschen tötet. Nur zu Zeiten des Propheten hatten wir ja noch keine Attentäter zum Glück. Das ist ja eine Fehlentwicklung in der menschlichen Geschichte prinzipiell, wo wir uns alle verteidigen müssen. Aber was die Geschichte überliefert, da ging es damals um Selbstmord und trotzdem auch wenn es um das eigene Selbst geht, fand der Prophet das nicht in Ordnung und hat verweigert und abgelehnt, dass Totengebet zu verrichten. Das ist ein Signal an die ganze Gemeinde, zum Abschrecken, zum Einschüchtern, dass man das nicht macht. Andererseits sind die Hinterbliebenen einigermaßen davon betroffen, weil die Verweigerung der wichtigen Personen, der geistlichen Führer einer Gemeinde, das Totengebet zu verrichten, eine Sanktion ist. Der Verstorbene hat ja nichts davon, nur die Hinterbliebenen. Aber die ganze Gemeinde hat davon etwas, indem man ein Signal gibt, über diese ganzen kritischen Stimmen hinaus auch mit Taten gegen Terroranschläge vorzugehen.
Florin: Aber warum glauben Selbstmordattentäter, dass sie Märtyrer sind, dass sie nach dem Tod besonders belohnt werden und dass ihre Familie stolz auf sie sein kann?
Abdallah: Der Islam ist eine monotheistische Religion wie Christentum und Judentum. Und alle Religionen haben Friedenspotential und Gewaltpotential. Diese Koranstellen, die teilweise das Thema Krieg oder Dschihad thematisieren, sprechen eigentlich von einem bestimmten Kontext. Und diese Koranstellen thematisieren auch diesen Kampf - wenn man so das Wort benutzen möchte - als die Aktion, um sich zu verteidigen. Lange Zeit lebte man damit, dass es selbstverständlich ist, dass eigentlich der Islam eine Friedensreligion ist und würde natürlich in die Lehre auch diese Koranstellen vertreten, damit man argumentieren kann, warum der Islam Friedensreligion ist. Diese anderen Stellen, die kontextuell zu verstehen und zu interpretieren sind, wurden nicht genug thematisiert, und das war für die Radikalen von Vorteil. Weil: Wenn sie diese Stellen selektiv einsetzen für ihre eigenen Ziele, sind die Jugendlichen damit nicht vertraut. Wenn man ihnen sagt, das ist eine Koranstelle und ihnen gleichzeitig verschweigt, wie man diese Stelle versteht und in welchem Kontext sie offenbart wurde, dann ist das eine Falle für sie.
"Wir müssen nicht vor Gott sterben, sondern vor Gott leben"
Florin: Und wird das jetzt stärker thematisiert, zum Beispiel auch bei Ihren Studentinnen und Studenten, in Ihrem Studienfach?
Abdallah: Das Thema prinzipiell ist auf der täglichen Agenda. Ich habe selber mit einem Kollegen der Katholischen Theologie eine neue Schriftreihe ins Leben gerufen, die heißt "Theologie des Zusammenlebens". Wir thematisieren in dieser Reihe auch mit den Studenten und in gemeinsamen Seminaren das Thema, dass wir nicht vor Gott sterben müssen, sondern vor Gott leben müssen. Wir setzen uns auch mit unseren Studierenden kritisch mit diesen Koranstellen auseinander, um ihnen zu zeigen, dass diese radikale These, der Islam sei gewalttätig oder der Dschihad, in dem Sinne, den anderen zu töten, nicht islamisch ist.
Florin: Sie sind selbst auch Imam, haben eine Imam-Ausbildung in Ägypten gemacht. Wenn Sie vor der Frage stünden, soll ich einen Attentäter beerdigen, soll ich für ihn das Totengebet sprechen. Wie würden Sie da entscheiden?
Abdallah: Ich würde mit Blick auf die aktuellen Situationen wahrscheinlich verweigern, das Totengebet zu verrichten, denn wir haben im Islam ein Prinzip, 'das Verteidigen gegen den Schaden ist wichtiger, als einen Nutzen zu holen'. Das heißt, mit diesem Verweigern, und das müssen eigentlich die Imame und die geistlichen Anführer einer Gemeinde machen, kommt das Signal an die ganze Gemeinde. Ich würde an dieser Stelle genau das verweigern, um einfach das Signal an alle Jugendlichen mit einer Handlung zu senden: Das ist nicht islamisch.
Florin: Und, warum glauben Sie, sind es in Großbritannien 130 Imame und nicht 1000 oder mehr?
Abdallah: Dieser Akt ist eine neue Entwicklung in dem Umgang mit Radikalen. Man hat sich lange Zeit damit begnügt, Stellungnahmen zu äußern und das zu kritisieren und zu verurteilen. Es entwickelt sich eine neue Methode, wie man dagegen vorgehen kann, und jede neue Methode braucht am Anfang Zeit zum Überlegen. Man geht am Anfang davon aus, dass man nicht sicher ist, ob man das macht, dann hält man sich lieber zurück. In der Geschichte haben wir prinzipiell keinen einzigen Akt, wo alle auf einmal sich beteiligt haben. Es hat immer Zeit gebraucht, bis alle davon überzeugt sind. Und die Zahl von über 100 Imamen, die mitmachen, ist keine kleine Zahl.
"Attentäter sind auch Opfer der Djihadisten"
Florin: Sie halten das für ein wirkungsvolles Mittel?
Abdallah: Definitiv. Ich muss auch davor warten, das kann sehr mit Bedenken verbunden sein, weil Djihadisten sogar Muslime zu Nicht-Muslimen erklären. Wenn man sich damit begnügt, ist das Problem nicht gelöst. Es kann sein, dass die Djihadisten sagen, die sind eh keine Muslime.
Florin: Das heißt, die Imame, die sich an diesem Aufruf beteiligt haben, leben gefährlich?
Abdallah: Nein. Die leben nicht gefährlich. Aber sie müssen den Akt erklären, warum das so ist. Sie müssen das auch ihren Gemeindemitgliedern erklären. Sie sind als Menschen nicht gefährdet. Sie müssen das Thema zur Sprache bringen, wie man auf Deutsch sagt: Gut, dass wir darüber gesprochen haben. Sie müssen es den Gemeindemitgliedern erklären, damit jeder versteht, woher das kommt. Nicht jeder ist mit der Theologie vertraut.
Florin: Welche anderen wirkungsvollen Mittel der Distanzierung können Sie sich vorstellen:
Abdallah: Ich halte die Distanzierung für ein sehr wichtiges Mittel, allerdings ist es nicht das einzige. Es gibt weitere Mittel, die aber nicht nur den Muslimen auferlegt werden sollten, sondern der gesamten GEsellschaft. Die GEsellschaft darf sich nicht spalten lassen, denn das wäre ein Sieg für die Djihadisten. Muslime und Nicht-Muslime in einer Gesellschaft müssen sich zusammentun, um gegen diese brutalen Taten vorzugehen. Und da ist ein wichtiges Mittel der Dialog auf Augenhöhe, denn die Bekämpfung der Djihadisten ist keine Aufgabe der Muslime allein, auch wenn sie im Vordergrund stehen, sondern der eine der gesamten Gesellschaft.
Florin: Das ist der Eindruck, den Sie haben: Dass die Nicht-Muslime den Muslimen die Schuld zuschieben....
Abdallah: Das ist nicht der Eindruck. Das ist ja das automatische Selbstverständnis. Die Menschen handeln manchmal unbewusst, da muss man immer zur Sprache bringen und thematisieren, dass wir gemeinsam eine Gesellschaft bilden, dass jeder von uns ein Teil dieser GEsellschaft ist und dass einer ein Opfer der Djihadisten ist: Attentäter sind auch Opfer der Djihadisten.
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