Bei dem Terroranschlag in einer Konzerthalle nahe Moskaus kamen über 130 Menschen ums Leben, mehr als 150 wurden verletzt. Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) bekannte sich zu dem Angriff.
Machthaber Putin meldete sich nach dem Terrorangriff erst spät zu Wort – und brachte die Ukraine als vermeintlichen Rückzugsort für Terroristen ins Spiel. Dies könnte von dem Versagen der Sicherheitskräfte ablenken, mutmaßen Russland-Korrespondenten und Sicherheitsexperten. Wird diese Taktik aufgehen?
Was in der Konzerthalle bei Moskau passiert ist
Am Abend des 22. März 2024 sollte in der Crocus City Hall im Moskauer Vorort Krasnogorsk ein Konzert der Band Piknik stattfinden. Mehrere Hundert Menschen waren dafür in den Konzertsaal gekommen. Doch kurz bevor die Show losgehen sollte, drangen mehrere Bewaffnete ein und eröffneten das Feuer.
In der Halle brach ein Großbrand aus. Riesige Rauchwolken stiegen über dem Gebäude auf, das Dach stürzte ein. Feuerwehrleute kämpften nachts über Stunden gegen die Flammen. Am Morgen konnte der Brand schließlich eingedämmt werden.
Bei dem Terrorangriff kamen über 130 Menschen ums Leben, es gab über 150 Verletzte.
Es wurden vier Hauptverdächtige sowie weitere Männer festgenommen. Die vier Hauptverdächtigen seien in der Region Brjansk im Süden des Landes aufgegriffen worden, berichtete die Staatsagentur Tass. Brjansk grenzt sowohl an die Ukraine als auch an Belarus.
Was für den IS als Drahtzieher des Terrorangriffs spricht
Die IS-Gruppierung „Khorasan“ hat sich zu dem Anschlag bekannt, ein afghanischer Ableger des Islamische Staats (IS). Die Terrormiliz schrieb im Onlinedienst Telegram, Kämpfer hätten „eine große Zusammenkunft am Rande der russischen Hauptstadt Moskau“ angegriffen. Experten halten das Bekennerschreiben für echt. Der IS veröffentlichte außerdem ein Video eines der mutmaßlichen Täter – ein weiteres Indiz dafür, dass die Terrororganisation hinter dem Angriff steckt.
Bei „IS-Afghanistan“ handle es sich um eine „Zweigstelle des IS“, bei der sehr viele Zentralasiaten kämpften, beispielsweise Tadschiken, Kirgisen und Usbeken, sagt Islamwissenschaftler und Terrorexperte Guido Steinberg. Er sieht noch weitere Hinweise für die Täterschaft des IS „Khorasan“: Zum einen habe die Organisation das russischsprachige Personal, das sich in dem Vorort Moskaus auskennt. Zum anderen sei Russland für den IS ein wichtiges Ziel. Denn das Land hat an der Seite des Assad-Regimes den IS in Syrien bekämpft.
Die Terrormiliz IS hat Russland bereits mehrfach ins Visier genommen. Sie reklamierte mehrere Anschläge im Kaukasus und anderen russischen Regionen in der Vergangenheit für sich.
Bereits Anfang März haben die US-Amerikaner Moskau vor möglichen Anschlägen des „IS-Afghanistan“ gewarnt. Machthaber Wladimir Putin tat dies als westliche Provokation ab.
Wie Putin versucht, die Ukraine ins Spiel zu bringen
Auch wenn viel für den IS als Drahtzieher spricht, versucht das Putin-Regime, die Ukraine mit dem Terroranschlag in Verbindung zu bringen. In einer vom Staatsfernsehen übertragenen Rede sprach Putin von einer angeblichen Verwicklung der Ukraine in den Terroranschlag. Er behauptete, die Verdächtigen seien auf der Flucht ins Nachbarland gewesen, wo für sie ein Transitfenster für einen Übertritt vorbereitet worden sei. Belege dafür legte er nicht vor.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wies die Schuldzuweisungen zurück. Putin versuche nur, „jemand anderem die Schuld in die Schuhe zu schieben“, sagte er in seiner täglichen Videoansprache.
Die Ukraine sei in den letzten Jahren allerdings „zu einem kleinen Rückzugsgebiet für islamistische Terroristen geworden“, sagt Islamwissenschaftler Guido Steinberg bezüglich der Behauptung Putins. Daher könne es sein, dass die Terroristen versucht hätten, nach dem Anschlag in die Ukraine zu fliehen. Dass die Ukraine aber verantwortlich für den Anschlag sei, halte er für schwer vorstellbar.
Wie sich der Anschlag auf den Krieg in der Ukraine auswirken könnte
Die vermeintliche Verbindung der Ukraine mit dem Anschlag könnte Putin als Vorwand nutzen, um das Land noch härter anzugreifen, mutmaßt Russland-Korrespondent Florian Kellermann. Ähnlich sieht es sein Kollege Maxim Kireev. Putin könne den Angriff auf die Ukraine nun mit einem weiteren Argument „rechtfertigen“ und die Wut und Anteilnahme vieler Russinnen und Russen angesichts der vielen Opfer des Terroranschlags „in die gewünschte Bahn kanalisieren“, schreibt er in der Wochenzeitung „Die Zeit“.
Auch der Politikwissenschaftler und Sicherheitsexperte Nico Lange prognostiziert im ZDF, dass Putin den Anschlag als Vorwand nutzen werde, „um einen härteren Ton anzuschlagen, um möglicherweise noch aggressiver gegen die Ukraine vorzugehen, insbesondere in einer Zeit, in der Europa zögert und die Hilfe für die Ukraine aus den USA unsicher ist“. Von einer direkten Auswirkung auf dem Schlachtfeld geht er aber nicht aus.
Wie es um den Rückhalt Putins in der russischen Bevölkerung steht
Der Anschlag offenbart das Versagen der russischen Sicherheitskräfte. Das könnte theoretisch ein Schlag für Putins Image sein. Zumal er den Angriffskrieg gegen die Ukraine mit der „absurden Behauptung“ begründe, es gehe um die Sicherheit Russlands, sagt Russland-Korrespondent Florian Kellermann.
Auch Politologe und Sicherheitsexperte Nico Lange sieht Putin in der Defensive. Der Machthaber stehe vor einem Dilemma, sagte er im ZDF. Wenn Putin „anerkennt, dass es der Islamische Staat war, dann müsste er ja mit Härte gegen den Islamischen Staat reagieren. Das kann er aber nicht, weil er alle seine Kräfte im Angriffskrieg gegen die Ukraine gebunden hat.“ Diese Gemengelage sei eine große Gefahr für Russland und könne zu einer Destabilisierung innerhalb des Landes beitragen.
Deswegen brächte Putin die Ukraine mit den Anschlägen in Verbindung – und werde versuchen, die offenbarte Schwäche des russischen Machtsystems durch aggressive Rhetorik, durch besonders hartes Vorgehen, möglicherweise auch durch Propaganda gegen die Ukraine zu überspielen.
Dass Putin wegen des Anschlags aber letztendlich den Rückhalt in der russischen Bevölkerung verliert, sei unwahrscheinlich, sagt Russland-Korrespondent Florian Kellermann. Die vergangenen Jahre hätten gezeigt, dass Putin nur wenig etwas anhaben kann. „Die Russinnen und Russen wenden sich nicht von ihm ab.“
lkn/ jad