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Terror in der Türkei
"Die Zeichen sind auf Sturm gesetzt"

Die jüngsten Anschläge in der Türkei seien nur Vorboten für das, was in den nächsten Wochen und Monaten passieren könnte, sagte der Nahost-Experte Michael Lüders im DLF. "Das Ziel ist natürlich klar: Radikale Kurden wollen die Türkei zurück an den Verhandlungstisch zwingen." Am Ende könne das Land in einen bürgerkriegsähnlichen Zustand kommen.

Michael Lüders im Gespräch mit Dirk Müller |
    Der Nahost-Experte Michael Lüders.
    Der Nahost-Experte Michael Lüders warnt, es könne weitere Anschläge geben. (Imago / allefarben-foto)
    Lüders betonte, wenn der Konflikt zwischen radikalen Kurden und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan weiter eskaliere, könnte der Staat am Ende nicht mehr als sicheres Herkunftsland gelten, was eine Rückführung von Flüchtlingen erschwere. Es fehle aber aktuell der Druck vonseiten des Westens auf Erdogan, weil er in der Flüchtlingspolitik gebraucht werde.
    Der Nahost-Kenner betonte mit Blick auf die Anschläge vor rund einer Woche in Ankara und am Samstag in Istanbul, diese seien "ein erster Vorbote darauf, was die Türkei in den nächsten Wochen und Monaten erwarten könnte."
    AKP wird "sultanisch" geführt
    Die Strategie der verbotenen kurdischen Organisation PKK sei eigentlich immer gewesen, dem Terror abzuschwören. Aber es gebe Untergruppierungen und unabhängige Gruppen. Es sei schwierig zu ermessen, wie viel Einfluss die PKK auf sie habe. "Die Zeichen sind auf Sturm gesetzt." Das Ziel der radikalen Kurden sei klar: Sie wollten Erdogan zurück an den Verhandlungstisch zwingen.
    Innerhalb der Regierungspartei AKP drohe zumindest kein mäßigender Einfluss auf den Staatspräsidenten. Es gebe keine offene Kritik an Erdogan, sagte Lüders. Die Partei werde "sultanisch" geführt.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Wir bleiben beim Anschlag in der Türkei. Am Telefon begrüße ich nun Nahost- und Türkeiexperte Michael Lüders. Guten Tag!
    Michael Lüders: Schönen guten Tag, Herr Müller. Hallo!
    Müller: Herr Lüders, wird das nicht mehr aufhören?
    Lüders: Ja, im Augenblick wohl erst einmal nicht. Man hat den Eindruck, es verschlimmert sich immer mehr. Der Hintergrund ist der Krieg, den die türkische Regierung seit Mitte des vorigen Jahres verstärkt führt gegen die Kurden im Südosten des eigenen Landes. Bislang war dies ein Krieg, der fast ausschließlich im Südosten in den kurdischen Regionen geführt wurde. Wir erinnern uns: Erdogan, der türkische Präsident, hat den eigentlich gut verlaufenen Friedensprozess mit der PKK aufgekündigt, weil er bei den Wahlen im Mai, Juni festgestellt hat, dass seine Partei fast zehn Prozent an Stimmen verloren hatte. Die Kurdenpartei HDP ist sehr, sehr stark geworden, und er setzte daraufhin auf Konfrontation, um die Stimmen der Nationalisten zurückzugewinnen und bei der Wiederholung der Wahlen dann im Oktober hat die AKP, seine islamistische Partei, fast 50 Prozent der Stimmen bekommen. Erdogan fühlt sich also in seiner Überzeugung bestätigt, dass eine Politik der Konfrontation mit den Kurden die richtige Strategie sei. Allerdings geht die PKK jetzt ihrerseits den umgekehrten Weg, dass sie nämlich den Krieg nicht mehr nur im Südosten führt, sondern auch in den Westen der Türkei trägt. Die Anschläge in Ankara und in Istanbul sind ein erster Vorbote darauf, was die Türkei hier noch in den nächsten Wochen und Monaten erwarten könnte.
    Müller: Wir reden ja im Allgemeinen häufig von der PKK. Es gibt viele Untergruppierungen, Splittergruppierungen. Gibt es dort noch jemand oder eine Leitstelle, die das Ganze so ein bisschen kontrolliert, das Heft in der Hand hält?
    "Kurden wollen die Türkei an den Verhandlungstisch zwingen"
    Lüders: Das ist eine sehr berechtigte Frage, die man im Augenblick nicht wirklich beantworten kann. Die Strategie der PKK war eigentlich immer, sich ein politisches Gesicht zu geben und dem Terror abzuschwören. Allerdings gibt es radikale Untergruppierungen oder auch kurdische Gruppierungen, die gänzlich unabhängig von der PKK operieren, die in der Vergangenheit auf sich aufmerksam gemacht, Aufmerksamkeit erzielt haben. Es ist sehr schwierig zu ermessen, ob die PKK nun wirklich noch alle diese radikalen Gruppierungen unter ihrer Kontrolle hat oder nicht. Auf jeden Fall sind die Zeichen jetzt auf Sturm gesetzt, es gibt keinen Hinweis darauf, dass sich die Lage beruhigen könnte. Das Ziel ist natürlich klar: Die radikalen Kurden wollen die Türkei zurück an den Verhandlungstisch zwingen. Sollte das nicht geschehen, sollte diese Auseinandersetzung – dieser Krieg muss man ja schon sagen – sich intensivieren, dann wird das gravierende Auswirkungen haben für die Türkei. Der Tourismus ist schon dabei zu implodieren. Die russischen Touristen kommen überhaupt nicht mehr seit dem Abschuss eines russischen Flugzeuges durch die Türkei im November vorigen Jahres. Auch die Buchungen aus Deutschland sind um mehr als 40 Prozent eingebrochen für dieses Jahr, und dieser Trend wird sich sicherlich fortsetzen.
    Müller: Noch einmal zur Rolle der Kurden: Spielt PKK-Chef Öcalan, der eine wesentliche Rolle gespielt hat in den vergangenen Jahren, obwohl er inhaftiert ist, noch eine Rolle?
    Lüders: Mit Sicherheit tut er das, aber die Frage ist – und das können wir gegenwärtig nicht ermessen –, ob er wirklich noch alle Zügel in der Hand hält. Er ist im Grunde genommen die mythische Führungsfigur. Er hat in der Vergangenheit sehr auf Mäßigung gesetzt, er hat die PKK dazu bewogen, auf den Friedensprozess mit der türkischen Regierung sich einzulassen trotz des ungewissen Ausgangs, und es ist klar, dass seine Strategie gescheitert ist und die türkische Regierung nicht daran interessiert ist, mit der PKK eine Vereinbarung zu treffen. Ob er jetzt noch in der Lage ist, das zu kontrollieren, was hier geschieht, das ist ganz schwer zu ermessen. Ich wage es zu bezweifeln. Es sind zu viele Untergruppierungen mittlerweile entstanden.
    Müller: Reden wir noch einmal über die türkische Regierung, über das türkische Kabinett beziehungsweise das Machtzentrum in Ankara. Wir reden meistens über Präsident Erdogan, jetzt auch vermehrt in den vergangenen Monaten über den Ministerpräsidenten, über Ministerpräsident Davutoglu, der gestern auch in Brüssel diesen Kompromiss in der Flüchtlingspolitik ausgehandelt hat. Die beiden ziehen offenbar an einem Strang, aber wenn wir den Kreis etwas erweitern – gibt es dort auch Kritiker innerhalb der Regierungspartei, der Regierungsfraktion, die da sagen, so können wir nicht weitermachen?
    "Erdogan duldet Kritiker in seinem Umfeld nicht"
    Lüders: Innerhalb der AKP gibt es keine offene Kritik an der Linie, die von Erdogan vorgegeben wird. Die AKP ist eine Partei, die sultanisch geführt wird von der Figur Erdogans, der Kritiker in seinem Umfeld nicht duldet. Jeder, der nicht auf Linie war, ist in der Vergangenheit entlassen worden, und die Regierung Erdogan geht auch mehr und mehr dazu über, auch Kritiker außerhalb des unmittelbaren Regierungsumfeldes auszuschalten, insbesondere auch die regierungskritischen Medien. Es gibt von daher keinen Hinweis darauf, dass in seinem unmittelbaren Umfeld es mahnende Stimmen gibt, die Erdogan versuchen, zur Räson zu rufen. Er agiert sehr eigenständig in seinen Entscheidungen. Das betrifft den Umgang mit Russland, das betrifft den Konflikt in Syrien, und das betrifft das Kurdendossier, und das Ergebnis ist ein Desaster auf allen Ebenen. Das rächt sich nun, dass das türkische politische System so stark zugeschnitten ist auf eine Persönlichkeit an der Spitze, nämlich Erdogan, die ganz offenkundig die Bodenhaftung verloren hat und die rationalen Argumenten auch nicht mehr zugänglich zu sein scheint. Es ist offenkundig, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Krieg der türkischen Armee im Südosten gegen die Kurden und dieser jetzigen Terrorwelle, aber Erdogan fühlt sich auch gestärkt dadurch, dass sowohl die USA wie auch die Europäische Union sehr auf ihn setzen. Die USA in der Causa Syrien, die Europäer, namentlich die Bundesregierung, wegen der Flüchtlingskrise, und insofern sagt sich Erdogan, das sitze ich aus.
    Müller: Also wenn Erdogan so weitermacht, ist das auch ein klares Versagen des Westens?
    Lüders: Es fehlt zumindest der Druck westlicher Regierungen, namentlich der Europäischen Union, und hier als wichtigen Verbündeten natürlich Berlin, und Washingtons auf die Regierung in der Türkei, weil die genannten westlichen Regierungen jeweils ihre eigenen Probleme, ihre eigenen Agenden verfolgen und die Krise in der Türkei gegenwärtig lieber übersehen, als dazu Stellung zu nehmen. Es gibt jedenfalls keine bekannten Aussagen führender Politiker in Berlin oder in Brüssel, die Erdogan zur Räson rufen würden, denn der Weg, den er geht, der wird immer gefährlicher. Die Türkei läuft Gefahr, in einer bewaffneten Auseinandersetzung mit bürgerkriegsähnlichen Ausmaßen sich wiederzufinden. Damit fällt dann im Zweifel die Türkei natürlich auch aus als ein Land, das als sicheres Herkunftsland einzuschätzen ist. Das würde dann bedeuten, dass Rückführung von Flüchtlingen sehr kompliziert werden könnte.
    Müller: Wenn wir Europa einmal ausblenden mit der Flüchtlingspolitik, gehen vielleicht noch mal nach Washington, im Moment Barack Obama. Wir wissen nicht, wie es dort weitergeht im kommenden Jahr, Herr Lüders, aber wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann hätte Washington durchaus noch die Möglichkeit, ein bisschen jedenfalls, einzuwirken auf Erdogan, nur offenbar aus vielerlei Gründen kein Interesse.
    Erdogan nimmt Obama sehr viel ernster als Brüssel
    Lüders: Erdogan nimmt Präsident Obama und die amerikanische Führung sehr viel ernster als Brüssel und Berlin. Das sagen alle Insider, die sich mit türkischer Politik gut auskennen, weil die Amerikaner in der Vergangenheit ihn nicht – in Anführungsstrichen – "genervt haben" mit irgendwelchen Forderungen in Sachen Menschenrechten. Sie, die Amerikaner, sind vor allem daran interessiert, dass die Türkei keine Einwände erhebt mit Blick auf die Nutzung der türkischen Luftwaffenbasis Incirlik. Das ist den Amerikanern sehr wichtig, weil sie von dort aus weite Teile des Nahen und Mittleren Ostens militärisch abdecken können, und gleichzeitig errichten die USA Militärstützpunkte in den kurdischen Gebieten im Norden Syriens, sehr zum Unbill der Türkei, aber Ankara lässt die Amerikaner hier gewähren. Es gibt hier also sozusagen ein herzliches Einvernehmen, ein laissez faire zwischen Washington und Ankara, und es gibt auch Deals, die getätigt werden im großen finanziellen Maßstab. Das alles ist für Erdogan viel interessanter als die Europäer, die untereinander zerstritten sind. Die langen Verhandlungen mit Blick auf einen EU-Beitritt der Türkei haben dazu geführt, dass man die Europäer nicht mehr so wirklich ernst nimmt, weil der Eindruck entsteht, na ja, letztendlich, die halten uns sowieso hin, wir haben keine Chance auf Mitgliedschaft in der EU, und jetzt brauchen uns die Europäer sowieso mehr als wir sie. Das stärkt natürlich das Selbstbewusstsein von Erdogan.
    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk Nahost- und Türkeiexperte Michael Lüders. Danke für das Gespräch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.