Hören Sie auch das Interview in der französischen Originalfassung.
Christoph Heinemann: Die Verlogenheit selbst ernannter Tugendwächter sorgt gegenwärtig in Marokko für Heiterkeit: Zwei landesweit als besonders streng bekannte Moralprediger, eine Frau und ein Mann, wurden Ende August von der Polizei in einem Auto an einem einsamen Strand überrascht. Die beiden sind nicht miteinander verheiratet, taten aber das, was sie selbst nur Verheirateten zubilligen würden. Dass Fatima und Omar erwischt wurden, beweise, dass es Gott gebe, twitterte ein Scherzbold. Ansonsten liefert religiöser Eifer zur Zeit wenig Anlass zu Witzen: In Paris wurde ein Auto von der Polizei sichergestellt, in dessen Kofferraum mehrere Gasflaschen lagen. Die Polizei hat drei Frauen festgenommen. Eine von ihnen wurde angeschossen, als sie einen Polizisten mit einem Messer angriff. Der Innenminister geht davon aus, die radikalisierten Frauen hätten wahrscheinlich neue, gewalttätige Aktionen geplant. Frankreich bleibt also Schauplatz religiös begründeter Verbrechen. Einer der besten Kenner des Islam und des politischen Islam ist Professor Gilles Kepel. Der Islamwissenschaftler lehrt in Paris am "Institut d'études politiques". Sein neuestes Buch "Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa" erscheint in den nächsten Tagen in deutscher Sprache. Herr Kepel, Sie leben unter Polizeischutz. Von wem werden Sie bedroht?
Gilles Kepel: Einige von uns wurden von Daesh, dem IS, mit dem Tode bedroht. Alle, die heute über dieses Phänomen schreiben, werden bedroht, auch wenn Sie nicht Position beziehen, sondern nur Kenntnisse vermitteln. Das Ziel dieser Bedrohung besteht darin, die französische Gesellschaft zu spalten.
Heinemann: Beeinflusst diese Bedrohung Ihre Forschungsarbeit?
Kepel: Nein, nicht besonders. Was ich in der Vergangenheit getan habe, führe ich fort: Dokumente analysieren, die Lage beobachten und einen Zusammenhang zwischen den Phänomenen herstellen, die gegenwärtig erkennbar sind.
"Die Dschihadisten wollen ein Klima des Schreckens verbreiten"
Heinemann: Welches Ziel verfolgt die gegenwärtige Dschihadisten-Generation in Europa?
Kepel: Die dritte europäische Dschihadisten-Generation, die zum großen Teil in Frankreich lebt, die aber auch in Deutschland präsent ist - wie die Anschläge von Würzburg und Ansbach in diesem Sommer gezeigt haben - will ein Klima des Schreckens in den europäischen Staaten verbreiten, das feindliche Reaktionen gegenüber allen Muslimen erzeugen soll. Die Muslime sollen auf diese Weise radikalisiert werden und die Hoffnung besteht, dass die Dschihadisten ihre Führer werden. Die Lage soll sich zu einem Bürgerkrieg entwickeln.
Heinemann: Tatsächlich zu einem Bürgerkrieg?
Kepel: Das ist ihr Ziel. Sie wollen die europäischen Gesellschaften zerstören und eine Art Kalifat errichten, wie in Mossul oder Rakka, auf den Ruinen des alten Kontinents. Natürlich wird es dazu nicht kommen, da die überwältigende Mehrheit der europäischen Muslime dem überhaupt nicht zustimmt. Aber sie schaffen ein Klima großer Spannungen, was mit den vielen Brüchen innerhalb der europäischen Gesellschaften zu tun hat: in Frankreich vor allem mit der sozialen Lage. Viele junge Leute mit islamischem Hintergrund leben in einem heruntergekommenen Wohnumfeld mit dem Gefühl, dass ihnen der Arbeitsmarkt versperrt ist. In Deutschland kommt die Lage mit den Flüchtlingen hinzu.
"Der Terrorismus ist Ausdruck eines Krieges innerhalb des Islam"
Heinemann: Besteht eine direkte Verbindung zwischen Terrorismus und Islam, also der Religion?
Kepel: Nein, es besteht keine direkte Verbindung zwischen Terrorismus und Islam. Die große Mehrheit der Muslime bekennt sich zum Islam, ohne Verbindung oder Regungen zum Terrorismus. Allerdings bezieht der IS seine Inspiration und seine Verhaltensregeln aus einer radikalen, strengen, aus dem Zusammenhang gelösten und wörtlichen Lesart der heiligen Texte des Islam. Der IS sucht im Corpus der heiligen Texte die Rechtfertigung seiner Aktionen. Damit stellt sich das Problem: Wer ist in der Lage und hat das Recht, den Islam zu interpretieren? Und welche Gruppen streiten um die Hegemonie dieser Interpretation und darum, den Islam zu vertreten? Der Terrorismus ist vor allem Ausdruck eines Krieges innerhalb des Islam und weniger eines Krieges zwischen dem Islam und dem Westen.
Heinemann: Was antworten Sie denjenigen, die sagen: Terroristen sind Kriminelle, die nichts mit dem Islam zu tun haben?
Kepel: Dass Terroristen Kriminelle sind, ist juristisch richtig. Man kann aber nicht sagen, sie hätten nichts mit der Religion zu tun. Sie benutzen die Religion zu ihrem Zweck. Das Problem besteht darin, dass die Intellektuellen, die islamischen Gelehrten und die Führung der islamischen Verbände, diese Interpretation zurückweisen müssten. Und da bestehen einige Schwierigkeiten.
Heinemann: Das heißt, die tun das nicht…
Kepel: Einige sind sehr mutig und tun dies. Sie werden aber häufig nicht so gehört, wie sie gehört werden müssten.
"Die salafistische Ideologie hat sich stark in der muslimischen Jugend verbreitet"
Heinemann: Wie ist zu erklären, dass sich junge Leute, Kriminelle, die Alkohol und Drogen konsumieren, in kürzester Zeit radikalisieren?
Kepel: Es gibt mehrere Möglichkeiten. Die häufigste Vorstellung ist, dass ab dem Moment, in dem man sich für den Dschihad entscheidet, sich zu opfern bereit ist und ein Märtyrer werden will, alle Sünden vergeben sind und man mit seiner Familie in das Paradies eingehen wird. So kann man sich aus der Hölle der Kriminalität befreien. Außerdem hat sich in den vergangenen 15 Jahren die salafistische Ideologie sehr stark in der muslimischen Jugend in Europa verbreitet. Die meisten Salafisten sind nicht gewalttätig. Aber sie predigen einen kulturellen Bruch mit den westlichen Gesellschaften, die als ungläubig gelten. Das zieht Leute an, die in diesem Bruch ein Ventil für ihre soziale Frustriertheit finden und auf dieser Grundlage auf einen Kurs Richtung Gewalt einschwenken.
Heinemann: Welchen Einfluss hat das Wahlverhalten der Muslime in Frankreich?
Kepel: Umfragen zeigen, dass mehr als 80 Prozent von ihnen für François Hollande gestimmt haben, oder auf jeden Fall gegen Nicolas Sarkozy. Und da Hollande die Präsidentschaftswahl mit einem Vorsprung von 1,3 Millionen Stimmen gewonnen hat, sieht man schnell, dass 650.000 Wähler durchaus den Unterschied gemacht haben. Diese Wählergruppe wird allerdings 2017 nicht wieder so abstimmen, da die Eheschließung von Homosexuellen, die von der sozialistischen Regierung legalisiert wurde, von dieser Bevölkerungsgruppe massiv abgelehnt wird. Das Wahlverhalten der Muslime ist ein wichtiges Thema bei der kommenden Wahl. Diejenigen, die sich gegen das einsetzen, was sie Islamfeindlichkeit in Frankreich nennen, versuchen diese Wählergruppe zu sammeln. Sie wollen sie bei der nächsten Wahl 2017 gegen solche Kandidaten in Stellung bringen, die sie der Islamfeindlichkeit beschuldigen. Und sie wollen dafür sorgen, dass diese Wähler für einen anderen Kandidaten abstimmen.
Mit Polizeiarbeit und Bildung gegen Brüche in der Gesellschaft kämpfen
Heinemann: Die extreme Rechte möchte den Islam in Europa eliminieren. Was antworten Sie auf solche Forderungen?
Kepel: Das würde sofort zu einem Bürgerkrieg führen, und das wünschen sich die Dschihadisten. Wenn man wirksam gegen die Brüche in den europäischen Gesellschaften kämpfen will, dann nicht mit Krieg, sondern mit Polizeiarbeit und Bildung.
Heinemann: Terrorismus, Islam, extreme Rechte: Sind Sie optimistisch oder pessimistisch?
Kepel: 60 Jahre meines Lebens habe ich als Optimist verbracht und in der Überzeugung, dass man die Dinge verbessern kann, indem man sie richtig analysiert. Ein Problem in Frankreich - vielleicht weniger in Deutschland - besteht darin, dass die politische Klasse und die höhere Verwaltung die akademischen Forscher und diejenigen, die die Phänomen zu verstehen versuchen und einen Zusammenhang herstellen, verachten. Wenn politisch Verantwortliche gewählt werden, die in der Lage sind, eine Vision zu entwickeln, und die nicht wahltaktisch von einem Tag zum nächsten reagieren, werden wir einen großen Schritt vorangekommen sein, um diesen Optimismus Wirklichkeit werden zu lassen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.