Wer in Seine-Saint-Denis am nördlichen Pariser Stadtrand aus der Métro steigt, stößt nach wenigen Schritten auf schwerbewaffnete Militärtruppen. Spätestens seit der Großrazzia infolge der Attentatsserie vor zwei Jahren und dem bis heute fortdauernden Ausnahmezustand in Frankreich gilt der Bezirk als Gefährdungszone der dschihadistischen Szene. Um Fethi Benslama in seinem Domizil im Hinterhof einer Seitenstraße zu treffen, muss man zunächst Code-gesicherte Türen und Absperrgitter überwinden. Seit fast zwei Jahrzehnten arbeitet der franko-tunesische Psychoanalytiker mit jugendlichen Radikalisierten. Mit seinen Forschungen über die "Psychoanalyse des Islam" hat sich Benslama, der als einer der wichtigsten Islamismusforscher Frankreichs gilt, nicht nur Freunde gemacht. Er sagt:
"Ja, durchaus, ich werde bedroht. Ich lebe hier in Saint-Denis, das ist ein sozial sehr prekäres Viertel. Ansonsten ist es übrigens vor allem die politische Linke, die mich kritisiert. Sie bezeichnen mich als islamfeindlich, was ich definitiv nicht bin. Manche Menschen glauben, um die rassistische Islamfeindlichkeit zu bekämpfen, die ja wirklich existiert, müsse man besonders islamfreundlich sein. Das halte ich für falsch. Meine Arbeit besteht auf jeden Fall nicht darin, irgendwen zu hassen oder zu lieben, sondern darin zu analysieren."
Seit 200 Jahren im Bürgerkrieg
Den Ausgangspunkt dessen, was Fethi Benslama als "islamischen Bürgerkrieg" zwischen Fundamentalisten und Vertretern eines modernen Islam bezeichnet, datiert er auf den Ägyptenfeldzug Napoleons vor über 200 Jahren. Für Benslama ist es der Schlüsselmoment der Kolonialisierung und damit zugleich der Auftakt zum gegenwärtigen Kampf der Dschihadisten gegen liberale Muslime und die säkulare Gesellschaftsform des Westens. Fethi Benslama:
"An diesem Punkt teilt sich die muslimische Welt zwischen denen, die gegen Kolonialismus und Verwestlichung ankämpfen wollen, und denen, die diese Entwicklung akzeptieren und versuchen, Aspekte der Modernisierung zu übernehmen. Die Dschihadisten von heute kommen nicht umsonst vor allem aus den ehemaligen Kolonialländern Frankreich, Großbritannien und Belgien. Und die ehemaligen Kolonialmächte beteiligen sich bis heute an den Kriegen in vielen muslimisch geprägten Regionen. Diese Kontinuität bewirkt, dass die Idee des Krieges viele junge Menschen mobilisiert. Laut der dschihadistischen Theorie führt der Westen seine 'Kreuzzüge' gegen den Islam bis heute fort."
Die geschichtlichen und politischen Entwicklungen bis hin zum gegenwärtigen Dschihad allein erklären derweil nicht die aktuelle Bedrohungslage. In seinem Buch "Die Psychoanalyse des Islam", das demnächst auch auf Deutsch erscheint, setzt sich der bekennende Freudianer Benslama mit der Bedeutung von Schuld, Verdrängung und Selbstopferung im Islam auseinander.
Vom Kleinkriminellen zum "Übermuslim"
"In jeder Religion können die Gläubigen ihre Schuld gegenüber ihrem Gott eingestehen, Opfer bringen, Verzicht üben, und dann weiterleben. In Krisenzeiten ist die Religion allerdings nicht mehr in der Lage, diese Opferbereitschaft auf ein vernünftiges Maß einzudämmen. Ganz im Gegenteil, die Religion wird plötzlich zur Instanz, die kontinuierlich zu Opfern aufruft. Das passiert, wenn die Religion in eine Verteidigungsposition gerät. Das Opfer wird dann zum Mittel der Wiederherstellung und Stärkung der Religion und ihrer Gemeinschaft. Die Säkularisierung und Modernisierung hat die Fundamente des Islam erschüttert. Die Fundamentalisten wollen diesen Prozess eindämmen, indem sie immer größere Selbstopfer bringen."
Der "Übermuslim", so der Titel von Benslamas zuletzt erschienen Buch, strebt danach, in religiöser Überhöhung sein Leben von Sünde zu befreien und es zugleich zur Wiederherstellung göttlicher Gesetze auf Erden zu opfern. Benslamas Untersuchungen zeigen, das 50 Prozent der radikalisierten Islamisten Konvertiten sind, 70 Prozent von ihnen sind im Alter zwischen 15- und 25 Jahren. Benslama unterscheidet zwei wichtige Impulse, sich dem islamistischen Terror anzuschließen: einerseits ist es das Gefühl der identitären und kulturellen Verlorenheit gerade junger Menschen. Andererseits ist es das tiefe Schuldgefühl gegenüber der muslimischen Tradition der Vorfahren. Die meisten der späteren Attentäter, so Benslama, begönnen ihren Weg zum Dschihad mit dem Einstieg in die Straßenkriminalität.
"Diese Kleinkriminellen fühlen sich schuldig, sie haben ein äußerst schlechtes Selbstbild. Als Übermuslim haben sie plötzlich die Möglichkeit, zum Helden zu werden und sich mithilfe eines vermeintlich göttlichen Gesetzes selbst aufzuwerten. Paradoxerweise erlaubt die Radikalisierung zugleich, weiterhin als Krimineller zu leben, aber dieses Mal mit der Legitimierung durch Gott. Der radikale Islamist gewinnt also auf ganzer Strecke: er wird zu jemand wichtigem und zugleich tilgt er seine Schuld als Krimineller, denn er begeht seine Straftaten ja im Namen Gottes."
Bei seiner langjährigen Arbeit mit jugendlichen Radikalisierten habe er immer wieder festgestellt, dass die Radikalisierung ein sehr individueller Vorgang bleibt und eine Folge von Zufällen ist, betont Benslama. Der plötzliche Verlust einer nahestehenden Person oder eine traumatische Erfahrung können Auslöser für den Entschluss werden, einen Anschlag zu begehen.
"Den typischen Terroristen gibt es nicht"
"Das Profil des typischen Terroristen - so etwas gibt es nicht. Es geht immer um besondere Umstände, in denen jemand sich in einer tiefen Krise befindet, und dann den Weg des Dschihad einschlägt. Einigen, aber nicht allen jungen Menschen, die eine Krise durchleben, verspricht die Radikalisierung die Lösung all ihrer Probleme. Sie fühlen sich schuldig, klein, unbedeutend, nicht anerkannt. Wenn man so jemandem das Angebot macht, plötzlich groß, bedeutend und heroisch zu sein, sich von seinen Sünden reinzuwaschen, dann ist das für sie ein idealer Ausweg aus ihrer seelischen Notlage. Die Radikalisierung ist eine Form der Selbsttherapie."
Fethi Benslama plädiert in Frankreich seit vielen Jahren für eine schärfere strafrechtliche Verfolgung der Anstachelung zu religiösem Hass in Moscheevereinen oder im Internet. Die Beendigung der Kriege im Nahen Osten und in Syrien ist für ihn eine Voraussetzung, um den Islamisten ihre argumentative Basis zu entziehen. Zugleich verlangt er konkrete politische Maßnahmen und Gesetze zur Modernisierung des Islam in Europa, was religiöse Toleranz, die Rolle der Frau und das Bekenntnis zur demokratischen Gesellschaft angeht. Keine Religion sei von sich aus demokratisch organisiert. Anders als das Judentum und das Christentum habe der Islam den schwierigen Weg der Demokratisierung noch vor sich, meint Benslama. Der Terror, so glaubt er, wird uns noch Jahrzehnte begleiten.
"Das Wort 'Deradikalisierung' sollte man ersatzlos aus dem Vokabular streichen. Es ist ein falscher Begriff. Man deradikalisiert niemanden, man dreht niemanden einfach so um, es gibt keine Gehirnwäsche! Wenn sich jemand radikalisiert, muss man zu allererst nach seinen individuellen, inneren Gründen dafür suchen und mit ihm daran arbeiten, damit er erkennt, dass die Radikalisierung keine echte Lösung für seine Probleme ist. Man muss versuchen, ihm einen Platz in der Gesellschaft aufzuzeigen. Das ist ein langer Prozess. Und nicht jeder wird den Weg aus der Radikalisierung finden. Es geht also darum, zu unterscheiden, bei wem dieser Ansatz einen Sinn hat und bei wem nicht."
Eine Patentlösung gegen die Verführung junger Menschen zum Dschihad bietet auch Fethi Benslama nicht. In seinen Büchern gibt der Psychoanalytiker aber konkrete und aufschlussreiche Einblicke in die historischen Verwerfungen innerhalb der islamischen Glaubensgemeinschaft und in die individuellen Irrwege und seelischen Verheerungen radikaler Islamisten.
"Der Übermuslim: Was junge Menschen zur Radikalisierung treibt." Matthes & Seitz, März 2017, 141 Seiten