Vierzehn Jahre habe ich im Ausland verbringen müssen, weil ich im Widerstand gegen Saddam war. Es fällt mir noch immer schwer, auch nur für einen Augenblick zu vergessen, welche Tragödie unser Land durchlebt. Aber wenn ich die Spieler da unten sehe, dann bin ich glücklich. Ich weiß, was sie jetzt fühlen.
Momente lang scheint es in der Sporthalle von Bagdad als wäre der Frieden hergestellt, als hätte sich die Mission Iraqi Freedom glücklich erfüllt. Niemand hier scheint noch daran zu denken, dass auch an diesem Tage wieder Menschen im Irak von Bomben zerfetzt wurden. Draußen auf den Straßen Bagdads holt einen die Realität einen schnell wieder ein. Im zähflüssigen Stop-and-Go-Verkehr des Shoppingviertels Karrade schiebt sich ein Minibus vor einen PKW. Vier Männer springen heraus, zerren den Insassen des Autos aus der Tür, schubsen ihn in ihr Gefährt und brausen davon. Der Fahrer zuckt resigniert mit den Schultern:
Kidnapper. Die greifen sich jemanden, nehmen ihn mit und verlangen dann Lösegeld von der Familie. Ich weiß nicht wieso, aber nachmittags sind nie Polizisten auf der Straße. Weder Amerikaner, noch irakische Polizisten.
Schon wenige Tage vor Übergabe der Souveränität an den Irak beschränkt die US-Armee ihre Präsenz in Bagdads Straßen nur auf das Nötigste und überlässt der irakischen Polizei die Bekämpfung der Kriminalität. Von den meisten Basen im inneren Stadtgebiet sind die US-Einheiten zurückgezogen und an die Peripherie verlagert worden. Noch tun die irakischen Sicherheitskräfte sich schwer, die Bresche auszufüllen, sagt Leutnant Achmed, Chef einer Polizeistation im Viertel Salek.
Auf dieser Wache haben wir zwar genügend Gewehre, aber für das ganze Viertel nur zwei Polizeiautos, die allerdings nicht ausreichend gepanzert sind. Die Banden, die die Menschen auf der Straße kidnappen, schießen oft mit Maschinengewehren auf uns. Mit unseren leichten Feuerwaffen sind wir machtlos.
Der Leutnant will noch mehr erklären. Da öffnet ein Sergeant der US-Militärpolizei die Tür und beendet das Gespräch. Bevormundung; Unkenntnis; Arroganz und Schlamperei – das sei der Stil, mit dem die USA ihren Kredit bei der Bevölkerung verspielt hätten, meint Walid al Hilli, Generalsekretär der schiitischen Dawa-Partei, die mit einem Minister in der neuen Übergangsregierung vertreten ist.
Sehen Sie sich einfach die wachsende Zahl der Terroranschläge an und urteilen Sie selbst, ob das Konzept der US-geführten Koalition aufgegangen ist. In den letzten beiden Monaten ist die Gewalt dramatisch angewachsen. Das liegt ganz einfach daran, dass die Koalition das Sicherheitsdossier nicht uns Irakern überlassen hat, dass sie der irakischen Polizei keine Kompetenzen eingeräumt, ihr die angemessenen Waffen verweigert hat. Beinahe täglich hören wir, dass die Amerikaner wieder neue Gefangene aus dem berüchtigten Abu Ghraib-Gefängnis freigelassen haben. Nur: fragt eigentlich jemand, wer da freigelassen wird? Die Amerikaner haben nicht nur politische Gefangene nach Hause geschickt, sondern reihenweise Kriminelle. Ganze Gangsterbanden sind freigekommen, die, sobald sie draußen sind, organisiertes Verbrechen betreiben. Wir haben die Koalitionsbehörden gefragt, warum sie diese Leute auf unser Volk loslassen. Die Antwort war: Erstens sind diese Leute nicht gegen die USA aktiv geworden. Und zweitens haben wir nicht genügend Gefängnisse, um alle einzusperren.
Der größte Irrtum der US-Politik liegt nach Meinung al Hillis darin, die Iraker nicht von Anfang an in die Regierung eingebunden zu haben - und mit der Ernennung der neuen Übergangsregierung hätten die Amerikaner irakische Anliegen aufs Neue missachtet. Tatsächlich lässt sich fragen, weshalb die US-Regierung – bei der scheinbar selbstständigen Kandidatenlese durch den irakischen Regierungsrat - sich nicht für repräsentativere Persönlichkeiten entschieden hat. Denkbar gewesen wären Vertreter einer der gemäßigten schiitischen Gruppierungen. Persönlichkeiten, die über Partei- und Konfessionsgrenzen Rückhalt in der Bevölkerung genießen. Mit dem Technokraten Ghazi al Jawar auf dem Posten des de facto machtlosen Präsidenten hat Washington für den Angehörigen des al Schammar-Stammes optiert. Die Schammar leben über die ganze arabische Halbinsel verteilt und sind durch Heirat ans Herrscherhaus Saudi Arabiens gebunden. Bei Premierminister Alawi handelt es sich um einen langjährigen hohen Funktionär der Baath-Partei, der erst Anfang der 90er Jahre in den Widerstand gegangen ist.
Während dieser Zeit hat er, nach Recherchen von Beobachtern, gute Beziehungen zur CIA und zum britischen Geheimdienst MI 6 aufgebaut. Das Einzige, was ihm viele seiner Landsleute zugute halten, ist, dass er aufgrund dieser Nähe zu Washington und London, irakische Interessen effizient durchsetzen könnte. "Alawi", urteilt ein westlicher Diplomat in Bagdad " – das ist der Saddam-Light, den sich die USA für den Irak immer gewünscht haben." Trotz ihrer Bedenken hat sich die schiitische Dawa-Partei entschlossen, sich mit dem Posten des Vizepräsidenten an der neuen Administration zu beteiligen. Zur Zeit gebe es keine bessere Alternative, sagt Dawa-Generalsekretär al Hilli lakonisch. Man müsse um jeden Preis versuchen, das Steuer herumzureißen, bevor der Irak gänzlich im Chaos versinkt.
Alles, sogar die Auseinandersetzungen in Falludscha und mit der Mahdi-Armee des Schiitenpredigers Muqtada al Sadr können wir Iraker am besten unter uns selber lösen, und zwar auf friedliche Art. Und zwar dadurch, dass wir weder die radikalen Sunniten ausgrenzen, noch die radikalen Schiiten, wir müssen sie respektieren. Wir müssen ihnen einen Platz im politischen Leben einräumen, so dass sie sich in die Gesellschaft einbezogen fühlen. Wenn diese Probleme mit der Holzhammermethode angegangen werden, wird sich die Gewalt nur noch verschlimmern.
Manche Fehler lassen sich im nachhinein nicht reparieren.
Nicht nur Falludscha, das Widerstandsnest im so genannten Sunni-Dreieck hat sich der Zentralgewalt entzogen. In Sadr City, der Schiitenhochburg von Bagdad, ist ebenfalls ein Staat im Staat entstanden. Wo der Machtbereich der Regierung aufhört, steht ein US-Panzer mit geschlossener Luke an der Straße, als bewache er hier eine unsichtbare Grenze. Nach ein paar hundert Metern stößt man auf einen Checkpoint der Mahdi-Armee. Milizionäre des radikalen Schiitenführers Muqtada al Sadr kontrollieren alle Autos, die sich auf den Platz des wöchentlichen Freitagsgebets zubewegen. Die jungen Männer tragen Kalaschnikows und Patronengurte. Einige von ihnen haben sich kapuzenartige Masken über das Gesicht gezogen. Wenn sie die Daumen nach oben recken, darf man weiterfahren. Wenn nicht, dann nicht.
Wer den Checkpoint hinter sich gelassen hat, gelangt auf einen Moscheevorplatz, auf dem sich eine unübersehbare Menge junger Männer zum Freitagsgebet versammelt hat, es mögen Tausende sein. Ja, ja zur Unabhängigkeit! Ja, ja zum Dschihad! Jaja, Muqtada! rufen sie und schwenken Bilder mit dem bärtigen Mondgesicht ihres Idols. Der Bagdader Repräsentant Muqtada al Sadrs, Scheich Nasr Saidi, predigt, mitten in der Hauptstadt, den heiligen Krieg gegen die Koalition.
In diesen Zeiten ist es wichtig, die exakte Bedeutung des Wortes Dschihad zu kennen, denn leider verstehen viele dieses Wort nicht richtig. Wer in den heiligen Krieg zieht, der tut damit das gleiche wie jemand, der auf Pilgerfahrt nach Mekka geht. Wird er als Märtyrer getötet, geht er ins Paradies ein. Bleibt er am Leben, so reinigt ihn der Dschihad von allen Sünden, genauso wie die Pilgerfahrt nach Mekka.
Viele entziehen sich dem Dschihad mit der Ausrede, die Amerikaner seinen stärker als wir – oder die Zeit zum Widerstand sei noch nicht gekommen. Ich frage euch: Als Imam Hussein gegen die Übermacht der Omayaden in den Krieg zog, war er da nicht genau so unterlegen? Aber er kannte seine Pflicht. Wollt ihr seinem Beispiel nicht folgen? Selbst Kranke und Krüppel haben damals gekämpft – und ihr? Wollt ihr vor euren Fernsehern sitzen blieben und mit ansehen, wie andere an eurer Stelle sterben?
Die Antwort auf die Predigt lässt nicht lange auf sich warten. Wenige Minuten nach dem Ende des Gebets rückt eine Panzerkolonne der 1. US-Kavalleriedivision auf die Moschee vor. Scheich Nasr Saidi soll verhaftet werden. Die Luken sind geschlossen, die Geschütztürme drehen sich suchend nach allen Seiten. In den Seitenstraßen sammeln sich empörte junge Männer.
Schon gestern habe man zwei Panzer in Flammen aufgehen lassen, erklären sie Akil, dem irakischen Redaktionsassistenten. Und die, die jetzt einrücken, werde man auch gleich angreifen. Es sei besser für uns, ins Auto zu springen und so schnell wie möglich wegzufahren.
Am Fenster des Kommunalratsgebäudes von Sadr City peilt Lieutenant Johnson zwischen Sandsäcken hindurch die Lage. Eigentlich soll der 25-Jährige mit seinen Leuten sicherstellen, dass der District Advisory Council einmal pro Woche über dringend nötige Infrastrukturmaßnahmen beraten kann. Strom, Wasser, Instandsetzung von Schulen, Benzinzuteilung – das sind Dinge, die den Menschen auf den Nägeln brennen. Doch von normaler Arbeit kann hier schon längst nicht mehr die Rede sein, meint Johnson. In erster Linie seien die GI’s damit befasst, sich selbst zu schützen.
Ende März sind wir hier angekommen, da war Sadr City einer der friedlichsten Orte im Irak. Jetzt ist es einer der gefährlichsten geworden. Die Situation hat sich dramatisch verschlechtert. Fragen Sie mich nicht, wie das passieren konnte. Alles, was ich weiß, ist, dass wir am vierten April unter schweren Beschuss geraten sind, und seitdem reißen die Kämpfe nicht mehr ab. Die meisten meiner Leute sind frustriert. Sie sind hierher gekommen, um zu helfen, die Infrastruktur hier wieder instand zu setzen. Viele hier scheinen das nicht zu verstehen, sie begreifen nicht, dass wir nur hier sind, um ihnen Hilfe zu leisten und statt sich zu bedanken, greifen sie uns an.
Iraker und Amerikaner scheinen manchmal auf unterschiedlichen Planeten zu leben. Die abgeschirmten Stützpunkte am Rande Bagdads sind ein Mikrokosmos. Eigene Zeitschriften und Radioprogramme wie der Bagdader Armeesender Freedom Radio bereiten die Ereignisse aus amerikanischer Perspektive auf. Kantinen schenken die gleichen Lebensmittel aus wie in den USA. Auf Fernsehschirmen flimmern Baseballspiele. Die meisten GI’s kommen mit dem Irak nur dann in Berührung, wenn sie zu einer der Patrouillen eingeteilt werden. Unter den Soldaten sind auch Reservisten, die sich aus ideellen oder religiösen Gründen freiwillig gemeldet haben, so wie Staff Sergeant Tim, ein Familienvater Ende vierzig.
Wir Amerikaner sind bereit, unser Leben zu riskieren, um den Irakern zu helfen. Ich bin Reservist und habe mich freiwillig hierher gemeldet, und das gilt für jeden einzelnen in meinem Team. Wir haben Kameraden gesehen, die von Bomben zerfetzt worden sind. Viele von uns haben auf diese Art schon ihr Leben für die Iraker geopfert. Ich finde, egal, welcher Religion man angehört, jeder sollte so für seinen Nächsten eintreten. Wenn jeder für seinen Nächsten das tut, was er selbst von ihm erwartet, dann kommen wir alle dem Garten Eden ein Stückchen näher.
Der Garten Eden ist so ziemlich das Letzte, woran Pater Vincent in diesen Tagen denkt. Im Bagdader Wohnviertel Karrade ist er Gemeindepfarrer für die christliche Minderheit. Wenn er nach der Messe aus der Kirche tritt, blickt er Sonntag für Sonntag auf eine kleiner gewordene Herde.
Mit dem Christentum im Irak ist es zu Ende. Die Lage ist schlecht, jeden Tag explodieren Bomben. Keine Schulen, gefährliche Schulwege. Viele Christen werden gekidnappt oder fliehen vor dem religiösen Extremismus. Jeder sagt: Es gibt keine Zukunft mehr für uns, lasst uns das Land verlassen. Die neue Regierung kann nicht einmal ein Mindestmaß an Sicherheit garantieren. Aus meiner Sicht ist das die schlimmste Folge dieses Kriegs, den Präsident Bush angezettelt hat. Ich unterstelle nicht, dass dies in seiner Absicht lag; aber, ohne es zu wollen, hat er das christliche Leben im Irak vernichtet. 2000 Jahre gab es Christen im Irak, wie waren siebenhundert Jahre vor dem Islam hier. Diese Geschichte ist jetzt zu Ende.
In den Straßen von Bagdad löst die neue Souveränität wenig Begeisterung aus. Für einen älteren Mann, den Besitzer eines Kramladens, ist sie durch ihre Zusammenarbeit mit den USA diskreditiert:
Was ist denn in dem Jahr nach dem Sturz Saddams geschehen? Es gibt keine Sicherheit, keine Elektrizität. Zu Saddams Zeiten hatten wir zwei Stunden Stromsperre pro Tag, jetzt haben wir fünf Stunden. Warum sollte die neue Regierung das ändern, wenn die Amerikaner das nicht ändern konnten? Alles hier dreht sich nur um die USA und ihre strategischen Interessen, wir Iraker haben in unserem Land nichts mehr zu sagen.
Von der Unzufriedenheit der Menschen versuchen selbsternannte Heilsbringer wie Muqtada al Sadr zu profitieren. Der religiöse Führer wandelt sich langsam aber sicher zum nationalen Freiheitshelden. Dass ändert sich auch dadurch nicht, dass Muqtada in kurzen Abständen Proklamationen herausgibt, die oft ebenso widersprüchlich wie wirkungslos sind. Ob sein jüngstes Waffenstillstandsangebot für Sadr City ernst gemeint ist und umgesetzt wird, darf bezweifelt werden. Wie in anderen Geschäften, hängt auch in diesem Kramladen ein Plakat auf dem der Schiitenführer als einer der drei Sterne in der irakischen Flagge erscheint. Und der zehnjähriger Sohn des Händlers träumt davon, in die Mahdi-Armee einzutreten.
Für mich sind die Mahdi-Soldaten Helden. Sie beschützen uns vor den Amerikanern. Ich würde auch gern einer von ihnen sein. Wir müssen sie aus unserem Land rauswerfen. Wir haben nicht die gleichen Waffen wie sie, aber dafür hilft uns Gott. Wir können Selbstmordanschläge durchführen. Ich möchte auch für meine Religion sterben. Ich will eine Brücke werden, auf der mein Volk in die Freiheit geht.
Angesichts der täglichen Berichte über Gewalt, Kämpfe, Bombenanschläge mag man über das "erste Volleyballturnier des neuen Irak" die Schultern zucken. Doch Veranstaltungen wie diese wiegen ganze Bataillone auf, meint Isam al Diwan, stellvertretender Minister für Jugend und Sport.
Wir arbeiten hart daran, im Irak den Sport wieder aufzubauen, damit unsere jungen Leute nicht auf der Straße bleiben, und sich von irgendwelchen Unruhestiftern zur Gewalt verleiten lassen. Das Thema Sport hängt mit dem Thema Sicherheit zusammen. Wenn wir dem Sport und den Sportlern mehr Mittel an die Hand geben können, wird es uns besser gelingen, Unruhestifter von der Straße wegzubekommen.
Gerne wären die Kinder aus Sadr-City Volleyballspieler. Aber erstens gebe es dort keine Halle. Und selbst wenn man eine hätte, dann wäre der Weg dorthin viel zu gefährlich, denn in den letzten Wochen habe es dort jeden Tag Kämpfe zwischen Amerikanern und der Mahdi-Armee gegeben.
Momente lang scheint es in der Sporthalle von Bagdad als wäre der Frieden hergestellt, als hätte sich die Mission Iraqi Freedom glücklich erfüllt. Niemand hier scheint noch daran zu denken, dass auch an diesem Tage wieder Menschen im Irak von Bomben zerfetzt wurden. Draußen auf den Straßen Bagdads holt einen die Realität einen schnell wieder ein. Im zähflüssigen Stop-and-Go-Verkehr des Shoppingviertels Karrade schiebt sich ein Minibus vor einen PKW. Vier Männer springen heraus, zerren den Insassen des Autos aus der Tür, schubsen ihn in ihr Gefährt und brausen davon. Der Fahrer zuckt resigniert mit den Schultern:
Kidnapper. Die greifen sich jemanden, nehmen ihn mit und verlangen dann Lösegeld von der Familie. Ich weiß nicht wieso, aber nachmittags sind nie Polizisten auf der Straße. Weder Amerikaner, noch irakische Polizisten.
Schon wenige Tage vor Übergabe der Souveränität an den Irak beschränkt die US-Armee ihre Präsenz in Bagdads Straßen nur auf das Nötigste und überlässt der irakischen Polizei die Bekämpfung der Kriminalität. Von den meisten Basen im inneren Stadtgebiet sind die US-Einheiten zurückgezogen und an die Peripherie verlagert worden. Noch tun die irakischen Sicherheitskräfte sich schwer, die Bresche auszufüllen, sagt Leutnant Achmed, Chef einer Polizeistation im Viertel Salek.
Auf dieser Wache haben wir zwar genügend Gewehre, aber für das ganze Viertel nur zwei Polizeiautos, die allerdings nicht ausreichend gepanzert sind. Die Banden, die die Menschen auf der Straße kidnappen, schießen oft mit Maschinengewehren auf uns. Mit unseren leichten Feuerwaffen sind wir machtlos.
Der Leutnant will noch mehr erklären. Da öffnet ein Sergeant der US-Militärpolizei die Tür und beendet das Gespräch. Bevormundung; Unkenntnis; Arroganz und Schlamperei – das sei der Stil, mit dem die USA ihren Kredit bei der Bevölkerung verspielt hätten, meint Walid al Hilli, Generalsekretär der schiitischen Dawa-Partei, die mit einem Minister in der neuen Übergangsregierung vertreten ist.
Sehen Sie sich einfach die wachsende Zahl der Terroranschläge an und urteilen Sie selbst, ob das Konzept der US-geführten Koalition aufgegangen ist. In den letzten beiden Monaten ist die Gewalt dramatisch angewachsen. Das liegt ganz einfach daran, dass die Koalition das Sicherheitsdossier nicht uns Irakern überlassen hat, dass sie der irakischen Polizei keine Kompetenzen eingeräumt, ihr die angemessenen Waffen verweigert hat. Beinahe täglich hören wir, dass die Amerikaner wieder neue Gefangene aus dem berüchtigten Abu Ghraib-Gefängnis freigelassen haben. Nur: fragt eigentlich jemand, wer da freigelassen wird? Die Amerikaner haben nicht nur politische Gefangene nach Hause geschickt, sondern reihenweise Kriminelle. Ganze Gangsterbanden sind freigekommen, die, sobald sie draußen sind, organisiertes Verbrechen betreiben. Wir haben die Koalitionsbehörden gefragt, warum sie diese Leute auf unser Volk loslassen. Die Antwort war: Erstens sind diese Leute nicht gegen die USA aktiv geworden. Und zweitens haben wir nicht genügend Gefängnisse, um alle einzusperren.
Der größte Irrtum der US-Politik liegt nach Meinung al Hillis darin, die Iraker nicht von Anfang an in die Regierung eingebunden zu haben - und mit der Ernennung der neuen Übergangsregierung hätten die Amerikaner irakische Anliegen aufs Neue missachtet. Tatsächlich lässt sich fragen, weshalb die US-Regierung – bei der scheinbar selbstständigen Kandidatenlese durch den irakischen Regierungsrat - sich nicht für repräsentativere Persönlichkeiten entschieden hat. Denkbar gewesen wären Vertreter einer der gemäßigten schiitischen Gruppierungen. Persönlichkeiten, die über Partei- und Konfessionsgrenzen Rückhalt in der Bevölkerung genießen. Mit dem Technokraten Ghazi al Jawar auf dem Posten des de facto machtlosen Präsidenten hat Washington für den Angehörigen des al Schammar-Stammes optiert. Die Schammar leben über die ganze arabische Halbinsel verteilt und sind durch Heirat ans Herrscherhaus Saudi Arabiens gebunden. Bei Premierminister Alawi handelt es sich um einen langjährigen hohen Funktionär der Baath-Partei, der erst Anfang der 90er Jahre in den Widerstand gegangen ist.
Während dieser Zeit hat er, nach Recherchen von Beobachtern, gute Beziehungen zur CIA und zum britischen Geheimdienst MI 6 aufgebaut. Das Einzige, was ihm viele seiner Landsleute zugute halten, ist, dass er aufgrund dieser Nähe zu Washington und London, irakische Interessen effizient durchsetzen könnte. "Alawi", urteilt ein westlicher Diplomat in Bagdad " – das ist der Saddam-Light, den sich die USA für den Irak immer gewünscht haben." Trotz ihrer Bedenken hat sich die schiitische Dawa-Partei entschlossen, sich mit dem Posten des Vizepräsidenten an der neuen Administration zu beteiligen. Zur Zeit gebe es keine bessere Alternative, sagt Dawa-Generalsekretär al Hilli lakonisch. Man müsse um jeden Preis versuchen, das Steuer herumzureißen, bevor der Irak gänzlich im Chaos versinkt.
Alles, sogar die Auseinandersetzungen in Falludscha und mit der Mahdi-Armee des Schiitenpredigers Muqtada al Sadr können wir Iraker am besten unter uns selber lösen, und zwar auf friedliche Art. Und zwar dadurch, dass wir weder die radikalen Sunniten ausgrenzen, noch die radikalen Schiiten, wir müssen sie respektieren. Wir müssen ihnen einen Platz im politischen Leben einräumen, so dass sie sich in die Gesellschaft einbezogen fühlen. Wenn diese Probleme mit der Holzhammermethode angegangen werden, wird sich die Gewalt nur noch verschlimmern.
Manche Fehler lassen sich im nachhinein nicht reparieren.
Nicht nur Falludscha, das Widerstandsnest im so genannten Sunni-Dreieck hat sich der Zentralgewalt entzogen. In Sadr City, der Schiitenhochburg von Bagdad, ist ebenfalls ein Staat im Staat entstanden. Wo der Machtbereich der Regierung aufhört, steht ein US-Panzer mit geschlossener Luke an der Straße, als bewache er hier eine unsichtbare Grenze. Nach ein paar hundert Metern stößt man auf einen Checkpoint der Mahdi-Armee. Milizionäre des radikalen Schiitenführers Muqtada al Sadr kontrollieren alle Autos, die sich auf den Platz des wöchentlichen Freitagsgebets zubewegen. Die jungen Männer tragen Kalaschnikows und Patronengurte. Einige von ihnen haben sich kapuzenartige Masken über das Gesicht gezogen. Wenn sie die Daumen nach oben recken, darf man weiterfahren. Wenn nicht, dann nicht.
Wer den Checkpoint hinter sich gelassen hat, gelangt auf einen Moscheevorplatz, auf dem sich eine unübersehbare Menge junger Männer zum Freitagsgebet versammelt hat, es mögen Tausende sein. Ja, ja zur Unabhängigkeit! Ja, ja zum Dschihad! Jaja, Muqtada! rufen sie und schwenken Bilder mit dem bärtigen Mondgesicht ihres Idols. Der Bagdader Repräsentant Muqtada al Sadrs, Scheich Nasr Saidi, predigt, mitten in der Hauptstadt, den heiligen Krieg gegen die Koalition.
In diesen Zeiten ist es wichtig, die exakte Bedeutung des Wortes Dschihad zu kennen, denn leider verstehen viele dieses Wort nicht richtig. Wer in den heiligen Krieg zieht, der tut damit das gleiche wie jemand, der auf Pilgerfahrt nach Mekka geht. Wird er als Märtyrer getötet, geht er ins Paradies ein. Bleibt er am Leben, so reinigt ihn der Dschihad von allen Sünden, genauso wie die Pilgerfahrt nach Mekka.
Viele entziehen sich dem Dschihad mit der Ausrede, die Amerikaner seinen stärker als wir – oder die Zeit zum Widerstand sei noch nicht gekommen. Ich frage euch: Als Imam Hussein gegen die Übermacht der Omayaden in den Krieg zog, war er da nicht genau so unterlegen? Aber er kannte seine Pflicht. Wollt ihr seinem Beispiel nicht folgen? Selbst Kranke und Krüppel haben damals gekämpft – und ihr? Wollt ihr vor euren Fernsehern sitzen blieben und mit ansehen, wie andere an eurer Stelle sterben?
Die Antwort auf die Predigt lässt nicht lange auf sich warten. Wenige Minuten nach dem Ende des Gebets rückt eine Panzerkolonne der 1. US-Kavalleriedivision auf die Moschee vor. Scheich Nasr Saidi soll verhaftet werden. Die Luken sind geschlossen, die Geschütztürme drehen sich suchend nach allen Seiten. In den Seitenstraßen sammeln sich empörte junge Männer.
Schon gestern habe man zwei Panzer in Flammen aufgehen lassen, erklären sie Akil, dem irakischen Redaktionsassistenten. Und die, die jetzt einrücken, werde man auch gleich angreifen. Es sei besser für uns, ins Auto zu springen und so schnell wie möglich wegzufahren.
Am Fenster des Kommunalratsgebäudes von Sadr City peilt Lieutenant Johnson zwischen Sandsäcken hindurch die Lage. Eigentlich soll der 25-Jährige mit seinen Leuten sicherstellen, dass der District Advisory Council einmal pro Woche über dringend nötige Infrastrukturmaßnahmen beraten kann. Strom, Wasser, Instandsetzung von Schulen, Benzinzuteilung – das sind Dinge, die den Menschen auf den Nägeln brennen. Doch von normaler Arbeit kann hier schon längst nicht mehr die Rede sein, meint Johnson. In erster Linie seien die GI’s damit befasst, sich selbst zu schützen.
Ende März sind wir hier angekommen, da war Sadr City einer der friedlichsten Orte im Irak. Jetzt ist es einer der gefährlichsten geworden. Die Situation hat sich dramatisch verschlechtert. Fragen Sie mich nicht, wie das passieren konnte. Alles, was ich weiß, ist, dass wir am vierten April unter schweren Beschuss geraten sind, und seitdem reißen die Kämpfe nicht mehr ab. Die meisten meiner Leute sind frustriert. Sie sind hierher gekommen, um zu helfen, die Infrastruktur hier wieder instand zu setzen. Viele hier scheinen das nicht zu verstehen, sie begreifen nicht, dass wir nur hier sind, um ihnen Hilfe zu leisten und statt sich zu bedanken, greifen sie uns an.
Iraker und Amerikaner scheinen manchmal auf unterschiedlichen Planeten zu leben. Die abgeschirmten Stützpunkte am Rande Bagdads sind ein Mikrokosmos. Eigene Zeitschriften und Radioprogramme wie der Bagdader Armeesender Freedom Radio bereiten die Ereignisse aus amerikanischer Perspektive auf. Kantinen schenken die gleichen Lebensmittel aus wie in den USA. Auf Fernsehschirmen flimmern Baseballspiele. Die meisten GI’s kommen mit dem Irak nur dann in Berührung, wenn sie zu einer der Patrouillen eingeteilt werden. Unter den Soldaten sind auch Reservisten, die sich aus ideellen oder religiösen Gründen freiwillig gemeldet haben, so wie Staff Sergeant Tim, ein Familienvater Ende vierzig.
Wir Amerikaner sind bereit, unser Leben zu riskieren, um den Irakern zu helfen. Ich bin Reservist und habe mich freiwillig hierher gemeldet, und das gilt für jeden einzelnen in meinem Team. Wir haben Kameraden gesehen, die von Bomben zerfetzt worden sind. Viele von uns haben auf diese Art schon ihr Leben für die Iraker geopfert. Ich finde, egal, welcher Religion man angehört, jeder sollte so für seinen Nächsten eintreten. Wenn jeder für seinen Nächsten das tut, was er selbst von ihm erwartet, dann kommen wir alle dem Garten Eden ein Stückchen näher.
Der Garten Eden ist so ziemlich das Letzte, woran Pater Vincent in diesen Tagen denkt. Im Bagdader Wohnviertel Karrade ist er Gemeindepfarrer für die christliche Minderheit. Wenn er nach der Messe aus der Kirche tritt, blickt er Sonntag für Sonntag auf eine kleiner gewordene Herde.
Mit dem Christentum im Irak ist es zu Ende. Die Lage ist schlecht, jeden Tag explodieren Bomben. Keine Schulen, gefährliche Schulwege. Viele Christen werden gekidnappt oder fliehen vor dem religiösen Extremismus. Jeder sagt: Es gibt keine Zukunft mehr für uns, lasst uns das Land verlassen. Die neue Regierung kann nicht einmal ein Mindestmaß an Sicherheit garantieren. Aus meiner Sicht ist das die schlimmste Folge dieses Kriegs, den Präsident Bush angezettelt hat. Ich unterstelle nicht, dass dies in seiner Absicht lag; aber, ohne es zu wollen, hat er das christliche Leben im Irak vernichtet. 2000 Jahre gab es Christen im Irak, wie waren siebenhundert Jahre vor dem Islam hier. Diese Geschichte ist jetzt zu Ende.
In den Straßen von Bagdad löst die neue Souveränität wenig Begeisterung aus. Für einen älteren Mann, den Besitzer eines Kramladens, ist sie durch ihre Zusammenarbeit mit den USA diskreditiert:
Was ist denn in dem Jahr nach dem Sturz Saddams geschehen? Es gibt keine Sicherheit, keine Elektrizität. Zu Saddams Zeiten hatten wir zwei Stunden Stromsperre pro Tag, jetzt haben wir fünf Stunden. Warum sollte die neue Regierung das ändern, wenn die Amerikaner das nicht ändern konnten? Alles hier dreht sich nur um die USA und ihre strategischen Interessen, wir Iraker haben in unserem Land nichts mehr zu sagen.
Von der Unzufriedenheit der Menschen versuchen selbsternannte Heilsbringer wie Muqtada al Sadr zu profitieren. Der religiöse Führer wandelt sich langsam aber sicher zum nationalen Freiheitshelden. Dass ändert sich auch dadurch nicht, dass Muqtada in kurzen Abständen Proklamationen herausgibt, die oft ebenso widersprüchlich wie wirkungslos sind. Ob sein jüngstes Waffenstillstandsangebot für Sadr City ernst gemeint ist und umgesetzt wird, darf bezweifelt werden. Wie in anderen Geschäften, hängt auch in diesem Kramladen ein Plakat auf dem der Schiitenführer als einer der drei Sterne in der irakischen Flagge erscheint. Und der zehnjähriger Sohn des Händlers träumt davon, in die Mahdi-Armee einzutreten.
Für mich sind die Mahdi-Soldaten Helden. Sie beschützen uns vor den Amerikanern. Ich würde auch gern einer von ihnen sein. Wir müssen sie aus unserem Land rauswerfen. Wir haben nicht die gleichen Waffen wie sie, aber dafür hilft uns Gott. Wir können Selbstmordanschläge durchführen. Ich möchte auch für meine Religion sterben. Ich will eine Brücke werden, auf der mein Volk in die Freiheit geht.
Angesichts der täglichen Berichte über Gewalt, Kämpfe, Bombenanschläge mag man über das "erste Volleyballturnier des neuen Irak" die Schultern zucken. Doch Veranstaltungen wie diese wiegen ganze Bataillone auf, meint Isam al Diwan, stellvertretender Minister für Jugend und Sport.
Wir arbeiten hart daran, im Irak den Sport wieder aufzubauen, damit unsere jungen Leute nicht auf der Straße bleiben, und sich von irgendwelchen Unruhestiftern zur Gewalt verleiten lassen. Das Thema Sport hängt mit dem Thema Sicherheit zusammen. Wenn wir dem Sport und den Sportlern mehr Mittel an die Hand geben können, wird es uns besser gelingen, Unruhestifter von der Straße wegzubekommen.
Gerne wären die Kinder aus Sadr-City Volleyballspieler. Aber erstens gebe es dort keine Halle. Und selbst wenn man eine hätte, dann wäre der Weg dorthin viel zu gefährlich, denn in den letzten Wochen habe es dort jeden Tag Kämpfe zwischen Amerikanern und der Mahdi-Armee gegeben.