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Terrorabwehr
Von Israel lernen

Angesichts der Bedrohungen durch den Terrorismus können die europäischen Staaten nach Ansicht von Shimon Stein von Israel lernen. In seinem Land gehörten die Bemühungen, derartige Bedrohungen zu verringern, längst zum Alltag, sagte der frühere israelische Botschafter in Berlin im Deutschlandfunk. So sei es etwa gang und gäbe, dass in Einkaufszentren Taschen durchleuchtet würden.

Shimon Stein im Gespräch mit Dirk Müller |
    Shimon Stein, ehemaliger Botschafter des Staates Israel in Deutschland, vor der israelischen Flagge.
    Shimon Stein, ehemaliger Botschafter des Staates Israel in Deutschland, vor der israelischen Flagge. (picture alliance / dpa / Peter Endig)
    Großbritannien sei hier schon deutlich weiter, meinte Stein. Dort gebe es erheblich weniger Terrorattacken als etwa in Frankreich, obwohl Großbritannien am Irakkrieg teilgenommen habe. Die Briten hätten aber viel für die innere Sicherheit getan, etwa im Bereich der Nachrichtendienste.
    "Das ist ein Lernprozess", sagte Stein. Es sei unausweichlich, dass sich hier eine Debatte entfalte. So sei schon eine politische Diskussion über die Ausrüstung der Polizei zu beobachten. Die Gesellschaft in Israel sei darauf eingestellt, "dass man sich immer wieder neu einstellen muss".

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Das muss wohl alles gar nicht mehr sein. Jahrelanges Training in entlegenen Wüstencamps, Schießen lernen, Bomben bauen lernen, Sprengsätze zünden lernen, Religion lernen, Anschläge machen lernen, erst im Kleinen und dann später auch im Großen. Das geht ja jetzt auch alles per Internet, per Mail, per SMS oder auch per Smartphone. Auf Zuruf, ganz, ganz schnell, wenn es sein muss. Bei den Attentätern von Würzburg und Ansbach soll das so gewesen sein, fernmündliche Kontakte zu Dschihadisten in Saudi-Arabien, berichten jedenfalls deutsche Medien, die dann eben Tipps gaben, diese Journalisten (*), zum Beispiel: Fahr doch lieber mit einem Auto in die Menge, das gibt mehr Tote! – Wir erinnern uns an Nizza. Doch der Attentäter konnte nicht Auto fahren, er hatte keinen Führerschein. Töten mit der Axt, mit dem Messer, auch mit kleinen Pistolen, ausgeführt von nicht ausgebildeten Kämpfern – eine Art ziviler Terror. Wie kann und soll eine Gesellschaft damit umgehen, wenn dies jetzt nun überall zu jedem Zeitpunkt irgendwo passieren kann? Unser Thema mit Schimon Stein, früherer israelischer Botschafter in Deutschland, jetzt beim Institut für nationale Sicherheitsstudien an der Universität in Tel Aviv. Aus Israel kennt Schimon Stein den Alltagsterror, wie viele Millionen seiner Landsleute auch. Guten Morgen!
    Schimon Stein: Guten Morgen!
    Müller: Herr Stein, kann man das lernen, mit dem Terror leben zu müssen?
    Stein: Ja, ob man es lernen kann … Ja, in gewisser Hinsicht kann mit dem Terror, der ein Alltag ist, auch zu leben lernen. Wobei, man soll sich ja nicht in Illusionen begeben, dass es da eine hundertprozentige Sicherheit gibt und dass man sicher sein kann, dass man, wenn man auf die Straße geht, in die Schule, in den Bus, dass man dann auch hundertprozentig nach Hause zurückkommt. Das war der Fall zum Beispiel bei mir persönlich in Israel gewesen, ich war hier Botschafter, als die zweite Intifada losging. Ich hatte zwei Kinder, die in die Schule gegangen sind, und sie sind auch mit dem Bus gefahren. Und die Familie Stein war ja nicht sicher, wenn ihre Kinder mit dem Bus fahren, ob sie auch dann nach Hause kommen werden. Insofern, ja, das ist ein Alltag und mit diesem Alltag muss man, so bitter es klingt, auch lernen müssen.
    "Dieses Klischee gilt, dass man nirgendwo sicher sein kann"
    Müller: Wir haben ja vor vielen Jahren auch schon mal darüber gesprochen, wir haben über Sie gesprochen in jüngeren Jahren, Sie haben dann auch auf Familie, auf Bekannte verwiesen, die eben schon als Kind, als Jugendliche permanent mit dieser Gefahr konfrontiert werden. Ist es da ein bisschen tröstlich – jetzt in Anführungszeichen gesetzt –, dass man sich frühzeitig daran gewöhnt?
    Stein: Ja, in gewisser Hinsicht, also … Ich meine, der Mensch ist anpassungsfähig. Und wenn es eigentlich im Bewusstsein ist, dass das zum Alltag gehört, dann muss man sich abfinden. Weil, wie ich sagte: Dieses Klischee gilt, dass man nirgendwo sicher sein kann, dass man unversehrt dann zurück nach Hause kehrt. Aber die israelische Gesellschaft hat sich eigentlich auch darauf eingestellt. Und wenn ich meine Gesellschaft, meine ich auch den Staat. Wissen Sie, mir ist es manchmal ganz merkwürdig, wenn ich in Berlin in die Philharmonie gehe, in Einkaufszentren gehe. In Israel ist das gang und gäbe, dass, wenn Sie in Einkaufszentren … Bevor Sie eintreten, gibt es Maschinen, die Ihre Taschen screenen, wo man Sie auch körperlich eben checkt. Und trotzdem passieren Dinge, aber die, glaube ich, Bemühungen, das zu verringern, ist in einer Gesellschaft, die von Terror traumatisiert ist, Alltag. Und das ist in Deutschland noch nicht der Fall. Es sagen hier Menschen, ach was, es wird bei uns nie der Fall sein, dass, wenn man in Einkaufszentren geht, auch durchgescreent wird, die Tasche geprüft wird. Ob das so weit in Deutschland sein wird, weiß ich nicht, aber die deutsche Gesellschaft genauso wie die französische, die belgische, ist noch nicht hundertprozentig darauf eingestellt.
    Müller: Ja, reden wir vielleicht noch einmal ganz kurz über Israel. Da fällt mir ein, als wir vor vielen, vielen Jahren mit einer Journalistengruppe zu Gast waren nicht Israel, sind abends ausgegangen, beispielsweise in Jerusalem, aber auch in Tel Aviv, in einen normalen Linienbus gestiegen damals, kamen uns junge israelische Männer, auch Frauen entgegen, sind dort eingestiegen, in den Bus, waren aus meiner Erinnerung 18, 19, 20, 21 Jahre und hatten Maschinenpistolen umgehängt, darunter T-Shirt und Jeans, und fuhren dann in eine Disco oder in eine Kneipe. Für uns vollkommen unvorstellbar. Sind das Bilder, die auch nach Europa kommen werden?
    "Dilemma zwischen mehr Sicherheit auf Kosten der Freiheit"
    Stein: Ich kann Ihnen hier nicht sagen … Es kommt darauf an, ob … Wissen Sie, in der Bekämpfung des Terrors gibt es das klassische Dilemma für Demokratien, und das ist das Dilemma zwischen mehr Sicherheit auf Kosten der Freiheit. Inwieweit ist die Gesellschaft eingestellt, dass sie bereit ist, viel mehr für die Sicherheit zu tun, mit gewissen Kosten verbunden? Ob man so weit in Deutschland ist, weiß ich nicht, aber wenn Sie Großbritannien als Beispiel geben, da, glaube ich, haben die Briten eine ganze Menge getan. Sie waren auch im Irak und trotzdem, glaube ich, ist der Terror in Großbritannien deutlich weniger als in Frankreich, die ja eigentlich den Irak-Krieg total abgelehnt haben, und in Belgien. Da fragt man sich, wieso ist die Zahl des Terrors in Großbritannien zurückgegangen? Und ich glaube, der Staat hat eine ganze Menge getan im Bereich der inneren Sicherheit, im Bereich der Nachrichtendienste. Das ist ja nicht so, dass, was Sie über Israel erzählt haben, dass wir frei trotz alledem von Terror sind. Wir sind nicht frei von Terror.
    Müller: Es hat viele Messerattentaten gegeben in den zurückliegenden Monaten.
    Stein: Ja. Das ist ein anderes Phänomen, auch die Frage, ob man sich vorbereiten kann. Denn diese letzte sogenannte dritte Intifada kommt von Individuen, die ja nicht eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation haben, die ja nicht ferngesteuert sind. Sie stehen eines Tages eben auf, entweder, weil sie im Internet alles, was Sie schon bereits früher erzählt haben, gesehen haben, weil sie sich radikalisiert haben, weil sie ja frustriert über ihre wirtschaftliche Lage … Dazu kommt, dass bei uns die Palästinenser auch ein politisches Anliegen eben haben, und der Terror als politisches Mittel … Aber es bedarf heute ja nicht allzu viel, dass eine Einzelperson motiviert ist, das ausübt, was wir schon bereits auch in Deutschland gesehen haben.
    Zunehmende Gefahr durch Einzeltäter
    Müller: Genau, wir haben es ja jetzt schon in Europa, auch in Deutschland gesehen. Müssen wir uns da als Deutsche, als Europäer, als Westeuropäer, wie auch immer, ganz klar darauf einstellen, dass es ganz viele … ich weiß gar nicht, wie man das nennen soll: singuläre Terroristen gibt? Also, ich habe das eben in der Anmoderation als zivilen Terror bezeichnet, wie Sie es gerade auch beschrieben haben, dass jemand in seinem Kämmerlein, in seiner zurückgezogenen Stube plötzlich auf die Idee kommt, ich muss da was machen, ich muss zur Gewalt greifen, zum Messer, wie auch immer?
    Stein: Ja, das ist … Wie gesagt, bei uns war es wirklich schwierig. Im Gegensatz zu der sogenannten ersten und zweiten Intifada, die ja gesteuert waren von Organisationen, die organisiert zum Teil auch waren, aber die sogenannte dritte Intifada in den letzten Monaten, da sind einzelne Personen. Und so stehen wir vor einer Herausforderung und das hat auch der israelische Generalstabschef gesagt: Da gibt es also Individuen, die nicht gesteuert sind. Wobei es auch schwierig ist, ein Profil herauszustellen, wer sind die? Insofern, ja, also, einzelne Personen, die heute durch das Internet motiviert sind, die ein besonderes Anliegen haben, sind in der Lage, auf die Straße zu gehen mit dieser Axt in Ansbach oder in Jerusalem, und ihre Taten auszuüben. Kann man sich vorbereiten? In gewisser Hinsicht, glaube ich, etwas mehr Sicherheit auf den Straßen, die langsam in Deutschland auch zum Alltag gehören, bessere Nachrichtendienste, Erziehung ist ja immer eine Sache, die man in diesem Zusammenhang auch erwähnt. Man kann sich darauf einstellen, aber man soll sich nicht in Illusionen begeben, dass man frei von Terror heute auch in Europa sein kann.
    Man muss sich immer "auf neue Phänomene des Terrors einstellen"
    Müller: Herr Stein, ich muss Sie das noch mal fragen, Sie haben eben schon gesagt, sie wissen nicht, wie das in Deutschland ist. Das war bestimmt etwas rhetorisch von Ihnen gemeint. Sie sind zwar immer noch diplomatisch, aber ja kein Diplomat mehr offiziell. Macht Deutschland zu wenig in diesen Punkten? Oder andersherum gefragt: Sind wir nicht bereit, unsere Freiheiten, Freiheitsrechte einzuschränken?
    Stein: Das ist ein Lernprozess. Ich meine bis heute … Und die verschiedenen Fälle, die Sie erwähnt haben, sind verschiedene Fälle, die ja nicht in einen Topf geworfen werden dürfen, aber eine Gesellschaft passt sich eben an. Und ich glaube, es wird auch in Deutschland, wenn der Terror weiter zunimmt in Deutschland, dann, glaube ich, wird sich auch eine gesellschaftliche Debatte entfachen, inwieweit ist diese Gesellschaft bereit, auch Freiheiten aufzugeben? Es ist ja manchmal unangenehm, aber unausweichlich, in diesem Dilemma zwischen mehr Sicherheit und etwas weniger Freiheit. Da merke ich schon, beobachte ich schon bereits eine politische Diskussion, ob die Polizei ausreichend ausgerüstet ist und was getan werden muss. Insofern, Sie sehen schon bereits, dass die Politik sehr aufmerksam die Debatte verfolgt. Und ich meine, Israel ist in einem Dauerzustand von Terror und wir lernen immer und wieder weiter. Aber grundsätzlich ist die Gesellschaft in Israel eingestellt, dass man mehr tun muss, mit bestimmten Grenzen wohl wissend, aber dass man immer neu sich auf die neuen Phänomene des Terrors einstellen muss, mit dem Wissen, dass es auch am Ende nach allen Anstrengungen passieren kann.
    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk Schimon Stein, der frühere israelische Botschafter in Deutschland. Danke, dass Sie für uns Zeit gefunden haben, Ihnen noch einen schönen Tag!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    (*) Der Moderator meinte in diesem Fall nicht Journalisten, sondern Dschihadisten.