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Terroranschläge in Frankreich
"Es sind eher einsame Wölfe"

Die mutmaßlich islamistischen Anschläge in Frankreich wie die Tötung eines Lehrers oder die Messerattacke in Nizza seien zurückzuführen auf Einzeltäter, die sich im Internet radikalisierten, sagte der Politologe Hans Stark im Dlf. Eine wichtige Rolle spielten Imame, auf die der Staat aber wenig Einfluss habe.

Hans Stark im Interview mit Christoph Heinemann |
Basilika de Notre Dame in Nizza
Die Basilika von Notre Dame in Nizza, wo ein junger Tunesier drei Menschen tötete (imago images / Xinhua)
Bei einer Messerattacke in einer Kirche in Nizza wurden am Donnerstag (29.10.2020) mindestens drei Menschen getötet und weitere verletzt. Der Tatverdächtige war nach Erkenntnissen der Pariser Anti-Terror-Staatsanwaltschaft im September von Tunesien aus zunächst auf der italienischen Insel Lampedusa eingetroffen und im Oktober nach Paris weiter gereist. Zuvor war es nach der Wiederveröffentlichung der Mohammed-Karikaturen in der Zeitschrift "Charlie Hebdo" in Paris zu Angriffen auf Menschen gekommen und der Geschichtslehrer Samuel Paty wurde von einem mutmaßlichen Islamisten enthauptet.
Die Imane seien mögllicherweise die einzigen, die solche Einzeltäter noch erreichen könnten, sagte Hans Stark von der Universität Sorbonne, wo er am französischen Institut für internationale Beziehungen (IFRI) arbeitet. Die Schwierigkeit bestehe darin, dass aufgrund der Trennung von Kirche und Staat Imame in Frankreich nicht ausgebildet, sondern "importiert" würden - etwa aus der Türkei. Eine Lösung könne sein, französischstämmige muslimische Geistliche in Frankreich auszubilden. Es müsse eine viel stärkere Zusammenarbeit geben zwischen dem französischen Staat und den Glaubensgemeinschaften.
Der französische Justizminister Eric Dupond-Moretti, Innenminister Gerald Darmanin und Präsident Emmanuel Macron besuchen nach der Messerattacke die Kirche Notre-Dame in Nizza.
Attacke von Nizza - "Der islamistische Terror hat eine neue Qualität"
Terroristen griffen nun gezielt Symbole der französischen Identität an, sagte der Pariser Essayist Jürgen Ritte im Dlf. Frankreich biete einen Kontext, der es islamistischen Taten leichter mache – auch aufgrund der Kolonialgeschichte.
Heinemann: Herr Stark, wie wirken sich diese Anschläge, der von Nizza, auch der vorherige von Paris, auf das Zusammenleben des nichtmuslimischen und des muslimischen Teils der Bevölkerung aus?
Stark: Natürlich negativ. Selbstverständlich können die Franzosen, sagen wir mal, abstrahieren und sie sind sich der Tatsache bewusst, dass die wirklich überwältigend große Mehrheit der Muslime in Frankreich mit der säkularen Ordnung und sogar auch mit der Trennung von Kirche und Staat in Frankreich einverstanden ist und im Grunde genommen ja auch relativ frei seinen Glauben ausleben kann, vielleicht freier als in manchen anderen Ländern in der arabischen Welt.
Aber alles, was die Tendenz unterstreicht zu einer Parallelgesellschaft der muslimischen Bevölkerung, Spaltung der Bevölkerung in religiöse und ethnische Teile, die ja auch vom Staatspräsidenten Macron stark kritisiert worden ist, das wird dazu führen, dass viele Franzosen jetzt noch negativer darauf reagieren, dass es Moscheen gibt in Frankreich, dass Halal-Produkte angeboten werden in Supermärkten, auch darüber hat sogar der französische Innenminister sich kritisch geäußert, bis hin zu der Tatsache, dass in Frankreich es eine Tatsache ist – und dessen sind sich auch die Franzosen bewusst -, dass es eine Art Archipeltum gibt, eine Spaltung der französischen Gesellschaft in kleine Einheiten, die untereinander kaum noch miteinander kommunizieren und in denen sich dann extremistischer Glaube, extremistischer Islamismus insbesondere ausbreiten kann, und das wird natürlich kritisiert.
Macron in der Nähe des Tatortes
Eine Debatte über Islamismus ist in Frankreich überfällig
Nach der Wiederveröffentlichung der Mohammed-Karikaturen wurde ein Mann Opfer eines Anschlags. Frankreich müsse sich endlich einer Debatte über die Ursachen des Terrors stellen, meint Jürgen König.
Heinemann: Wie verbreitet sind denn diese Parallelgesellschaften in Frankreich?
Stark: Das ist schwer nach Zahlen abzuschätzen, zumal es ja auch in Frankreich keine Zählung gibt von der Bevölkerung nach religiösen Komponenten. Sondern man weiß, dass es um die Vororte herum, um die großen Städte herum, den sogenannten Banlieues, Gemeinden gibt, die sich der öffentlichen Ordnung entzogen haben und in denen es unglaublich schwierig ist für die Ordnungskräfte zu intervenieren, die Sache unter Kontrolle zu halten. Teilweise werden sie angegriffen. Es hat Angriffe gegeben auf Polizisten. Es hat vor ein paar Wochen einen Angriff auf eine Polizeistation gegeben, und zwar heftig mit Leuchtwerkskörpern. Das auch jetzt gerade in einem Umfeld mit dem Corona-Virus, wo die Bevölkerung in Frankreich sowieso sehr stark betroffen ist, das führt dazu, dass sehr starke Kritik an diesen Umständen geäußert wird.
"Postkolonialen Faktor nicht unterschätzen"
Heinemann: Hat die Republik in diesen Vorstädten kapituliert?
Stark: Kapituliert ist zu viel gesagt. Es ist einfach so, dass die politische Struktur in Frankreich sehr stark zentralistisch organisiert ist. Es gibt keine föderalen Strukturen, es gibt keine dezentralen Strukturen und der Staat kann nicht alles regieren und regulieren. Dadurch, durch die starke Zentralisierung gibt es eine ganz normale Gegenbewegung. Diese Gegenbewegung sind mehr oder weniger autonom sich gestaltende, aber sich der öffentlichen Macht entziehende Gemeinden, Strukturen, Gesellschaften. Das hängt damit zusammen.
Dann haben wir natürlich auch noch den postkolonialen Faktor, den man nicht unterschätzen darf, der sehr stark auch mit einspielt – die Tatsache, dass wir jetzt auch muslimische Einwanderer in der dritten Generation haben, die da unter dem Fakt leiden, dass der soziale Aufstieg in Frankreich immer schwieriger sich gestaltet. Das hängt mit der Wirtschaftskrise zusammen, das hängt auch mit der starken demographischen Entwicklung in Frankreich zusammen. Junge Menschen haben es schwierig, wenn sie nicht gut ausgebildet sind, an einen Arbeitsplatz zu kommen. Und wenn sie dann noch aus bestimmten Vororten kommen und auf ihrem Lebenslauf die Adresse steht, zum Beispiel die von Saint Donye – das ist die Postleitzahl 93 -, dann wissen sie, dass sie sehr, sehr schwere Umstände haben, um überhaupt eine Karriere machen zu können.
Heinemann: Herr Stark, trauen sich Lehrerinnen und Lehrer in diesen Vorstädten mit hoher arabischstämmiger Bevölkerung noch, Themen wie Meinungsfreiheit, Holocaust oder Laizität anzusprechen?
Stark: Sie trauen sich, wobei allerdings auch viele Lehrer inzwischen eingestehen, dass es so schwierig geworden ist, dass sie versuchen, es zu vermeiden. Aber es steht erstens auf dem Lehrplan und zum zweiten hat man jetzt gerade gesehen, auch bei der Ermordung von dem Lehrer Samuel Paty und den von Ihnen angesprochenen Mohammed-Karikaturen, die damit im Zusammenhang stehen, dass für viele Franzosen und insbesondere auch für die Lehrer eigentlich gerade die Benutzung solchen Informations- und Unterrichtsmaterials notwendig ist, aus ihrer Sicht notwendig ist – erstens, um die Meinungsfreiheit in Frankreich zu erhalten, und zweitens auch, um die jungen Menschen, die Jugendlichen zu erreichen und ihnen bestimmte Werte zu vermitteln. Zu diesen Werten gehört auch die Benutzung politischer Karikaturen, die so weit gehen wie die Mohammed-Karikaturen, die in anderen Ländern des westlichen Europas, die auch demokratisch strukturiert sind, nicht verwendet werden. Aber in Frankreich schon. Auch eine Zeitschrift wie Charlie Hebdo, auf dessen Redakteure ja 2015 ein Attentat verübt worden ist, ist eigentlich eher eine Ausnahme in der europäischen Blätterwelt. Es gibt kein Äquivalent in vielen anderen Ländern Westeuropas von Charlie Hebdo. Aber in Frankreich ja. Es gibt in Frankreich nicht nur ein Charlie Hebdo, sondern übrigens mehrere.
"Nicht bewusst die Identität des Landes angreifen"
Heinemann: Samuel Paty, der Lehrer in Conflans-Sainte-Honorine, war Vertreter der Republikanischen Institution Schule – in Frankreich ganz wichtig. Die Kathedrale von Nizza steht für Frankreichs Geschichte, für die Tradition des Landes als älteste Tochter der Katholischen Kirche. Gehen Sie davon aus, dass Islamisten gezielt die Identität des Landes anzugreifen versuchen?
Stark: Ich gehe nicht davon aus, dass sie wirklich bewusst die Identität des Landes angreifen wollen. Ich glaube nicht, dass die jungen Menschen, die das getan haben – das war ein 18-jähriger Tschetschene, der vor zwei Wochen Samuel Paty angegriffen hat und ermordet hat; gestern, Sie haben es gerade unterstrichen, war es ein 21-Jähriger aus Tunesien -, ob die in ihrer strategischen Ausrichtung und ihrer Radikalisierung so weit gehen, dass sie das Land als solches angreifen wollen mit seinen Werten, mit seiner Identität, das weiß ich nicht. Sie sind so stark radikalisiert durch das Internet, dass sie sich gezielte Objekte suchen und die angreifen.
Es war ein Lehrer, der die Mohammed-Karikaturen besprochen hat. Wäre das gleiche in einem anderen Umfeld geschehen, in einem Sportclub zum Beispiel oder wo auch immer, wäre jemand anders wahrscheinlich das Opfer geworden. Das war vielleicht ein Zufall, dass es einen Lehrer getroffen hat. Vor fünf Jahren waren es die Chefredakteure einer Zeitschrift. Also ich glaube nicht, dass es dort einen gezielten Angriff gibt von Terrorstrukturen, Terrororganisationen. Es sind eher einsame Wölfe, die agieren alleine, die sich selbst radikalisieren im Internet und dann zugreifen.
Heinemann: Beteiligen sich Musliminnen und Muslime am Kampf gegen den Islamismus?
Stark: Aus französischer Sicht nicht genug. Man hätte es sicherlich gewünscht, dass sich die Mehrheit der muslimischen Bevölkerung, die sich vom radikalen Islamismus distanziert, noch stärker äußert dazu, dass diese Radikalisierung zu bekämpfen ist. Aber die Schwierigkeit besteht darin, dass aufgrund der Trennung von Kirche und Staat in Frankreich durch das Gesetz von 1905 Imame in Frankreich nicht ausgebildet werden, sondern sie werden importiert – übrigens sehr viele aus der Türkei, wo es ja inzwischen auch Spannungen gibt zwischen Macron und Erdogan in der gleichen Angelegenheit, aber auch aus Saudi-Arabien. Der französische Staat hat sehr wenig Zugriff, sehr wenig Einflussmöglichkeiten auf diese Imame und letztlich sind es die Moscheen und die Imame, die diese Individuen vielleicht noch erreichen können, um in einem Austausch mit ihnen solche Akte, wie wir sie gestern und vor zwei Wochen gesehen haben, zu verhindern. Aber das setzt voraus, dass wir französische, französischstämmige muslimische Geistliche in Frankreich ausbilden und dass es eine viel stärkere Zusammenarbeit gibt zwischen dem französischen Staat und den Glaubensgemeinschaften, und das ist sehr schwierig durch die Trennung von Kirche und Staat.
"Die Rechtsextremisten werden profitieren"
Heinemann: Herr Stark, leiten diese Anschläge Wasser auf die Mühlen der Rechtsextremisten?
Stark: Die Rechtsextremisten werden natürlich davon profitieren – politisch. Nichts desto weniger ist es einfach so, dass es eine Grenze gibt in der französischen Wählerschaft, über die hinaus die Partei von Marine Le Pen einfach nicht kommen kann. Sie haben eine Glasdecke von, sagen wir mal, knapp 22 bis 23 Prozent, was hoch ist in Frankreich, aber darüber hinaus sehe ich eigentlich keine Möglichkeit für die Partei von Le Pen, davon zu profitieren.
Was hingegen mir eventuell Sorgen machen würde, wäre eine Annäherung der konservativen Republikanischen Partei und der Partei von Marine Le Pen, zum Teil auch aufgrund jetzt dieser Verbrechen. Das ist etwas, was in der Konservativen Partei in Frankreich sowieso schon länger besprochen wird, was zum Teil auch diese Partei spaltet, aber es möglicherweise starken konservativen Kräften in der Partei jetzt Aufwind gibt, um sich der Partei von Le Pen anzunähern und mit ihr gemeinsam, sagen wir in einer Form einer Koalition oder einer Duldung, in irgendeiner Form jedenfalls Macron unter Druck zu bringen und dann 2022, wenn wir hier Wahlen haben in Frankreich, eine neue Mehrheit auf die Beine zu stellen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.