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Terroranschläge in Paris 2015
"Opfer für das ganze Land"

Die Sorbonne-Professorin Hélène Miard-Delacroix hat anlässlich des Jahrestages der islamistischen Attentate in Paris betont, wie wichtig gemeinsame Trauer für eine Gesellschaft ist. Gleichzeitig sei auch Europa gefordert. Die destruktiven Kräfte richten sich nicht nur gegen Frankreich, sagte sie im Dlf.

Hélène Miard-Delacroix im Gespräch mit Ursula Welter |
Das Konzerthaus Bataclan im XI. Arrondissement am 50 Boulevard Voltaire, Paris. Am 13. November 2015 wurden im Zuge einer Terroranschlagserie in Paris hunderte Konzertbesucher im Konzertsaal des Bataclan von drei schwer bewaffneten Terroristen als Geiseln genommen und 89 getötet.
Am 13. November 2015 wurden bei Terror-Anschlägen in Paris 130 Menschen getötet - der Konzertsaal Bataclan war einer der Schauplätze der Verbrechen (imago / Starface)
Am 13. November jähren sich die Anschläge von Paris mit 130 Toten und einigen Hundert Verletzten zum fünften Mal. Nach den Attentaten auf die Redaktionsräume des Satiremagazins "Charlie Hebdo" waren die November-Angriffe der zweite schwere Schlag gegen Frankreich im Jahr 2015. Seither hat es viele weitere islamistisch getriebene Attentate gegeben - zuletzt in diesem Herbst. Der Mechanismus sei der gleiche, meint die Historikerin Hélène Miard-Delacroix: Die Gesellschaft erlebe einen brutalen Angriff auf Mitbürger erlebt, die dann sozusagen Opfer für das ganze Land seien.
Eine Rose und Kerzen stehen auf der Straße, darunter der Schriftzug "Je suis Charlie"
Prozessauftakt in Paris - Charlie Hebdo und die nationale Traumabewältigung
Mit dem Prozessauftakt zum Anschlag auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" wird Frankreich erneut mit der Frage konfrontiert, wie es zur freien Meinungsäußerung und zum Islamismus steht.
Ursula Welter: Wie denken Sie an jenen 13. November 2015 zurück ?
Hélène Miard-Delacroix: Für mich persönlich ist es eine ganz besondere Erinnerung, weil es ist der Tag, an dem der Geburtstag meines Sohnes gefeiert wurde, sodass ich meine drei erwachsenen Kinder zu Hause hatte und die übers Fernsehen erfuhren, dass in einem Viertel, wo sie oft sich aufhalten, auf den Terrassen geschossen wurde. Ich als Mutter war sicher, dass meine Kinder bei mir waren, aber das war eine ziemlich dramatische Entwicklung, die wir da am Fernsehen feststellen konnten.
Hélène Miard-Delacroix ist Professorin für zeitgenössische Geschichte und Zivilisation Deutschlands an der Université Paris-Sorbonne. Sie ist Trägerin des deutschen Bundesverdienstkreuzes und des Internationalen Forschungspreises der Max Weber Stiftung 2017. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und der deutsch-französischen Beziehungen, insbesondere die deutsch-französische Perzeptionsgeschichte und die vergleichende Geschichte der politischen Kultur.
Fanatiker verfolgen andere Zwecke
Welter: Das ist also noch sehr präsent. Nun gab es in den vergangenen Wochen immer wieder Anschläge auf Frankreich, es gab wieder Tote, es gab wieder das Gedenken, es brannten Kerzen, der Zusammenhalt der Gesellschaft wurde beschworen, die Meinungsfreiheit, die Laicité, also die Trennung von Religion und Staat. Hat sich aus Ihrer Sicht seit 2015 etwas verändert in Frankreich, oder ist es sozusagen der gleiche Mechanismus, den wir sehen?
Miard-Delacroix: Im Prinzip ist es der gleiche Mechanismus, nämlich dass die Gesellschaft einen brutalen Angriff auf Mitbürger erlebt, die dann sozusagen Opfer für das ganze Land sind. Es könnten eigene Kinder, eigene Freunde sein, man könnte es selbst sein, und jedes Mal hat man mehr oder weniger die gleiche Reaktion, die völlig menschlich ist, nämlich Trauer, Angst und Interesse – selbstverständlich möchte man mehr wissen, was passiert, und dann eine gemeinsam organisierte Trauer, damit die Gesellschaft damit weiterleben kann.
Jedes Mal wird daran erinnert, dass wir zusammenhalten, dass die französische Gesellschaft auch eine quasi Familie ist, dass wir weiterhin eine Nation bilden und friedlich zusammenleben wollen, und dass diese Angriffe im Grunde wenig zu tun haben mit der Religion, in deren Namen sie verübt werden, sondern von fanatisierten Menschen, die andere Zwecke verfolgen.
Portrait von Claire Demesmay
Terror in Frankreich
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Der französische Staat hat aufgerüstet
Welter: Wenn wir auf die politische Ebene schauen – Emmanuel Macron hat gesagt, die Angst werde die Seite wechseln, als er sich mit dem "séparatisme islamiste" auseinandergesetzt hat, also mit der islamistischen Radikalisierung in bestimmten Bereichen der französischen Gesellschaft. Kann das gelingen, oder ist diese Spaltung, die Gefahr der Spaltung, die Sie ansprachen, immer noch und nach wie vor sehr groß?
Miard-Delacroix: Ja, ich glaube, das sind zwei unterschiedliche Themen. Dass die Angst die Seite wechselt, das ist ein Diskurs, den die Exekutive geben muss – ich sage muss –, damit die Gesellschaft versteht, dass der Staat, also in der Form der Regierung und der Polizei und der Nachrichtendienste, alles tut, um die Gesellschaft zu schützen. Insofern ist es nicht nur nachvollziehbar, sondern erwünscht, glaube ich, von der französischen Gesellschaft, dass alles unternommen wird, um die Wiederholung solcher Taten zu vermeiden.
In der Tat ist in den letzten fünf Jahren die Anzahl der Mitarbeiter in den Nachrichtendiensten aufgestockt worden, es gibt neue Dispositive zur Beobachtung möglicher gefährlicher Gruppen. Das ist das eine. Das andere, die Spaltung der Gesellschaft, das ist eine andere Logik. Die Idee ist es, zu sagen, dass wenn es das Ziel dieser Gruppen ist, die Gesellschaft zu spalten, also die französischen Moslems zu überzeugen, sie seien im Grunde nicht erwünscht in Frankreich, um sie zu isolieren von dem Prozess der Integration, der zum Nationalverständnis in Frankreich gehört, dann soll das vereitelt werden. Nicht nur mit Taten, indem wirklich kriminelle Leute verfolgt werden und getrennt werden von ruhigen und netten Mitbürgern anderer Religion, sondern auch, damit der Zusammenhalt im Grunde eher zunimmt als Antwort auf die Versuche der Spaltung.
Basilika de Notre Dame in Nizza
Keine Terrorstrukturen, eher einsame Wölfe
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Terrorbekämpfung in Europa
Welter: Das ist dann der Blick nach Frankreich, also der Binnenblick. Nun hat es in den vergangenen Tagen die Befassung gegeben und wird es geben auf europäischer Ebene mit dem Thema Terrorbekämpfung, andere europäische Staaten sind auch von Anschlägen getroffen, wenn auch in weitaus geringerem Maße als Frankreich. Wie dringend braucht aus Ihrer Sicht Frankreich den Schulterschluss mit den Nachbarn, den europäischen Nachbarn?
Miard-Delacroix: Dringend, dringend, aber wir alle – Frankreich ist mehr getroffen aus mehreren Gründen als die anderen Nachbarn, aber wie wir gesehen haben, können diese Angriffe, diese Attentate, diese Anschläge in allen Ländern Europas stattfinden. Es ist wichtig, dass nicht nur Frankreich den Schulterschluss bekommt, sondern dass wir alle zusammen das als unser gemeinsames Problem sehen. Die Tatsache, dass Frankreich bisher mehr die Zielscheibe solcher Anschläge gewesen ist, hängt mit vielen Komponenten zusammen. Frankreich, nicht zu vergessen, ist in Europa das Land, in dem die meisten Moslems leben.
Das ist das eine, aber in Frankreich gibt es auch die postkoloniale Problematik, die man nicht vergessen darf. Frankreich hat schon lange, im Vergleich mit Deutschland, eine gemeinsame Geschichte nicht nur mit Kolonien, sondern auch mit dem Islam. Islam gehört zu Frankreich rein historisch, seitdem 1848 "l’Algérie française" deklariert wurde. Insofern ist es etwas, was im Kern der französischen Geschichte ist. Hinzu kommt, selbstverständlich, die Laicité, die nicht nur die Trennung von Religion und Staat ist, sondern der Versuch, eigene Werte zu behaupten, nämlich dass die Freiheiten wie in allen unseren Ländern zu respektieren sind.
Aufarbeitung des Kolonialismus - "Wir müssen tiefer graben"
Die französisch-marokkanische Schriftstellerin Leïla Slimani ist dagegen, Denkmäler zu stürzen und damit die Spuren der Kolonialgeschichte zu tilgen. Orte der Erinnerung seien wichtig.
Zugleich werden die Religionen geschützt, gleichmäßig, aber zugleich auch das Recht, nicht zu glauben und seine Meinung zu geben. Und das ist ein Verständnis der Republik, das auch sehr viel mit der französischen Geschichte zu tun hat, mit der Geschichte nicht nur der Französischen Revolution, sondern auch des 19. Jahrhunderts zu dem Versuch, den Einfluss der Kirche einzugrenzen. Diese Laicité wird oft im Ausland nicht verstanden, umso weniger wird sie verstanden bei fanatisierten Moslems, also bei Islamisten, die den Eindruck haben, dass das Recht auch zu karikieren und zu lachen, sich lustig zu machen, eine direkte Aggression ist gegen die Gläubigen – was es im Grunde nicht ist im Sinne der Laicité.
Menschliches Leben steht über Gesinnung
Welter: Kann man sagen, Hélène Miard-Delacroix, dass die Anschläge, die Entwicklung in der jüngsten Zeit, aber vielleicht auch die Entwicklung in der Pandemie, die viele Diskussionen ausgelöst hat, Ängste natürlich auch, aber auch sehr viel Druck bedeuten auf die französische Politik, kann man sagen, dass das auch die destruktiven Kräfte in Frankreich befördert? Ich würde gerne ganz zum Schluss unseres Gesprächs eben noch mal nach vorne schauen: 2022 wird ein neuer Präsident gewählt, Frankreich wird die Ratspräsidentschaft in der EU innehaben – wird Frankreich dann auch noch europäisch gesinnt sein, ist das eine Größenordnung, die wichtig ist?
Miard-Delacroix: Auf jeden Fall. Auf jeden Fall, mehr denn je. Die europäische Größenordnung ist für Frankreich absolut zentral. Das hat der jetzige Staatspräsident von vornherein gesagt und Vorschläge gemacht, mit denen wir uns zusammen auch auseinandersetzen wollen. Der Schutz auch der Außengrenzen, der Schutz vor Terrorismus ist eines der wichtigsten Elemente auf dem Programm, das Macron schon 2017 vorgeschlagen hat.
Insofern glaube ich, dass diese Auseinandersetzung mit destruktiven Kräften, die im Namen Gottes versuchen nicht nur Menschen zu töten, sondern sozialen Zusammenhalt zu zerstören, das ist nicht nur gegen Frankreich gerichtet, sondern gegen Europa als Kultur, als "Civilisation", wie man in Frankreich sagen würde, die Werte der Aufklärung und unsere Werte der Toleranz in beiden Richtungen. Das heißt, dass man alle willkommen heißt, wenn sie aber die gemeinsamen Werte tolerieren und respektieren und vor allem das Leben des Menschen über allem steht, über jeder Gesinnung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.