Michael Köhler: Am Morgen des 11. September 2001, vor fünfzehn Jahren, sackte nach einem terroristischen Attentat der 400 Meter hohe südliche Turm des New Yorker World Trade Centers zusammen. Seither ist "9/11" , das Datum des Attentats, eine Art Chiffre für eine Zäsur, einen neuen Zeitabschnitt in der Geschichte. In der Geschichte der Auseinandersetzung der westlichen mit der islamischen Welt, der Rückkehr der Religion in die Weltpolitik, des Zusammenpralls der Kulturen, usw.
Ist das wirklich so? Fraglos war es ein ungeheures Ereignis mit apokalyptischen Bildern, aber eine Zäsur? Wird einem unbegreiflichen Ereignis nachträglich der Rang einer historischen Zäsur beigemessen. Das habe ich Manfred Berg gefragt, Professor für Amerikanische Geschichte am Historischen Seminar der Universität Heidelberg. Brauchen wir also solche historischen Landmarken, um das zu verstehen?
Manfred Berg: Ich denke, ganz unbedingt. Sie bieten uns so etwas wie Deutungs- und Orientierungszäsuren, an denen wir zum einen natürlich unsere eigene Stellung innerhalb geschichtlicher Abläufe überprüfen können, und zum anderen auch aus der Rückschau schauen können, welche Folgen bestimmte Ereignisse hatten. Und 9/11 hatte durchaus Folgen, die zum einen nicht vorhersehbar waren und zum zweiten auch nicht vorstellbar wären, wenn dieses Ereignis nicht passiert wäre. Also ganz konkret: Ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine amerikanische Invasion in Afghanistan und auch nicht im Irak gegeben hätte, ohne dieses Ereignis.
"Wir alle haben damals mit ungläubigen Augen vor dem Fernseher gesessen"
Köhler: Es gibt ja nicht wenige die sagen, es war kein Tag, der die Welt veränderte. Es waren längerfristige Entwicklungen, die in diesem Tag vielleicht kulminierten.
Berg: Na ja, das ist ja immer so. Die Geschichte ist immer ein Zusammenspiel von Kontinuität und von Zäsur, von längerfristigen Entwicklungen und von Kontingenten, Faktoren, wie Historiker das nennen. Auch völlig unerwartete und unwahrscheinliche Ereignisse wie 9/11 fallen natürlich nicht vom Himmel, sondern sind eingebettet in größere Strukturen.
Trotzdem würde ich noch einmal darauf hinweisen, für diejenigen, die sich an diesen Tag erinnern: Wir alle haben damals mit großen ungläubigen Augen vor dem Fernseher gesessen und wenn uns das jemand am 10. September 2001 erzählt hätte, dass dieses Ereignis vor allem auch in der Verkettung von Fehlern und völlig absurden Umständen, dass dieses Ereignis möglich sein würde, dann hätten wir das wahrscheinlich für schlechtes Science Fiction gehalten.
Köhler: Etwas bessere Sicherheitsmaßnahmen am Flughafen und es wäre nichts passiert.
Berg: Ja! Das kann man schon so sagen. - Ich meine, wir leben natürlich - und da ist 9/11 sicher das spektakulärste, aber ja bei weitem nicht das einzige Ereignis -, wir leben natürlich wirklich im Zeitalter des Terrorismus, und zwar eines globalen Terrorismus, der ja inzwischen auch Europa erreicht hat, auch die Bundesrepublik erreicht hat, und insofern war 9/11 ein Fanal nicht nur für die amerikanische Geschichte und die amerikanische Gesellschaft, sondern sicher für die westlichen Gesellschaften und die globalen Gesellschaften insgesamt.
Köhler: Herr Berg, es hat sich seither eingebürgert, dass wir bei solchen Ereignissen gerne rhetorische Superlative bemühen. Manche reden vom Kulturbruch, manche sagen sogar, das 21. Jahrhundert hätte bei 9/11 begonnen. Teilen Sie diese superlativischen Einschätzungen, oder sind das eher Versuche, menschliche Versuche, solche Zäsuren, ja wie soll ich das nennen, zu rationalisieren?
"Das Gefühl einer Zeitenwende"
Berg: Zum einen sicher. Es ist ein Versuch, das an sich ja im Augenblick des Geschehens noch nicht wirklich verständlich, rhetorisch auch so zu kleiden, dass es verständlich wird. Zum zweiten ist es sicher auch den Zwängen der medialen Vermittlung geschuldet, dass damals am 11. September 2001 tatsächlich so etwas wie das Bewusstsein und das Gefühl einer Zeitenwende herrschte. Das ist ja sehr gut belegbar in den Quellen. Und ich glaube, wir hatten in der Tat ja auch in den zehn Jahren zuvor oder zehn, elf Jahren zuvor subjektiv das Gefühl, dass sich bestimmte Entwicklungen in eine insgesamt doch sehr positive Richtung bewegen. Der Kalte Krieg ging gewaltlos zu Ende, es kam zur Wiedervereinigung Europas …
Köhler: Die These vom Ende der Geschichte machte die Runde.
Berg: Genau! In der Tat! Keine Alternative zur liberalen Demokratie mehr, die wirtschaftliche Entwicklung vor allem in den USA im Zusammenhang mit der digitalen Revolution war äußerst positiv. Wenn man heute auf die 90er-Jahre zurückblickt, dann bin ich oft geneigt, so eine Analogie zu ziehen wie die Menschen in den 30er- und 40er-Jahren auf die 1920er-Jahre oder auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückblickten, also auf eine Zeit, die vergleichsweise hoffnungsvoll oder jedenfalls nicht so stark von Problemen befrachtet war, wie wir zumindest unsere eigene Gegenwart heute einschätzen.
Köhler: Herr Berg, es hat aber Folgen gegeben, die vielleicht eher als Zäsur zu sehen wären, nämlich eine Verschärfung der amerikanischen Innen- und Außenpolitik, der Patriot Act, der Right or wrong my Country-Nationalismus, um jetzt mal von Afghanistan- und Irak-Invasion zu schweigen, was da alles danach passiert ist. Vielleicht wäre die Finanzkrise von 2008 eine viel größere Zäsur, weil ganz andere Player plötzlich kommen und die Pax Americana, haben Sie es mal genannt, plötzlich in Frage gestellt wurde, also die Vormachtstellung der USA. Sind das vielleicht Kennzeichen in Folge von 9/11, die viel größere Zäsuren bedeuten?
"Wir erleben heute einen neuen neoisolationistischen Nationalismus"
Berg: In der Rückschau sieht es so aus. Man wird es vielleicht einmal sehen in 20, 30 Jahren, wenn die Folgen noch klarer zu Tage treten. In der Tat ist es ja so, dass wir 2001, in den Jahren nach 2001 so etwas hatten wie eine imperiale Hybris der USA und zugleich auch das Phänomen der imperialen Überdehnung sehr schnell klar wurde, also die immensen Kosten zweier Kriege, von denen sehr bald deutlich wurde, dass sie gar nicht zu gewinnen waren, jedenfalls nicht in dem Sinne zu gewinnen waren, wie die damalige amerikanische Administration das den Amerikanern versprochen hatte. Die Finanzkrise hat dann die Verletzlichkeit auch der amerikanischen Ökonomie und der sozialen Strukturen noch einmal sehr deutlich gemacht, hat sicher auch den Trend zur Desillusionierung weiter Teile der amerikanischen Bevölkerung noch einmal verstärkt. Was wir heute erleben, gerade im laufen Wahlkampf, ist ja auch ein neuer neoisolationistischer Nationalismus, wie ihn etwa Donald Trump vertritt, der im Grunde ja sagt, das ist alles gescheitert und wir müssen Amerika gegen alle möglichen Angriffe verteidigen, indem wir uns abschotten. Ich denke, die Finanzkrise ist da noch eine zusätzliche, auf ökonomischem Gebiet sicher bedeutsamere Zäsur.
Köhler: Lassen Sie uns in so einer Schlusskurve vielleicht noch zwei langfristige Folgen besprechen, die von 9/11 2001 ausgehen. Das eine ist das Verhältnis des Westens zur muslimischen Welt, was ja sich nicht gebessert hat. Im Gegenteil: Terroristische Akte, Terrorbekämpfung sind die Kennzeichen der Zeit. Auf der anderen Seite aber auch so etwas wie die sogenannten samtenen Revolutionen in Nordafrika, also schon der Wunsch auch von Teilen der islamischen Welt nach Liberalisierung, nach Freiheit und so weiter. Wie schätzen Sie das ein?
Berg: Ich würde sagen, es hat in der Tat diesen viel beschworenen Kulturkampf ja gegeben, oder es gibt ihn. Es wäre, glaube ich, sehr blauäugig und naiv, so zu tun, als gäbe es diese Frontstellung nicht.
Köhler: Übrigens Sam Huntington war immer gegen den Irak-Krieg.
Berg: In der Tat! Ja, ja!
Köhler: Den Kampf der Kulturen hat er schon 1992 übrigens mit Fragezeichen versehen.
"Ich denke schon, dass es in den westlichen Gesellschaften eine Zerreißprobe gibt"
Berg: Ja! Und das Buch ist sehr häufig falsch zitiert worden von Leuten, die es nicht gelesen haben. Huntington hat immer gegen Interventionen plädiert, weil er im Grunde sagt, es gibt diese Kulturen und die sollten sich nicht gegenseitig in ihre Belange einmischen. Er ist ja im Grunde für so etwas wie eine Koexistenz unterschiedlicher kultureller Sphären eingetreten. Nein, aber ich denke schon, dass es in den westlichen Gesellschaften ja eine Zerreißprobe gibt, nämlich wir sehen auf der einen Seite auch eine produktive Auseinandersetzung mit dem Islam, wie wir sie früher, vor der Jahrtausendwende eigentlich so kaum kannten. In dem Sinne haben uns der islamistische Terrorismus und die Flüchtlingsströme auch dazu gezwungen, und das ist auch eine Folge der Globalisierung einfach.
Auf der anderen Seite dürfen wir und können wir natürlich nicht verkennen, dass es nicht nur kulturelle Missverständnisse auf beiden Seiten sind, sondern dass es in der Tat auch eine radikale Strömung des Islam gibt, die ganz gewalttätig antiwestlich ist, und das ist ja etwas, was sich in ganz starkem Maße etwa von den Terrorismus-Erfahrungen, wie ich sie aus meiner eigenen Jugend kenne, etwa den 1970er-Jahren, unterscheidet.
Köhler: Unterm Strich würden Sie zustimmen, wenn ich sage, mich hat das sehr erinnert an die Worte, die Goethe 1792 bei der Kanonade von Valmy sagte, Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus - und es ging um den Rückzug der Koalitionsarmee aus Frankreich damals -, dass 9/11 ohne Frage ein weltbedeutsames Ereignis ist, aber vielleicht nachträglich erst den Rang eines historischen Ereignisses bekommen hat, das im Moment seines Ereignisses gar keines war.
Berg: Das wird sich zeigen. Man könnte geneigt sein, in diesem Fall mit Zhou Enlai, dem chinesischen Premier zu antworten, der in den 70er-Jahren mal gesagt haben soll, es sei noch zu früh, die historischen Folgen der französischen Revolution zu beurteilen.
Köhler: Die war da gerade erst 200 Jahre vorbei.
"Vielleicht sehen wir 9/11 in 10, 20, 30 Jahren anders"
Berg: Ja, in der Tat. - Ich denke schon, dass das zeitgenössische Bewusstsein 2001 doch ganz stark auf diesen Zäsur-Charakter bereits fokussiert war. Ich glaube auch, dass wir in 10, 20, 30 Jahren vielleicht 2001, 9/11 anders sehen, Aber dass wir irgendwann einmal zu dem Ergebnis kommen, dass das ein irrelevantes Ereignis war, das von den Zeitgenossen völlig überschätzt wurde, das kann ich mir nicht vorstellen. Das glaube ich nicht, dass das passieren wird.
Köhler: Dafür waren die Folgen, Stichwort Afghanistan und Irak, zu groß?
Berg: Ja. Nicht nur für die amerikanische Gesellschaft, für die westliche Gesellschaft, auch für den Charakter und den Pfad der Globalisierung, würde ich sagen, war das einfach viel zu prägend oder zumindest als Fanal so stark, dass es sich einfach auch als ikonographische Szenerie eingebrannt hat in das kollektive Gedächtnis.
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