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Terroranschlag in Tunis
"Tunesien erlebt verhängnisvolle Spirale"

Nach dem Terroranschlag in Tunesien sieht die Afrika-Expertin Isabelle Werenfels den Demokratisierungsprozess des Landes in Gefahr. Die Regierung müsse jetzt einen "kühlen Kopf bewahren", sagte sie im DLF. Andernfalls würde das Extremismusproblem weiter wachsen.

Isabelle Werenfels im Gespräch mit Silvia Engels |
    Sicherheitskräfte und andere Menschen laufen aus dem Nationalmuseum in Tunis.
    Beim Anschlag auf das Nationalmuseum in Tunis wurden 19 Menschen getötet. (picture alliance/dpa/Str)
    In Tunesien habe sich die Sicherheitslage seit 2012 verschlechtert, so die Leiterin der Forschungsgruppe "Naher/Mittlerer Osten und Afrika" der Stiftung Wissenschaft und Politik. Das Land verliere seitdem Touristen und ausländische Investoren, und mit der sozioökonomischen Misere nehme auch das Rekrutierungspotenzial für islamische Extremisten zu. "Eine verhängnisvolle Spirale", so Werenfels im Deutschlandfunk.
    Nach dem Terroranschlag auf das Nationalmuseum von Tunis, für den laut Ministerpräsident Habib Essid Einheimische verantwortlich sind, müsse die tunesische Regierung nun einen "kühlen Kopf bewahren". Der Demokratisierungsprozess des Landes befinde sich mit der Umsetzung der neuen Verfassung in einer fragilen Phase, in der es um die Etablierung von Rechtsstaatlichkeit gehe. "Wenn jetzt das Anti-Terror-Gesetz noch verschärft wird, besteht die Gefahr, dass Freiheitsgesetze beschnitten werden", so die Afrika-Expertin.
    Zudem warnt sie davor, im Zusammenhang mit dem Anschlag "mit Begriffen wie IS" zu hantieren. Man wisse nicht, ob nicht islamistische Gruppen dieses Label nur verwendeten, um auf der aus ihrer Sicht "Erfolgswelle zu surfen". Eine Blockbildung von Dschihadisten wie in Syrien und dem Irak ist laut Werenfels in Tunesien nicht zu beobachten.

    Das Interview in voller Länge:
    Silvia Engels: Es war der schwerste Anschlag in Tunesien seit mehr als einem Jahrzehnt. Mindestens zwei Angreifer waren es, sie schossen gestern im Archäologischen Nationalmuseum von Bardo in der Hauptstadt Tunis um sich. Ihr Ziel waren ausländische Touristen, bei denen dieses Museum sehr beliebt ist. 19 Menschen töteten sie, darunter 17 westliche Touristen. Dutzende wurden verletzt. Zwei Attentäter starben durch Schüsse der Polizei.
    Mitgehört hat am Telefon Isabelle Werenfels. Sie leitet die Forschungsgruppe Naher und Mittlerer Osten bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, ein Schwerpunkt dabei Tunesien. Guten Morgen, Frau Werenfels.
    Isabelle Werenfels: Guten Morgen, Frau Engels.
    Engels: Sie haben es gerade gehört: Die Presse und die öffentliche Meinung von Demonstrationen her scheint sehr stark einen harten Kurs der Regierung zu fördern. Ist auf der anderen Seite dieser Anschlag vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass doch Terror durch IS, dass Islamismus in Tunesien weiter an Boden gewinnt?
    Werenfels: Ich glaube, es ist so, dass in Tunesien die Sicherheitslage schon seit Längerem sich zunehmend verschlechtert. Eigentlich seit Ende 2012, also bevor der IS überhaupt ein Thema war, gab es zum Beispiel - davon haben wir hier sehr wenig gehört - im Grenzgebiet zu Algerien eine Gruppe, die es hauptsächlich auf Sicherheitskräfte abgesehen hat, und die Lage hat sich zunehmend verschärft. Wir haben dann eine Gruppe gesehen, die sich quasi hinter den IS gestellt hat. Wir haben auch eine Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Gruppen, Kooperation zwischen Gruppen, und all das hat dazu geführt, dass es jetzt immer größere Attacken und Versuche gibt. Wir haben, wie ja auch im Bericht schon klar wurde, 2013 zwei politische Morde gehabt, Morde von Politikern, die ebenfalls Dschihadisten zugeschrieben werden. Also es ist nicht aus heiterem Himmel gekommen und ich glaube, man muss vorsichtig sein, wenn man jetzt mit Begriffen wie IS operiert. Man weiß auch nicht, inwieweit der IS oder das, was sich IS in Tunesien nennt, wirklich IS ist, oder ob hier einfach Gruppen sich ein Label aufkleben, um auf einer Welle mitzusurfen, was "im dschihadistischen Spektrum" als Erfolgswelle gesehen wird.
    "Viele Rückkehrer sind desillusioniert"
    Engels: In den letzten Monaten hatten sich ja die Meldungen verstärkt, dass gerade aus Tunesien viele junge Sympathisanten von IS ausreisen würden, um in Syrien und im Irak zu kämpfen. Könnte es auch sein, dass jetzt Rückkehrer einen großen Einfluss in der Islamisten-Szene in Tunesien gewinnen?
    Werenfels: Davon geht man aus. Ich denke, das ist etwas, was uns hier in Deutschland ja auch beschäftigt. Es sollen an die 500 Rückkehrer sein. Man muss natürlich mit solchen Zahlen immer vorsichtig umgehen. Rückkehrer spielen sicherlich eine Rolle, wobei man auch weiß, von Tunesien, aber auch von anderen arabischen Staaten, dass viele der Rückkehrer auch desillusioniert sind. Wir können nicht davon ausgehen, dass jeder Rückkehrer radikalisiert wurde. Sie können auch deradikalisiert worden sein durch das, was sie gesehen haben in Syrien, oder sagen wir nicht deradikalisiert, aber desillusioniert. Es wird sich zeigen, ob es sich hier um Rückkehrer gehandelt hat, ob es sich hier um Akteure gehandelt hat, die über die sehr poröse Grenze von Libyen hergekommen sind. Libyen hat sich zu einem Trainings- und Rückzugsgebiet auch für tunesische Radikale entwickelt. Und dann wie gesagt gibt es die Grenzregion zu Algerien, in der auch einige Gruppen aktiv sind.
    Engels: Muss man davon ausgehen, dass aber ein Spannungsverhältnis unter den verschiedenen islamistischen Gruppen in Tunesien fortbesteht, oder fürchtet man jetzt doch, dass sich ein Block bildet und gegen den anderen Teil der Gesellschaft, der vielleicht stärker säkular orientiert ist, aufsteht?
    Werenfels: Ich meine, sie haben alle das gleiche Ziel, aber sie konkurrieren natürlich untereinander. Wir haben das in Syrien ganz stark gesehen und im Irak zwischen Gruppen, die eher IS-nah sind beziehungsweise eher Al-Kaida-nah. In Tunesien ist es sehr schwer zu beurteilen, inwieweit diese Konkurrenz tatsächlich besteht. Man weiß, dass einzelne Netze, Zellen miteinander kooperieren. Aber ich glaube nicht, dass man von einem Block sprechen kann, aber man braucht auch keinen Block für solche Anschläge. Wir haben übrigens auch in Paris gesehen, dass unterschiedliche Gruppierungen in den Anschlägen auf Charlie Hebdo und auf den jüdischen Supermarkt kooperiert haben. Das heißt, das muss nicht ein Block sein, das können unterschiedliche Gruppen mit gleichen Zielen sein, und das ist genauso gefährlich, insbesondere wenn sie versuchen, sich gegenseitig zu übertrumpfen.
    "Gefahr, dass Freiheitsrechte beschnitten werden"
    Engels: Inwieweit haben diese Gruppen das Potenzial, tatsächlich den fragilen Prozess der Demokratisierung in Tunesien nachhaltig zu torpedieren?
    Werenfels: Ich glaube, dass sie nicht wirklich das Land komplett destabilisieren können. Dazu steht die tunesische Gesellschaft wirklich zu sehr beieinander. Wir haben das jetzt gesehen. Auch der Sicherheitsapparat, der tunesische, ist nicht schwach, obwohl er Unterstützung braucht, und das wird inzwischen auch zunehmend geleistet von Europa. Ich sehe das Problem ganz woanders. Ich sehe das Problem da, dass wir einen fragilen Demokratisierungsprozess in einer sehr kritischen Phase haben. Jetzt werden die Institutionen aufgebaut, jetzt wird die Verfassung umgesetzt. Jetzt geht es um die Unabhängigkeit der Justiz, jetzt geht es um Umsetzung von Rechtsstaatlichkeit. All das, was in dieser Verfassung so wunderbar aufgeschrieben wurde, muss jetzt tatsächlich umgesetzt werden. Und wenn jetzt zum Beispiel das Anti-Terror-Gesetz, was ohnehin schon sehr scharf war, sehr problematisch in einigen Aspekten aus Menschenrechtssicht, aus Rechtsstaatlichkeitssicht, wenn das jetzt noch verschärft wird, dann besteht die Gefahr, dass aufgrund des Kampfes gegen den Terrorismus, oder, wie das jetzt der Präsident gestern sagte, des Krieges gegen den Terrorismus, dass Freiheitsrechte beschnitten werden und dass es auf Kosten von Rechtsstaatlichkeit gehen könnte. Das heißt, dass dieser fragile Prozess jetzt gestoppt wird, und ich glaube, das ist das, wo man sich Sorgen machen müsste, dass jetzt plötzlich Demokratie nicht mehr so wichtig ist, sondern dass Sicherheit das Zentrale wird.
    Engels: Inwieweit wird die Gefahr dadurch gestärkt, dass nun ja auch ein wichtiger Wirtschaftszweig, nämlich der des Tourismus, möglicherweise Rückschläge erleiden wird?
    Werenfels: Ich glaube, das ist ein zusätzliches enormes Problem. Es ist nicht nur der Tourismus, sondern es sind die ausländischen Investitionen. Die sind wahnsinnig wichtig für Tunesien und die haben abgenommen insgesamt, sehr stark seit der Revolution 2011. Das heißt, dass die sozio-ökonomische Misere insbesondere in den Gebieten, in denen wir jetzt gerade auch sehen, dass dschihadistische Gruppen stark sind, in den Provinzen noch schlechter werden wird und dass natürlich dann das Rekrutierungspotenzial größer wird. Da haben wir eine verhängnisvolle Spirale und ich glaube, dass man nur hoffen kann, dass die tunesische Regierung jetzt einen kühlen Kopf bewahrt und dass die Europäer an Tunesiens Seite stehen und Tunesien wirtschaftlich unterstützen und gleichzeitig im Sicherheitsbereich unterstützen, aber schauen, dass dies nicht wieder zu einer Repression führt, wie wir sie früher im Namen der Terrorismusbekämpfung unter Ben Ali hatten.
    Engels: Isabelle Werenfels, Tunesien-Expertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Vielen Dank für Ihre Einschätzungen heute Früh.
    Werenfels: Gern geschehen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.