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Terrorgefahr in Europa
"Wir werden uns nicht durch Panik und Terror besiegen lassen"

Nach den Anschlägen in Brüssel versuchen die Menschen in Belgien zum Alltag zurückzufinden. Man dürfe sich nicht verstecken oder aufhören zu leben, sagte der belgische Publizist Stefan Hertmans im DLF. Das sei keine Lösung. Die Polizeibehörden des Landes und Europas müssten jetzt mehr miteinander verbunden werden, um Anschläge in Zukunft zu verhindern.

Stefan Hertmans im Gespräch mit Jasper Barenberg |
    Stefan Hertmans
    Der belgische Schriftsteller Stefan Hertmans beim Deutschlandradio Kultur in Berlin. (Deutschlandradio / Jana Demnitz)
    Jasper Barenberg: Der Brüsseler Stadtteil Molenbeek, inzwischen verschrien als eine Keimzelle des Terrors – schon seit den Anschlägen von Paris im vergangenen November müssen sich die Sicherheitsdienste in Belgien mit diesem Vorwurf auseinandersetzen, seit sich herausstellte, dass die Taten auch dort geplant und vorbereitet wurden, weitgehend unbehelligt von Polizei und Geheimdiensten. Nach den Anschlägen von Brüssel nun wird diese Kritik noch schärfer, weil Täter auch dort und in anderen Vierteln über lange Zeit Helfer gefunden haben. Die Behörden im Zwielicht, und das in einer Zeit, in der die Menschen in Brüssel damit ringen, sich den Alltag zurückzuerobern. Thielko Grieß hat für uns in Brüssel recherchiert.
    Stimmen und Eindrücke aus Brüssel. Thielko Grieß berichtete.
    Der flämische Lyriker und Schriftsteller Stefan Hertmans wurde in Gent geboren, lebt aber in der Nähe von Brüssel. In Deutschland hat sein Roman "Der Himmel meines Großvaters" für Aufsehen gesorgt. Vor dieser Sendung habe ich mit ihm darüber gesprochen, wie die Belgier mit den Anschlägen am Flughafen und in der zentralen Metrostation Maelbaek umgehen.
    Stefan Hertmans: Das Merkwürdige ist natürlich, dass wir alle irgendwo wussten, dass es geschehen könnte und dass es jeden Tag wahrscheinlicher war. Wir haben nicht erwartet, denke ich, dass, was wir jetzt verstehen ist, dass mit dem Festnehmen von Abdeslam die anderen in Panik geraten sind und gefürchtet haben, dass er sprechen könnte und alles verraten könnte. Und die Theorie ist jetzt, dass sie alles eine Woche früher gesprengt haben, dass sie eigentlich den Plan hatten, das alles zu tun an Ostern oder so, in den Ferien, wenn es noch viel mehr Verletzte geben könnte. Und dass wir jetzt sehr naiv gewesen sind natürlich in all dem, dass wir dachten, dass wir sehr gut an der Sache waren, dass wir alles ganz gut verfolgten. Und dass das jetzt doch geschehen ist, das ist für Brüssel ein richtiges Trauma, weil wir natürlich als Belgier immer hofften, dass wir mit Ironie leben können, dass wir eine offene Gesellschaft haben, dass wir nicht rassistisch sind und so weiter. Und dann müssen wir natürlich bekennen, dass wir auf einer gewissen Ebene nachlässig gewesen sind und naiv. Und das ist für uns alle Demokraten, die weiter leben müssen hier in einer multikulturellen Stadt, schwer.
    "Es kann jetzt überall in Europa geschehen"
    Barenberg: Was Sie beschreiben, ist ja so eine merkwürdige Mischung: Auf der einen Seite die Sorge vor einem möglichen Anschlag nach all dem, was in Paris passiert war, und nach all den Verbindungslinien, die es nach Belgien gab, und auf der anderen Seite doch so etwas wie die Hoffnung, dass es nicht passieren könnte. Wie kann man eigentlich in so einer Situation leben, und wie ist der Moment des Aufwachens jetzt, nach dem, was passiert ist?
    Hertmans: Die Leute reagieren eigentlich meistens überraschend nicht-hysterisch sozusagen und sind sich dessen bewusst, dass wir damit leben müssen, so wie wir das auch in Paris gesehen haben. Morgen kann es Berlin oder London sein wieder, oder Madrid. Wir wissen es nicht. Es kann jetzt überall in Europa geschehen. Weil natürlich die IS immer mehr verlieren in Syrien, kommen die nach Europa, um uns anzugreifen. Es ist klar, dass nicht nur Brüssel angegriffen ist, sondern Europa. Das sind zwei Symbolplätze von Europa, der internationale Flughafen, am Schalter von American Airlines, die erste Bombe, und dann Maelbeek, das ist in der Nähe des Europäischen Parlaments. In erster Linie das ist nicht "wir als Brüsseler", sondern Europa. Und das ist natürlich die doppelte Identität, die wir hier alle haben. Wir sind Brüsseler. Wir sind überzeugt, das das ein wertvolles Labor der Zukunft sein kann, auch mit allen Schwierigkeiten, die wir haben. Aber andererseits sind wir europäische Bürger und fühlen uns angegriffen für etwas, was in ganz Europa spielt, was mit der Flüchtlingsproblematik und allem zu tun hat, mit Integration. Und ja, was können wir tun als Weitermachen?
    "Wir müssen den Kopf aufrecht halten und weitermachen"
    Barenberg: Ist das nicht auch bemerkenswert auf eine Weise, denn die Behörden haben inzwischen die Terrorwarnstufe im Land wieder gesenkt. Wir erinnern uns noch alle an die Zeit nach Paris, als es auch in Belgien über viele Tage lang Fahndungen gab und das Leben quasi zum Erliegen kam. Und jetzt schildern auch unsere Kollegen in Brüssel, dass die Menschen doch relativ zumindest schnell versuchen, sich den Alltag wieder zurückzuerobern. Halten Sie das für belgischen Pragmatismus, für Gewöhnung, für außergewöhnlich?
    Hertmans: Sicher nicht Gewöhnung. Ich denke, das ist nicht nur Pragmatismus, das ist auch die Überzeugung, dass die Terroristen gewinnen, wenn wir unser eigenes Leben lähmen. Das ist, was die wollen. Dann werden sie jauchzen und sagen, jetzt wagen sie sich nicht mehr auf die Straße, jetzt ist die Stadt tot. Das ist, was die wollen. Und was wir gesehen haben in Paris, das tun wir auch in Brüssel. Wir kommen auf die Straße, wir umarmen einander. Es gibt jüdische Menschen, die Muslime umarmen, weinend, und das ist Gewinnen gegen den IS, dass wir zeigen, wir werden uns nicht besiegen lassen durch Panik und Terror. Wir müssen weitermachen. Wir wissen auch, dass es morgen wieder so etwas geben kann. Man hat ein Appartement gefunden, Tags danach, worin auch Kalaschnikows waren. Man hatte den Plan, es noch viel schrecklicher als Paris zu machen, auch hier auf den Terrassen zu schießen. Das sage ich auch meinem Sohn, Junge, pass mal auf, geh nicht auf eine Terrasse Kaffee trinken. Aber – können wir uns verstecken? Können wir aufhören zu leben? Nein. Das ist keine Lösung. Es ist nicht, dass wir uns gewöhnen oder dass wir das unterschätzen, aber dass wir in allen Medien hier sagen, wir müssen den Kopf aufrecht halten und weitermachen. Wir haben keine Wahl.
    Barenberg: Insofern stiftet bei all dem Schrecklichen das Ereignis doch einen gewissen Zusammenhalt. Sie schildern, wie die Menschen auch zusammenkommen in Brüssel in dieser Widerständigkeit. Auf der anderen Seite haben wir ja auch gelernt, dass Verdächtige zum Teil über Wochen versteckt worden sind in verschiedenen Wohnungen. Es gibt ein Netzwerk von Unterstützern, das auch offenbar für die Sicherheitsbehörden überraschend groß ist. Ist das nicht auf der anderen Seite auch sehr beunruhigend?
    "Wir denken noch viel zu viel in Nationalstaaten"
    Hertmans: Das ist sehr beunruhigend. Und was wir lernen natürlich jeden Tag mehr, überall in Europa, das ist, dass wir noch viel zu viel in Nationalstaaten denken, und die Terroristen denken in Netzwerken, die sind blitzschnell, die gehen über Grenzen mit kleinen Wagen um vier Uhr nachts. Die haben irgendwo Detonatoren liegen in einem Appartement, die haben Aceton liegen in einem anderen Appartement, und die können das alles mit einer Verbindung, die wir jetzt – dass sich die Polizei nur bewusst davon – die haben ein anderes Netzwerk, um miteinander zu kommunizieren, die sind in einem Dark Internet zum Kommunizieren, wo man sehr schwer ingraden kann. Und das heißt, dass wir wissen, dass sie jeden Moment aktiv sind, dass sie jeden Moment nach Löchern in unseren Systemen suchen. Guckt man am Flughafen – wir haben einen offenen Flughafen, so wie überall in der Welt, wo man demokratische Systeme hat. Das heißt, du wirst erst kontrolliert, wenn du schon eingecheckt bist. Natürlich wollen wir jetzt einen Flughafen, wo du schon einchecken musst am Eingang des Flughafens. Aber man kann ja eine Bombe explodieren lassen, wenn du mit dem Zug ankommst. Wo musst du dann den Zug kontrollieren. Am Eingang vom Bahnhof? Und dann können sie es vor dem Bahnhof tun. Musst du dann die Straße kontrollieren? Das ist grenzenlos, endlos. Was wir tun müssen in der Tat: Alle Polizeibehörden des Landes, alle Polizeibehörden Europas müssen viel mehr miteinander verbunden werden in den Computern und den Systemen. Jetzt wissen wir, dass einer signaliert war in der Türkei. Der wurde zurückgeschickt nach Amsterdam, wo er nicht als Terrorist bekannt war. In Belgien war er bekannt von einem Überfall mit einer Kalaschnikow gegen die Polizei, aber nicht als Terrorist, nur als Krimineller. Also wir sehen auch, dass die Kriminellennetzwerke innig verbunden sind mit diesen Terroristen, und dass es weniger und weniger sich um Islam und Terror handelt, sondern kriminelle kleine Gangster, die irgendwo von tollen Leuten mobilisiert worden sind. Und da gibt es neue Bänder und neue Verbindungen, die wir jetzt nur erst zu begreifen lernen, und die sind sehr flüssig und sehr schnell.
    Barenberg: Herr Hertmanns, Sie haben von dem Labor der Zukunft gesprochen, Brüssel als das Labor der Zukunft, wo man ja viel lernen kann über Föderalismus, was Belgien allein betrifft mit den verschiedenen Sprachgruppen und den Schwierigkeiten. Und all das kennen wir auch auf der übergeordneten europäischen Ebene. Ist aber insofern, wenn Sie sagen, wir brauchen noch mehr Zusammenarbeit – ist nicht ein Anschlag wie der in Brüssel auch ein Zeichen dafür, vor welchen Herausforderungen wir gerade stehen, wenn es eben ein Labor für die Zukunft sein soll und nicht ein erstes Zeichen für ein Scheitern dieses Projektes Europa?
    "Brüssel, das ist Europa, das ist nicht nur Belgien"
    Hertmans: Nein – ja – ich versuche, das positiv zu bewerten und es zu sehen als ein Zeichen, dass diese Separatisten und flämischen Nationalisten falsch liegen. Dass wir weitermüssen mit Belgien in Europa. Jetzt sehen wir, Brüssel, das ist Europa, das ist nicht nur Belgien. Und das ist ein aparter Staat mit einer aparten Regierung, das ist so etwas, was auf sich selbst steht. Das ist sehr komplex.
    Barenberg: Was setzen Sie denen entgegen, die als Separatisten, als Nationalisten, als Rechtspopulisten den Rückzug propagieren und sagen, vor dieser Bedrohung können wir uns nur schützen, wenn wir uns auf uns selbst zurückbesinnen und nicht die Zusammenarbeit mit den anderen suchen? Was können Sie an Zuversicht denen antworten?
    Hertmans: Das Erste, was man realisieren muss, ist, dass wir nicht zurück können. Wir können nicht Leute zurückschicken. Das geht nicht mehr. Es ist so weit gekommen, wir leben jetzt schon zusammen. Es ist für mich eben keine Frage von moralischen Überzeugungen, es ist eine Frage nach Pragmatismus. Wir müssen wir weiter mit dem, was wir haben? Was ist die Lage? Und in dieser Lage können wir nicht anders als weitermachen und mehr und mehr Integration, mehr Chancen geben, mehr Ausbildung, mehr Arbeitsstellen. Und doch sind es immer mehr Muslime, die laut auch in den Medien sagen, wir wollen mitmachen. Aber doch gibt es immer Leute, die sagen, dem kann man nicht trauen. Ja, das ist natürlich nicht die klügste Haltung.
    Barenberg: Wie umgehen mit dem Terror, und was wir daraus lernen müssen. Der belgische Schriftsteller Stefan Hermans im Gespräch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.