In Nizza sei diese Taktik zum ersten Mal so effektiv durchgeführt worden, sagte der Direktor des "International Center for the Study of Radicalisation" am Londoner King’s College im Deutschlandfunk. "Die Strategie existiert seit September 2014. Damals habe der Islamische Staat gesagt: Wenn ihr nicht zu uns kommen könnt, werdet einsame Wölfe und führt bei Euch Anschläge durch." Die Anhänger seien damals dazu aufgerufen worden, Messerattacken oder Anschläge mit Autos durchzuführen.
Eine solche Art des Terrors sei aus Sicht des IS besonders effektiv, weil sich die Anschläge gegen jeden richteten: "Jeder kann sich vorstellen, bei dieser Veranstaltung gewesen zu sein, im Restaurant oder im Konzert", so der Politologe.
Neumann betonte, die Lage sei durch die hohe Zahl der Flüchtlinge zwar unübersichtlicher und schwieriger geworden. Die Bedrohung gehe aber nicht von primär von außen aus, etwa von Syrern, sondern "von Menschen, die in unseren Gesellschaften geboren und aufgewachsen sind und sich hier aus irgendeinem Grund nicht zu Hause sind. Es sei wichtig zu betonen: "Die Hauptgefahr geht nach wie vor von Europäern aus."
Das Interview in voller Länge:
Christoph Heinemann: Am Telefon ist jetzt Professor Peter Neumann, Terrorismusexperte am britischen King’s College. Guten Morgen oder besser gesagt guten Abend! Wir erreichen Sie in den USA.
Peter Neumann: Guten Abend!
Heinemann: Herr Neumann, ein Anschlag mit einem LKW, ist das eine neue Qualität?
Neumann: Das ist keine neue Qualität. Allerdings natürlich: Zum ersten Mal wurde es so effektiv durchgeführt. Aber schon im September 2014 rief der Sprecher des sogenannten Islamischen Staates dazu auf, die Ungläubigen zu töten im Westen, und er schlug damals vor, unter anderem als eine der Taktiken, die zu verwenden sei, die Leute mit Autos zu überfahren. Das hatten wir im Dezember 2014 in Frankreich schon gesehen, als wenige Leute versucht hatten, bei Weihnachtsmärkten Leute mit dem Auto zu überfahren, und jetzt in einer viel größeren Weise mit einem LKW, der sehr, sehr viele Leute getötet hat.
Heinemann: Deutet das auf trotzdem ein neues Vorgehen hin, weniger aufwendig geplante Anschläge, die dadurch von den Sicherheitsbehörden schwieriger erkennbar sind?
Neumann: Ich glaube das nicht. Ich denke, das war natürlich effektiver. Es wurden sehr viel mehr Leute umgebracht als bei vorherigen Anschlägen dieser Art. Aber diese Strategie und diese Taktik existiert seit dem September 2014, als der Islamische Staat ganz klar gesagt hat, wenn ihr, unsere Unterstützer im Westen, wenn ihr nicht in der Lage seid, zu uns nach Syrien zu kommen, dann werdet bitte sogenannte einsame Wölfe und führt bei euch zuhause Anschläge aus mit sehr einfachen Mitteln, sei es mit Messerattacken oder sei es zum Beispiel dadurch, dass man Leute per Auto überfährt.
"Es ist sehr schwierig, solche Anschläge zu verhindern"
Heinemann: Können Sicherheitsbehörden solche Attentate verhindern in irgendeiner Weise?
Neumann: Ja das kommt natürlich darauf an. Wir wissen noch nicht, von wem dieser Anschlag durchgeführt wurde. Das heißt, es kann sich durchaus herausstellen, dass der Attentäter kein völlig unbekannter war, zum Beispiel, dass das ein zurückgekehrter Auslandskämpfer war, der direkt mit Kampfauftrag nach Frankreich zurückgeschickt wurde. In so einem Falle wäre es natürlich möglich, diesen Anschlag zu verhindern. Aber wenn das natürlich nur ein enthusiastischer Unterstützer des Islamischen Staates war, der vorher nie aufgefallen ist, dann ist es sehr, sehr schwierig, solche Anschläge zu verhindern. Aber es kommt jetzt darauf an. Sobald wir herausfinden, wer es war, lässt sich auch besser beurteilen, welche Gegenmaßnahmen hätten getroffen werden können.
Heinemann: Möglicherweise - genau kann man das zu diesem Augenblick noch nicht sagen - handelte es sich um einen Franco-Tunesier, etwa 31 Jahre alt, der wohl in Nizza gelebt haben sollte. Wie gesagt, alles noch sehr spekulativ. Wird Europa vor allem von innen bedroht?
Neumann: Das habe ich ja schon immer gesagt, dass es vor allem die Europäer sind, dass sich in den letzten Jahren in Europa etwas zusammengebraut hat, dass wir so viele Auslandskämpfer wie noch nie gesehen haben, die in den Islamischen Staat gegangen sind, dass wir auch enthusiastische Unterstützer haben in Europa, die nicht nach Syrien und in den Irak gehen, aber die trotzdem Anhänger des Islamischen Staates sind und bereit sind, Anschläge auszuführen, und dass die Hauptbedrohung nicht von außen kommt, auch wenn es natürlich eine Bedrohung gibt durch Leute, die von außen kommen. Aber die Hauptbedrohung kommt tatsächlich von Leuten, die in unseren Gesellschaften geboren und aufgewachsen sind und die sich aus irgendeinem Grund hier nicht zuhause fühlen. Und das bedeutet, dass wir es nicht nur mit einem Sicherheitsproblem zu tun haben, sondern dass wir es auch mit einem sozialen und politischen Problem zu tun haben, denn in Frankreich wie in anderen Staaten stellt sich natürlich die Frage, was ist da schiefgelaufen, warum kann es sein, dass jemand, der aus unserer Gesellschaft kommt, plötzlich massenhaft Leute bei uns umbringt.
"Diese Anschläge richten sich an jeden"
Heinemann: Herr Neumann, Fachleute wie Sie blicken anders auf Tatorte. Wenn wir mal zurückschauen: 18. November in Paris, da waren es Cafés, es war ein Supermarkt. Im März in Brüssel unter anderem eine U-Bahn-Station. Welche Botschaft steckt im Anschlag von Nizza?
Neumann: Die Botschaft, die der Islamische Staat wahrscheinlich effektiver kommuniziert als jede andere terroristische Organisation davor, ist, dass im Prinzip sich diese Anschläge an jeden richten. Und das ist deswegen effektiv, weil natürlich sich dadurch noch mehr Terror auslösen lässt als bei jeder anderen Form des Anschlages. Denn jeder kann sich vorstellen, bei dieser Veranstaltung gewesen zu sein. Jeder kann sich vorstellen, in einem Restaurant gewesen zu sein oder bei einem Konzert. Und wenn es bei Terrorismus darum geht, Terror auszulösen, dann sind diese Art von Anschlägen, die absolut nicht vorauszusagen sind, wo es keine Ziele gibt, die immer dieselben sind, dann sind diese Anschläge wahrscheinlich aus Sicht der Terroristen zumindest effektiver als andere Anschläge, die voraussagbar sind.
Heinemann: Ist ein Anschlag am französischen Nationalfeiertag noch mal eine besondere Botschaft? Das ist der große Nationalfeiertag des Jahres, der 14. Juli, an dem sich die Republik ihrer Ursprünge erinnert.
Neumann: Ja das ist natürlich ganz besonders erniedrigend auch für die Franzosen, dass sie an genau diesem Tag eine solche Erniedrigung bekommen haben, und das ist deswegen auch ein Problem, weil es zeigt, dass natürlich der Islamische Staat offensichtlich in der Lage ist, sich die Ziele auszusuchen. Gerade für Frankreich ist das ein Problem, weil es für die politische Seite, für Präsident Hollande jetzt nicht eine einfache Lösung gibt. Er sieht fast schon so ein bisschen hilflos aus: Was soll er jetzt tun? Jetzt hat er entschieden, dass mehr Soldaten auf die Straßen kommen, aber es ist nicht offensichtlich, wie vier oder fünf zusätzliche Soldaten diesen Anschlag hätten verhindern können, weil ganz offensichtlich dann doch die Ziele angegriffen wurden. Deswegen produziert das jetzt eine sehr, sehr schwierige Situation auch politisch für Präsident Hollande.
"Die Hauptgefahr geht von Europäern aus"
Heinemann: Herr Neumann, hat die unkontrollierte Zuwanderung, für die es im vergangenen Jahr gute Gründe gab, die Sicherheitslage in Deutschland verschlechtert?
Neumann: Es ist natürlich so, dass durch die chaotische Weise, wie der Flüchtlingsstrom sich abgespielt hat, dass dadurch natürlich auch Möglichkeiten für den Islamischen Staat entstanden sind. Und wir wissen im Falle von Paris, dass über den Flüchtlingsstrom auch Auslandskämpfer zurück nach Europa geschmuggelt wurden. Aber es ist ganz wichtig zu betonen, dass die Hauptgefahr nach wie vor nicht von Syrern ausgeht, sondern die Hauptgefahr geht von Europäern aus: Entweder Europäern, die immer hier waren und die als einsame Wölfe aktiv werden, oder Europäern, die nach Syrien gegangen sind und dann mit Kampfauftrag nach Europa zurückgekommen sind. Ich denke, man darf diese zwei Sachen nicht einfach so vermischen. Natürlich sind durch diese unkontrollierte Art und Weise, wie der Flüchtlingsstrom sich abgespielt hat, auch Gefahrenpotenziale entstanden und es gab wie zum Beispiel in Düsseldorf auch Berichte darüber, dass Syrer möglicherweise potenzielle Terroristen sind. Aber die Hauptgefahr geht nach wie vor von Europäern aus, Leute aus unseren Gesellschaften, die sich aus dem einen oder anderen Grund dazu entschlossen haben, unsere Gesellschaften anzugreifen.
Heinemann: Professor Peter Neumann, der Terrorismusexperte am britischen King’s College. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.