Der IS habe auf dem Sinai einen starken Ableger und zu Anschlägen gegen Russen aufgerufen, sagte Neumann im Deutschlandfunk.
Allerdings gehe er immer noch von einer 50:50-Wahrscheinlichkeit aus. Denn es fehle weiter ein Beweis, etwa durch ein Bekenner-Video, in dem weitere Informationen genannt würden. Der IS auf dem Sinai sei einer der stärksten Ableger der Terror-Organisation, erklärte Neumann. Er werde in der Region von mehreren Stämmen unterstützt. Es gebe zudem Berichte, dass Mitarbeiter am Flughafen von Scharm el Scheich zu diesen Stämmen gehörten. Sie könnten eine Bombe an Bord geschmuggelt haben.
Das gesamte Interview in voller Länge:
Thielko Grieß: Peter Neumann ist Terrorismus-Experte. Er hat vor kurzem ein Buch geschrieben über die neuen Dschihadisten. Peter Neumann lehrt an der Hochschule Kings College in London. Kurz vor dieser Sendung haben wir ihn telefonisch erreicht. Meine erste Frage an ihn war, für wie stichhaltig, für wie fundiert er die Informationen hält, die von amerikanischer und von britischer Seite an die Öffentlichkeit gegeben worden sind.
Peter Neumann: Na ja, es ist immer noch fifty-fifty für mich. Auf der einen Seite macht es natürlich schon Sinn. Es ist plausibel. Der Islamische Staat hat Vergeltungsaktionen angekündigt gegen Russland seit dem Beginn der Militärschläge. Der Islamische Staat hat einen Ableger im Sinai, ganz nah dran an Scharm-el-Scheich. Und es gibt auch Gerüchte, dass ein Stamm, der den Islamischen Staat unterstützt im Sinai, dass der auch Leute am Flughafen hat. Insofern ist es nicht völlig unplausibel. Das eine, was mich immer noch ein bisschen stört, ist, dass wir vom Islamischen Staat selber noch keine weiteren Informationen bekommen haben. Worauf ich warte, ist eine Information des Islamischen Staates, die noch nicht in der Öffentlichkeit ist, die beweisen würde, wir wissen was, was ihr nicht wissen könnt, und das beweist, dass wir dafür verantwortlich waren, und das gab es bisher noch nicht.
Video wäre "für mich ein stichhaltiger Beweis"
Grieß: Weil der Islamische Staat sonst eher die Neigung hat, mit Mitteilungen über eigene Terrorerfolge nicht sparsam zu sein?
Neumann: Na ja, in den meisten Fällen schon. Es ist so, bei einer solchen großen Aktion hätte man eigentlich erwartet oder war es in der Vergangenheit so, dass dann ein, zwei Tage später ein ganz großes Video kommt, wo dann genau beschrieben wird, das waren die Vorbereitungen. Da werden dann Leute gefilmt, da wird dann auch erklärt, was ist der Sinn der ganzen Geschichte. Auch dieses Video gab es bisher noch nicht. Es kann natürlich sein, dass es noch kommt, aber das wäre für mich ein stichhaltiger Beweis.
Grieß: Warum sind dann die Wortmeldungen aus London zum Beispiel nicht auch vorsichtiger und stellen diese Fifty-fifty-Rechnung, die Sie jetzt angestellt haben, auch in Rechnung?
Neumann: Die einzige Erklärung, die ich dafür habe, ist, dass man offensichtlich Kommunikation abgefangen hat zwischen Leuten im Sinai, die Teil des Islamischen Staates sind, die da offensichtlich explizit darüber geredet haben. Natürlich kenne ich diese Kommunikation nicht und man wird erst mal sehen müssen, was dabei rauskommt, aber das wäre für mich die einzige Erklärung, die erklären würde, warum die sich so sicher sind.
Grieß: Wäre es nicht auch eine Möglichkeit gewesen, diese Dinge abzufangen und den Russen zunächst einmal nicht öffentlich mitzuteilen? Denn immerhin: Die meisten Opfer sind Russen und die russischen Behörden ermitteln ja auch, aber nicht die britischen.
Neumann: Ja! Aber es geht ja auch jetzt und vor allem darum, was mit den Touristen passiert, die noch in Scharm-el-Scheich sind. Natürlich ist die Befürchtung, dass da noch andere Dinge passieren. Wenn die Möglichkeit besteht für den Islamischen Staat, tatsächlich eine Bombe an Bord zu schaffen, dann sind natürlich gleich Konsequenzen gefordert, und das sieht man ja jetzt bereits darin, dass die gesamten Flüge gestrichen werden. Das Allerinteressanteste bei dieser ganzen Geschichte wird natürlich jetzt sein, wenn es sich tatsächlich so herausstellen sollte, dass es ein Anschlag war, was die Reaktion der russischen Öffentlichkeit ist und wie dann intern in Russland auch von Putin darauf reagiert wird und welche Konsequenzen das hat für das Engagement in Syrien.
Grieß: Sie haben vorhin in einem Nebensatz erwähnt, dass der IS auch eine verbündete Organisation im Sinai hat, auf dieser fast menschenleeren Halbinsel, die zu Ägypten gehört und schwierig zu kontrollieren ist für die ägyptischen Sicherheitskräfte. Wie stark hat sich der Terror dort inzwischen ausgebreitet?
Neumann: Der Terror existiert dort schon seit ein oder zwei Jahren. Dort finden zum Teil sehr heftige Kämpfe statt. Das ist auch etwas, worüber sich Israel Sorgen macht, weil zum Teil auch schon Raketen nicht aus Gaza, sondern aus Ägypten nach Israel reingeschossen wurden. Und das ist eine Organisation oder ein Ableger des Islamischen Staates, dem sehr schwer beizukommen ist, genau weil dieses Gebiet so schwer erreichbar ist und weil das im Prinzip ein Gebiet ist, das sich selbst regiert, wo es Stammesherrschaft gibt und das von außen nur sehr, sehr schwer zu penetrieren ist. Deswegen gilt diese Organisation im Sinai auch als einer der stärksten Ableger des Islamischen Staates außerhalb des Kerngebietes.
Grieß: Ist es denkbar, dass diese Organisation sich dann doch anders verhält als die IS, ich nenne es mal laienhaft, Mutterorganisation, die wir aus Syrien und dem Irak kennen, und deshalb sich auch anders verhält, als Sie es erwarten?
Neumann: Nicht unbedingt. Diese Ablegerorganisationen des Islamischen Staates, die vom Islamischen Staat selbst anerkannt werden, sind im Prinzip sehr, sehr loyal und würden nichts tun, was dem Islamischen Staat entgegenspielt. Es ist auch häufig so, dass dann Abgesandte geschickt werden aus Syrien und dem Irak und dort vor Ort aufpassen sollen, dass tatsächlich auch die Kommandos umgesetzt werden. Das was dort passiert ist jetzt mit dem Anschlag, mit dem möglichen Anschlag auf ein russisches Flugzeug, das macht ja auch totalen Sinn und das ist auch etwas, was vom Islamischen Staat in Syrien und im Irak selbst gefordert wurde, nämlich Anschläge auf Russen, Vergeltungsaktionen für Putins Militärschläge in Syrien, und das ist hundertprozentig in Ordnung und passt in die Strategie des islamischen Staates insgesamt.
Flughafenmitarbeiter gehören zu Stämmen der IS
Grieß: Wenn Sie über die schlechte Sicherheitslage auf der Sinai-Halbinsel berichten, dann klingt mir jetzt auch in den Ohren, was wir aus Scharm-el-Scheich hören vom Flughafen. Dort sollen die Kontrollen ja auch sehr lax sein, sehr schlecht sein. Warum reagieren dann ägyptische Behörden gerade in diesem Touristenort nicht anders?
Neumann: Ja, da gibt es unterschiedliche Berichte. Ich habe hier in Großbritannien gehört, dass da offensichtlich erst vor einigen Monaten wieder eine Kontrolle durchgeführt wurde und dass alles für gut befunden wurde. Aber der wichtige Punkt ist hier natürlich, dass die Leute, die am Flughafen arbeiten in Scharm-el-Scheich, zum Teil zumindest zu den Stämmen gehören, die auch den Islamischen Staat unterstützen. Da kann man sich natürlich alle möglichen Szenarien vorstellen, zum Beispiel, dass bei der Gepäckbeladung von jemandem eine Bombe an Bord geschmuggelt wird, oder ähnliche Szenarien, und das kann in einer solchen Situation, in einer solchen Gegend natürlich im Prinzip immer passieren.
Grieß: Jetzt schauen sich auf der Sinai-Halbinsel am Ort des Absturzes sowohl russische Ermittler als auch ägyptische Ermittler als auch, habe ich gelesen, französische Ermittler die Trümmerteile an. Glauben Sie, wir werden die Wahrheit erfahren?
Neumann: Ich glaube, der Schlüssel zur Wahrheit liegt beim Islamischen Staat. Der Islamische Staat, wenn er tatsächlich dafür verantwortlich war - und ich glaube, es ist in seinem Interesse, der Welt zu zeigen und auch den Russen zu zeigen, dass sie dafür verantwortlich waren -, dann müsste eigentlich vom Islamischen Staat selber was kommen. Deswegen immer noch meine Skepsis. Ich glaube, wenn der Islamische Staat das tatsächlich gemacht hat, dann muss er jetzt beweisen, dass er dafür verantwortlich war. Die ganzen technischen Ermittlungen können natürlich die Bombenteile finden, aber nicht identifizieren letztlich, wer dafür verantwortlich war, und es ist auch interessant, dass da jetzt so viele Staaten aktiv sind, was auch zeigt, dass keiner dem anderen traut.
Grieß: Sie selbst, Herr Neumann, stehen jetzt gerade am Flughafen in London und haben einen beruflichen Flug vor sich. Merken Sie an Sicherheitskontrollen irgendwie, dass die Situation sich etwas verändert hat?
Neumann: Nein. Man merkt überhaupt nichts und ich glaube, das wird von den britischen Behörden auch so verstanden, dass das wirklich eine Situation ist, die mit dem Flughafen in Scharm-el-Scheich zu tun hat, und dass dieser Flughafen der unsichere ist, nicht die Flughäfen, wo dann hingeflogen wird.
Grieß: Peter Neumann war das Terrorismus-Fachmann. Er lehrt am Kings College in London. Herr Neumann, danke schön für das Gespräch bei uns.
Neumann: Danke, Herr Grieß!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.