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Terrorismus
Frankreichs Zögern zur Rückführung von IS-Kindern

Die Anwältin Marie Dosé setzt sich für die Rückholung von Dschihadisten-Kindern aus Syrien ein. Würde man sie dort lassen, würden sie von Terroristen des Islamischen Staates eingesammelt, warnt sie: "Frankreich fabriziert hier die Attentate von Morgen". Doch die Mehrheit der Franzosen will keine Rückführung.

Von Christiane Kaess |
Frauen fliehen mit ihren Kindern aus dem IS-Dorf Baghus im Osten des Landes.
Mutmaßliche IS-Anhängerinnen fliehen mit ihren Kindern aus dem IS-Dorf Baghouz in Ostsyrien (dpa)
Marie Dosé hat eine klare Antwort, warum sie sich als Anwältin auf dieses kräfteraubende Engagement eingelassen hat: Von mehr als sechzig französischen Familien will sie Kinder und Enkel - aus Syrien zurückholen. Einige sind Waisen. Sie blickt eindringlich durch die runden Gläser ihrer Brille als sie erzählt, dass in Lothringen, wo sie herkommt, 1945 französische Familien deutsche Waisenkinder aufnahmen.
"Wir haben es also geschafft, die Kinder unserer Feinde zu adoptieren, von denen, die unsere Brüder, unsere Väter getötet haben oder unsere Söhne. Weil es Kinder waren und nicht Kinder von Nazis. Es gibt keine 'Kinder von Nazis' und auch keine 'Kinder von Dschihadisten'."
Keine Chance auf Befreiung
Dosé nennt den Islamischen Staat eine Sekte, der junge Menschen verfallen. Seit einem Jahr erreichen die Anwältin bis spät abends Nachrichten aus dem nordsyrischen Lager Al Hol. Dosé wischt mit dem Daumen auf ihrem Smartphone über Bilder von Frauen und Kindern deren Gesichter und Körper von Brandwunden und Verletzungen entstellt sind. Einige in dem Camp haben französische Pässe.
"Frankreich fabriziert hier Terroristen nach Maß. Indem sie diese Frauen und Kinder da lassen, rekonstruieren sie den Islamischen Staat. Diese Kinder werden von Terroristen, die es dort immer noch gibt, eingesammelt und die Frauen haben keine Chance, sich von der demütigenden Ideologie des Islamischen Staates zu befreien. Frankreich fabriziert hier die Attentate von Morgen."
Radikale und Rückkehrwillige
In dem Lager, das Platz für 20.000 hat, leben 75.000 Menschen. Mehr als die Hälfte sind Kinder. Mittlerweile hätten sich die ausländischen Frauen in zwei Clans geteilt, erzählt Dosé: Diejenigen, die zurück in ihre Heimatländer wollen, und die Radikalen, die immer noch der Ideologie der Islamisten anhängen. Sie bedrohten die Heimkehrwilligen, weil die in ihren Augen Verräterinnen und Ungläubige sind. Immer wieder würden Zelte nieder gebrannt. Mehrmals pro Woche schickt Dosé Briefe ins Außenministerium, in denen sie den aktuellen Zustand jedes Kindes ihrer Mandanten auflistet und darauf hinweist, es laufe Gefahr, im Lager umzukommen.
Umfragemehrheit gegen IS-Rückkehrer
Aber: Sie hat darauf keine Antwort bekommen. Seit Januar sind dutzende Kinder im Camp Al-Hol gestorben, bestätigen Hilfsorganisationen. Vor internationalen Gerichten versucht Marie Dosé Frankreich dazu bringen, die eigenen Bürger nach Hause zu holen. Im Februar wäre es beinahe dazu gekommen:
"Alles war vorbereitet bis hin zur Nummer der Flugzeuge, in die sie einsteigen sollten. Die Anti-Terrorismus-Untersuchungsrichter haben sie in Frankreich erwartet, sie haben sogar ihren Urlaub dafür annulliert. Aber dann ist eine Umfrage im Büro des Präsidenten angekommen, die besagte, dass eine Mehrheit der Franzosen gegen diese Rückführung ist. Und alles wurde gestoppt."
Plötzliche Radikalisierung der Schwester
Eine von Marie Dosés Mandantinnen ist bereit, ihre Geschichte zu erzählen. Sarah heißt anders, aber will ihren richtigen Namen nicht nennen. Um ihr schmales Gesicht trägt sie ein braunes Kopftuch. Ihre dunklen Augen leuchten munter - trotz der Sorgen um ihre Schwester in Syrien. Die schloss sich vor fünf Jahren dem Islamischen Staat an. Warum?
"Das ist die Frage, die wir uns alle stellen - wir wissen nicht, warum."
Ein paar Jahre zuvor war ihre Mutter gestorben. Das war ein heftiger Einschnitt, sagt Sarah. Danach hat Sarahs Schwester einen Mann kennengelernt, den sie heiratete, ohne jemandem etwas davon zu erzählen. Sie zog mit ihm nach Ägypten. Dann rief sie aus dem irakischen Mossul an. Die Stadt war damals von der Terrormiliz "Islamischer Staat" besetzt. Sarah kann sich noch an den Moment am Telefon erinnern:
"Man glaubt, man sei in einem Traum. Als sie Mossul sagte - sagte ich: Was machst Du denn da? Sie sagte: mach dir keine Sorgen. Uns geht es gut, es gibt keinen Krieg hier, es ist nicht, wie Du denkst. Es ist ruhig hier."
Lebenszeichen aus der letzten IS-Bastion
Sarahs Schwester bekam einen Sohn. Zwei Monate nach der Geburt wurde ihr Mann von einer Bombe getötet, erzählt Sarah. Sie versuchte, ihre Schwester zur Rückkehr zu bewegen. Die reagierte wütend. Nachdem sie einige Zeit später angekündigt hatte, dass sie den Ort wechseln müsse, hörte Sarah ein Jahr lang nichts mehr von ihr. Es war eine emotionale Achterbahn.
"Es ist seltsam - es gibt Phasen, in denen man wütend ist - ich konnte einfach nicht begreifen, warum sie das getan hat. Dann wieder habe ich mir gesagt: Sie ist tot. Ich muss es akzeptieren, aber es blieb immer etwas in mir, dass mir gesagt hat: Vielleicht ist sie nicht tot. Vielleicht…"
Sie war nicht tot. Sie meldete sich eines Tages als Sarah gerade ihre eigenen Kinder von der Schule abholte. Sarahs Gesicht hellt sich auf als sie erzählt wie die Nachricht auf ihrem Smartphone aufploppte:
"Kennen Sie dieses Gefühl, als ob Sie fliegen würden? Ich hatte dieses Gefühl."
Erzählungen von Flucht und Warten
Lang hielt es nicht an. Ihre Schwester saß im syrischen Baghouz fest. Die letzte Bastion des Islamischen Staates wurde bombardiert. Es gab nichts mehr zu essen. Von wilden Beeren und Kräutern, die sie auf der Straße sammelte, so erzählt Sarah, habe ihre Schwester überlebt. Mit ihrem Sohn und einem Waisenmädchen, das sie aufgenommen hatte. Dessen französische Mutter war auf dem Weg nach Baghouz am Fluss Euphrat bei einem Bombardement ums Leben gekommen. So gibt Sarah die Erzählung ihrer Schwester wieder. Im Februar kam ihre Schwester schließlich ins Lager Al-Hol.
Sarah öffnet ein Video auf ihrem Smartphone: Eine hagere Frau, sitzt mit einem kleinen Mädchen auf dem Boden, der mit einer Decke des UN-Flüchtlingshilfswerks dürftig bedeckt ist. Fünfzehn Familien mit Kindern in einem Zelt. Eines Tages nahmen Kurden, die das Camp führen, Sarahs Schwester das kleine Waisenmädchen weg. Sie wusste nicht, warum. Aber am nächsten Tag bekam die Anwältin Marie Dosé einen Anruf vom französischen Außenministerium: Das Kind durfte nach Frankreich zurück, als eine der bisher Wenigen.
Neues Heim für den Neffen
Sarah hofft, dass ihre Schwester mit ihrem Neffen bald folgen wird. Vor ein paar Tagen wurden sie mit anderen Französinnen in ein anderes Camp gebracht. Ihrer Schwester sei klar, dass sie bei einer Rückkehr in Frankreich wohl erst einmal ins Gefängnis muss, sagt Sarah. Ihre Schwester frage, ob sie da studieren könne, und ihren Sohn sehen dürfe. Auch der müsste wohl erst einmal eine Zeit lang in eine fremde Gastfamilie. Und trotzdem, lacht Sarah:
"Ich habe sein Zimmer schon fertiggemacht! Ich hab es neu gestrichen. Es sollte eigentlich für meine Tochter sein und war rosa. Ich habe es jetzt weiß gemacht und etwas neutraleres Spielzeug gekauft, sodass es ein Zimmer für beide ist."