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Terrorismus in Deutschland
RAF-Geschichte aus der Perspektive der Kinder

In ihrem Roman "Schlaf der Vernunft" arbeitet die Autorin Tanja Kinkel mit einer fiktiven Geschichte über die Terroristin Martina Müller die Epoche des RAF-Terrors auf. Unsere Rezensentin kann in dem Werk allerdings nichts Neues entdecken. Sie wünscht sich mehr Lebendigkeit und Lücken, statt penibler Aneinanderreihung von Fakten.

Von Sandra Hoffmann | 01.07.2016
    Die letzte Seite des Schreibens, mit dem die Rote Armee Fraktion ihre Selbstauflösung bekanntgegeben hat.
    Die letzte Seite des Schreibens, mit dem die Rote Armee Fraktion ihre Selbstauflösung bekanntgegeben hat. (dpa / picture alliance )
    "Zum Glück war jetzt auch nur der eine Brief gekommen. Wenn sie ihn weiter ungeöffnet ließ, räumte sie ihm nur noch mehr Bedeutung ein, weil sie nicht aufhören würde, sich die verschiedensten Möglichkeiten seines Inhalts vorzustellen. Sie würde ihn lesen und damit dem Spuk ein Ende machen. Ob sie ihn beantwortete, würde davon abhängen, was drinstand."
    Natürlich hat, wer einen Brief von einer nahen Person bekommt, und ihn nicht öffnet, Gründe, dies nicht zu tun. Das versteht sich von selbst. Und natürlich hängt es vom Inhalt ab, wie man auf einen Brief reagiert. Das muss man nicht alles auch noch sagen. Und natürlich ist weniger oftmals mehr.
    Tanja Kinkel erzählt in ihrem Roman "Schlaf der Vernunft" die weitreichenden Folgen des Deutschen Herbstes, die Folgen des Terrorismus der Roten Armee Fraktion auf die Angehörigen der Täter und Opfer. Etwa zwanzig Jahre nachdem die mutmaßliche Terroristin Martina Müller unter anderem wegen des Attentats auf einen fiktiven Staatsekretär namens Werder, seinen Fahrer und seinen Leibwächter ins Gefängnis kommt, wird sie begnadigt. Die damals elfjährige Tochter Angelika, die mit der Mutter seither keinen Kontakt mehr hatte, ist inzwischen verheiratet und selbst Mutter zweier Söhne; sie erfährt in einem Brief von der Begnadigung. Und nicht nur sie. Auch der Sohn jenes Staatssekretärs weiß davon, ein Personenschützer, der das Attentat überlebt hat, bekommt ebenfalls Kenntnis von der Sache. Und manch anderer. Und plötzlich ist mit der Frage nach der Berechtigung einer vorzeitigen Entlassung aus dem Gefängnis alles wieder da. Die Geschichte erwacht heute. Und alle je von der Sache betroffenen Personen geraten in Aufregung und Unruhe. Jeder auf seine Weise.
    Das hätte ein guter Roman werden können.
    Ein Roman, über den man sich zunehmend ärgert
    Aber es ist ein Roman geworden, der einem aufgrund seiner hölzernen und klischeehaften Sprache das Lesen schnell verleidet. Und es ist ein Roman geworden, über den man sich zunehmend ärgert, weil man immerzu für dumm gehalten wird. Alles, und sei es noch das letzte Schweigen in einem Anruf zwischen der Tochter der Terroristin und ihrem Ehegatten, der nicht möchte, dass sie Umgang mit ihrer Mutter hat, wird bis zur Erschöpfung erklärt. Emotionen werden nicht spürbar, aber beschrieben, Gedanken psychologisiert und gewendet bis nichts mehr von ihnen übrig bleibt. Es gibt nichts zu entdecken, es gibt keine Wunder zwischen den Zeilen, keine Schönheit in den Sätzen. Es ist, als wäre der Sound, den man kennt, wenn man sich an die Reden von Christian Klar aus dem Gefängnis heraus erinnert, übergesprungen auf die Autorin. Alles ist sperrig, alles klingt als stoßen Wörter wie Pappendeckel dumpf aneinander und es regt sich gar nichts im Leser.
    In einem Kapitel, in dem Martina Müller, die Terroristin, zurückschaut auf die Zeit vor der RAF und auf all das, was sie zu der werden ließ, die sie jetzt ist, einer Mörderin, wird alles so gründlich erzählt wie im Schulaufsatz. Der Schahbesuch in Berlin 1967, die damit einhergehenden Krawalle, der Tod von Benno Ohnesorg, wer gerade Politik gemacht hat, Amerika, Vietnam, Baader, Ensslin; und so weiter.
    Sätze, die man schon zig Mal gehört hat
    Man versteht den Wunsch nach Sorgfalt in dieser Sache gut, aber Romanfiguren dürfen nicht zu Thesenträgern werden. Dabei sind es die Figuren dieses Kapitels, die einen interessieren könnten, Martina Müller, und jener Jürgen, der der Vater von Martinas Tochter Angelika werden wird: Studenten, junge Menschen unterwegs, die die Welt verändern wollen. Man möchte, man wünscht sich, dass sie einen für sich einnehmen. Aber sie bleiben Pappkameraden. Sie dienen ausschließlich dem Zweck der Sache: Möglichst penibel, möglichst lückenlos Umstände und Fakten darzustellen, die in einschlägigen Sachbüchern bereits ausreichend erörtert und betrachtet wurden. Man wünscht sich Lebendigkeit, man wünscht sich Lücken, man wünscht sich Sätze, die man nicht kennt, und man möchte weinen, wenn man liest:
    Sprecher: "Wer redet denn von Liebe? `Wer zwei Mal mit demselben pennt, gehört schon zum Establishment.’"
    Nicht zwei Mal, zig Mal haben wir diesen Satz schon gehört.
    Tanja Kinkel: Schlaf der Vernunft
    Droemer-Knaur, 448 Seiten, 19,99 Euro