Rainer Brandes: Totale Überwachung, möglichst viele Daten sammeln, das ist die Antwort der polnischen Regierung auf Fragen nach mehr Sicherheit. Und tatsächlich stellt sich die Frage ja sehr dringend, ob die europäischen Sicherheitsbehörden hier versagt haben. Das möchte ich mit Martin Kahl erörtern. Der promovierte Politikwissenschaftler beschäftigt sich am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Uni Hamburg mit der Bekämpfung des Terrorismus. Herr Kahl, vier Monate hat der Hauptverdächtige der Pariser Attentate, Salah Abdeslam, unbehelligt in Brüssel gelebt, bevor die Polizei ihn fand. Wie kann das sein?
Martin Kahl: Ja, das kann sehr gut sein, wenn sich die entsprechende Person konspirativ genug verhält, wenn sie einen Unterstützerkreis hat, der groß genug ist, wenn man genug Personen hat, die sie verstecken, und sich dann im Alltagsleben so unauffällig verhält, dass die Behörden im Grunde keine Chance haben, dann auf die Person zuzugreifen.
"Eine Vorbereitung von einem Terroranschlag braucht ja im Grunde nicht immer viele Mittel"
Brandes: Was bedeutet das denn konkret? Was müssen diese Terroristen tun, damit sie nicht auffallen?
Kahl: Sich quasi unter dem Radar der Sicherheitsbehörden bewegen. Eine Vorbereitung von einem Terroranschlag braucht ja im Grunde nicht immer viele Mittel. Man braucht nur ein politisches Motiv, man braucht Gewaltbereitschaft und ein Gewaltmittel. Das kann aber auch ein Küchenmesser sein, mit dem man dann vielleicht auf einen einzelnen Polizisten losgeht oder auf eine Zivilperson, und schon hat man einen Terroranschlag. Das können Sie vorbereiten, ohne dass da jemand vorher was von mitkriegt.
Brandes: Nun haben die Attentäter von Brüssel aber ja einen größeren Anschlag vorbereitet mit mehreren Sprengsätzen, und das zu einer Zeit, in der der Fahndungsdruck in der belgischen Hauptstadt ja enorm hoch war nach der Festnahme von Abdeslam. Wie ist das möglich?
Kahl: Die Sicherheitsbehörden in Belgien haben ja nicht geschlafen. Die haben schon alles Menschenmögliche gemacht, um die Attentäter aufzuspüren. Die haben sich sicher auch gedacht, dass der Abdeslam sich in der Gegend von Brüssel aufhält. Aber offensichtlich haben die polizeilichen Geheimdienstmittel nicht ausgereicht, um ihm auf die Spur zu kommen. Da müsste man jetzt im Einzelnen noch mal genau gucken, woran das gelegen hat. Aber wie gesagt: Wenn die Terroristen lernen, mit den Strafverfolgungsmaßnahmen, mit den geheimdienstlichen Maßnahmen umzugehen, sich entsprechend zu verhalten, ist es wahnsinnig schwer, denen rechtzeitig auf die Spur zu kommen.
"Geheimdienste kriegen zwar gerne Informationen, geben sie aber sehr ungern weiter"
Brandes: Jetzt fordern ja viele europäischen Politiker auch hier bei uns in Deutschland einen besseren Datenaustausch zwischen den europäischen Polizeibehörden, auch weil Abdeslam ja im Vorfeld nach den Pariser Attentaten unbehelligt durch Europa hat reisen können. Warum funktioniert dieser Datenaustausch bisher nicht?
Kahl: Die einzelnen Geheimdienste der Nationalstaaten sind relativ unwillig, Informationen nach Europa weiterzugeben. Das ist auch immer wieder beklagt worden. Es ist auch von Europol beklagt worden, dass eigentlich nur relativ wenige Mitgliedsstaaten da genügend Informationen zur Verfügung stellen. Das hat unterschiedliche Gründe. Es liegt teilweise an unterschiedlichen rechtlichen Vorschriften, das liegt an gewissen Traditionen, wie man mit Informationen im Land umgeht. Generell kann man sagen, Geheimdienste kriegen zwar gerne Informationen, geben sie aber sehr ungern weiter, weil man diese Informationen als seinen eigenen Besitzstand betrachtet, und auch, weil man ungern seine eigenen Quellen preisgibt.
Brandes: Aber mal platt formuliert: Wenn man Terrorismus bekämpfen will, ist das doch blöd?
Kahl: Wenn man Terrorismus bekämpfen will, da haben Sie Recht, ist das blöd. Nur würde ich sagen, in vielen Fällen lagen ja Informationen im Grunde auch vor. Heute ist ja auch bekannt geworden, dass die an den Attentaten jetzt in Brüssel Beteiligten polizeibekannt waren. Es liegt dann offensichtlich nicht immer daran, dass Informationen nicht vorliegen, sondern es liegt daran, dass man sie nicht richtig deuten kann, dass es an Analysekapazitäten fehlt, was aber auch ein bisschen wieder an dem Phänomen Terrorismus liegt, weil viele unverdächtige Vorgänge im Vorfeld gar nicht als verdächtig gedeutet werden können. Das Bild ergibt sich dann immer im Nachhinein.
Brandes: Was könnte man an dieser Analysefähigkeit denn verbessern?
Kahl: Das halte ich im Grunde für kaum möglich, weil Terrorismus, wie ich eben schon gesagt habe, so ein Phänomen ist, was gar nicht viele Voraussetzungen hat. Das ist halt sehr schwierig, weil viele Alltagshandlungen können schon Vorbereitungshandlungen sein, und dass es Vorbereitungshandlungen waren, fällt dann erst im Nachhinein auf. Es muss ja nicht sozusagen jeder, der einen Terroranschlag beabsichtigt, in einen Baumarkt gehen und sich eine große Menge chemischer Substanzen kaufen. Was in dem Fall, der ja auch durch die Presse gegangen ist, ging es ja gar nicht um einen Terroranschlag, sondern um eine andere Sache.
Brandes: Heißt das denn dann jetzt, wenn ich das so höre, dass Forderungen, wie sie heute zum Beispiel vom CDU-Politiker Wolfgang Bosbach gekommen sind, dass wir ein europäisches Terrorabwehrzentrum brauchen, dass das letztlich gar nicht so viel bringen würde?
Kahl: Europäisches Zentrum für Terrorismusbekämpfung gibt es ja bereits. Das ist ja vor einiger Zeit in Betrieb genommen worden. Das ist ein Informations-Sammel- und Analysezentrum, was bei Europol angesiedelt ist. Auch da wird das Problem sein, dass genügend Informationen von den Mitgliedsstaaten kommen.
"Ein Problem ist die Deutung der Information"
Brandes: Dann bleibt als Fazit: Das einzige, was man tun kann, ist mehr Informationen dort hineinstecken?
Kahl: Das wird von den Politikern immer so dargestellt. Ich würde aber sagen, ein Problem ist die Deutung der Information. Das ist ein grundsätzliches Problem. Wir haben ja schon ein hohes Informationsaufkommen. Wir haben sozusagen ein hohes Grundrauschen an Informationen, was dann teilweise dazu führt, dass man wichtige Sachen übersieht, einfach weil die Informationsmenge so groß ist, oder, dass es, wie wir in Hannover und München gesehen haben, gar zu Fehlalarmen kommt, weil man dann bestimmte Informationen, die man hat, überinterpretiert.
Brandes: Sollte man sich dann lieber auf wenige, aber dafür relevantere Informationen beschränken?
Kahl: Dann haben Sie wieder das Problem, dass Sie von vornherein ja auch nicht wissen, was jetzt die relevanten Informationen sind. Die Politiker sehen in dem Aufbau von Datenbanken und dem Zusammenführen von Datenbanken - das hat der Innenminister ja heute in einem Interview auch wieder gesagt - ein Allheilmittel. Da wäre ich sehr vorsichtig. Einfach mehr Informationen muss nicht unbedingt mehr bringen. Wir können auch in Informationen ertrinken. Wenn Sie sich mal überlegen: In den USA sind in der Datenbank für Terrorverdächtige 680.000 Personen drin. Mit so einer Datenbank können Sie gar nicht vernünftig arbeiten, weil Sie haben viel zu wenig Selektionskriterien, und die Frage ist dann immer, wer kommt aus welchen Gründen in solche Datenbanken rein und wird dann jeder verdächtig im Vorfeld.
Brandes: Eine ernüchternde Bilanz, die der Terrorismusforscher Martin Kahl vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Uni Hamburg hier zieht. Wir haben das Gespräch vor der Sendung aufgezeichnet.
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