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Terrormiliz
IS profitiert vom Staatszerfall in Libyen

Westliche Geheimdienste schätzen, dass die Terrormiliz IS inzwischen über mehr als 2.000 Kämpfer in und um Sirte verfügt. Seit Teile Syriens und des Iraks aus der Luft und am Boden bekämpft wird, machen Vermutungen die Runde, dass die Terroristen eine Art Ausweichquartier in Libyen errichten wollen.

Von Sabine Rossi |
    Außerhalb von Sirte bereiten sich Kämpfer des Allgemeinen Nationalkongresses auf einen Angriff auf die Terrormiliz IS vor.
    Außerhalb von Sirte bereiten sich Kämpfer des Allgemeinen Nationalkongresses auf einen Angriff auf die Terrormiliz IS vor. (dpa / picture alliance / Str)
    Die Kämpfer des selbst ernannten Islamischen Staates kamen zu Jahresbeginn nach Sirte. Sie verboten Musik und Zigaretten, Frauen mussten sich fortan in der Öffentlichkeit verschleiern – von Kopf bis Fuß. Wie in seinen Hochburgen Raqqa in Syrien und Mossul im Irak erhebt der IS auch in Sirte Steuern, unterhält eine eigene Polizei und hat eigene Richter.
    "Zuerst war es eine kleine Gruppe", sagte Kommandant Mohammed Abdel Quddus im Mai. "Dann sind es immer mehr geworden. Die Terroristen haben mehrere volle Waffenarsenale erobert, damit sind jetzt zusätzlich Dutzende schwerer Maschinengewehre in ihrem Besitz."
    Der libysche IS-Ableger ist der stärkste außerhalb Syriens und des Iraks. Westliche Geheimdienste schätzen, dass der IS inzwischen über rund 2.000 Kämpfer in und um Sirte verfügt.
    Sirte ist die Heimatstadt des früheren libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi. Übers Mittelmeer sind es nicht einmal 700 Kilometer bis nach Sizilien, bis nach Europa. Italien fürchtet seit langem, dass sich IS-Anhänger unter den Bootsflüchtlingen, die von den Küsten Libyens starten, verstecken könnten und so unbemerkt nach Europa gelangen. Der IS schürt diese Angst: Im Februar richteten die Dschihadisten mehr als 20 koptische Christen aus Ägypten hin. In einem Propagandavideo sagten sie später, die Enthauptungen seien an einem Strand südlich von Rom aufgenommen worden.
    Seit der IS in einigen Teilen Syriens und des Iraks aus der Luft und am Boden bekämpft wird, machen Vermutungen die Runde, dass die Terroristen eine Art Ausweichquartier in Libyen errichten wollen. Mohamed Eljarh, Mitglied der Denkfabrik "Rafik-Hariri Center für Nahoststudien", sagte dem US-Nachrichtensender CNN, dass er dafür eindeutige Hinweise sehe.
    "Leute in Sirte berichten, dass viele ausländische Kämpfer in den vergangenen Wochen und Monaten angekommen sind. Es sind Konvois aus Nigeria und Mali, sogar eine Brigade aus Tunesien. Diese Männer haben in Sirte selbst und südlich in der Wüste Position bezogen. Aktuell heißt es, dass viel Bewegung rund um den Hafen ist. Das könnte ein Zeichen dafür sein, dass jetzt weitere Kämpfer übers Meer nach Sirte kommen."
    Auch ranghohe irakische IS-Strategen sollen inzwischen in Libyen sein. Die Terrorgruppe nutzt das Vakuum im Land: Es herrschen zwei Regierungen und zwei Parlamente – und allen stehen Milizen und Stämme bei. Die Institutionen des Landes sind gespalten: Es gibt zwei Zentralbanken und zwei Ölfördergesellschaften.
    Libyens Wirtschaft hängt fast ausschließlich vom Ölexport ab. Während das Land 2010 vor Beginn des Volksaufstands und des Bürgerkriegs noch mehr als anderthalb Millionen Barrel Öl am Tag förderte, sind es heute noch etwa 400.000 Barrel pro Tag. Zu wenig, um mittelfristig die Staatsausgaben zu decken.
    Libyen stehe kurz vor dem Kollaps, sagt Issadr El Amrani, Nordafrikaexperte in der Nichtregierungsorganisation International Crisis Group.
    "Die Wahrheit ist, dass Libyen seine Reserven auffrisst, und das in einem alarmierenden Tempo. Wenn es so weitergeht, könnte das zu einer echten humanitären Krise führen. Wir sehen bereits in einigen Teilen Libyens, dass Lebensmittel und Treibstoff knapp werden – und das wird hart für die ganz normalen Menschen."
    Rund um Sirte soll der IS inzwischen einen etwa 150 Kilometer langen Streifen entlang der Küste kontrollieren. Damit sind die Dschihadisten nur noch wenige Kilometer von einer der wichtigen Ölförderanlagen Libyens entfernt.