Eigentlich ist der Beschluss klar: Am 15. September einigen sich die Chefinnen und Chefs der Staats- und Senatskanzleien der Bundesländer auf bundesweite Vorgaben für Sportveranstaltungen. Die wichtigsten Zahlen: Wenn der 7-Tage-Inzidenzwert unter 35 liegt, sollen höchsten 20 Prozent der möglichen Fans in die Stadien oder Hallen. Wenn der Wert über 35 liegt, sollen keine Fans zugelassen werden.
Schon vor dem Ende der Testphase kommende Woche steht aber fest: Das Ziel, eine bundesweit einheitliche Regelung zu finden, ist gescheitert. Denn während in Berlin und Hannover trotz Inzidenzahlen von mehr als 50 Fußballspiele vor tausenden Fans stattfinden, sind die Stadien und Hallen an anderen Ort praktisch leer.
Unterschiedliche Vorgaben in Niedersachsen und Berlin
"Klar, wünschenswert, auch aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, wäre eine bundesweit einheitliche Regelung. Letztendlich leben wir im Föderalismus, und von daher muss man das akzeptieren", meint Alexander Wehrle, Geschäftsführer beim 1. FC Köln und Mitglied im Präsidium der DFL.
Der Grund für dieses Wirrwarr: Auch wenn sich die Bundesländer auf die gemeinsamen Vorgaben geeinigt haben – nicht alle Länder haben diese Vorgaben dann in ihre Coronaschutzverordnungen hineingeschrieben. Und nur die sind für die lokalen Gesundheitsämter bindend.
Niedersachsen hat zum Beispiel zwar die Kapazitätsgrenze von 20% in seine Verordnung aufgenommen, nicht aber den Wert von 35 als Grenzwert für die Inzidenz. Die Berliner Verordnung ignoriert jegliche Vorgaben aus dem Beschluss und erlaubt sogar Veranstaltungen mit bis zu 5000 Menschen.
Darauf berufen sich auch Hertha BSC und Union Berlin. Der Pressesprecher von Union, Christian Arbeit, findet auf eine schriftliche Anfrage deutliche Worte zur Wirksamkeit des ursprünglichen Beschlusses.
"Das Problem ist - wie so oft in letzter Zeit: Eine politische Willens- oder Meinungsbildung, die anschließend nicht in Verordnungen umgesetzt wird, hat keinerlei Relevanz. Sie bleibt dann eine Idee oder Meinung, mehr nicht."
Warum Berlin und Niedersachsen die Vorgaben nicht umsetzen, dazu gibt es aus beiden den Staats- bzw. Senatskanzleien auf Deutschlandfunk-Anfrage keine Antwort.
"Wir halten das für ein falsches Signal"
Besonders das Verhalten Berlins ist bemerkenswert, weil das Land im Moment in der Ministerpräsidentenkonferenz den Vorsitz führt, dort also, wo sich die Länder auf bundesweite Vorgaben einigen. Und weil sich Oberbürgermeister Michael Müller mehrfach für ein bundesweit einheitliches Vorgehen ausgesprochen hat.
Bei Sportveranstaltungen unterläuft Berlin mit seiner Verordnung genau dieses Vorhaben. Dabei kritisiert selbst die Berliner Senatsverwaltung für Inneres und Sport, dass Union vor 4500 Menschen spielt.
"Wir halten das für ein falsches Signal und hätten uns eine andere Lösung gewünscht. Die Entscheidung darüber liegt aber bei der DFL, den Vereinen und den jeweils zuständigen Gesundheitsämtern der Bezirke. Von der Innen- und Sportverwaltungsseite haben wir da keine Handhabe."
Auch unter den Vereinen herrscht Uneinigkeit
Die Politik gibt sich also zumindest in Berlin machtlos und sieht die DFL in der Verantwortung. Aber auch dort gibt es keine einheitliche Linie.
Zwar melden die Klubs auf Deutschlandfunk-Anfrage unisono zurück, der Testbetrieb habe sich bewährt. Auf die Frage, ob sich die Grenzwerte ändern sollten, antworten die Klubs aber häufig ausweichend. Offene Worte kommen aber aus Hoffenheim und Paderborn. Dort hält man die aktuellen Grenzen für gut gewählt und akzeptabel.
Die Würzburger Kickers und Jahn Regensburg kritisieren hingegen den starren Inzidenzwert von 35. Und auch DFL-Präsidiumsmitglied Alexander Wehrle plädiert dafür, eher darauf zu schauen, ob von einer Veranstaltung ein Infektionsrisiko ausgehe.
"Wenn ein Konzept für tragfähig eingestuft wurde, dass eben keine Gefahr von dieser Veranstaltung ausgeht, dann sollte man das als Maßstab nehmen und weniger Werte. Und dafür plädiere ich. Genauso wie ein Kaufhaus, das ein tragfähiges Konzept hat, zurecht Kunden in seinem Kaufhaus hat, genauso muss man dann auch Konzepte von Veranstaltern entsprechend berücksichtigen, finde ich."
Virologin hält Lockerungen für denkbar
Wehrle verweist dabei auf die umfangreichen Hygienemaßnahmen, die von den Klubs ergriffen werden. In Köln würden die lokalen Verkehrsbetriebe zum Beispiel mit genauso vielen Bahnen fahren, wie bei einem normalen Spiel, damit es auch bei An- und Abreise kein Gedränge gibt.
In Berlin müssen die Fans auch im Stadion die ganze Zeit Maske tragen und dürfen nicht singen. Unter diesen Voraussetzungen hält auch die Virologin Ulrike Protzer von der TU München eine Lockerung der Vorgaben für denkbar:
"Diese Maßnahmen tragen erheblich zur Sicherheit bei und wenn jetzt die Erfahrung zeigt, dass bei einer Inzidenz von 35 noch nicht viel passiert, da kann man sicherlich drüber nachdenken, ob man das noch ein bisschen lockern kann und nicht ganz so strikt bei den 35 bleibt."
Stadien sind anscheinend keine Infektionsherde
Und in der Tat: Die Gesundheitsministerien der Länder teilen dem Deutschlandfunk mit, dass sie keine Erkenntnisse darüber haben, dass es bei Profi-Sportereignissen zu Infektionen gekommen ist. Selbst in Dortmund. Dort hatte ein Infizierter das Spiel gegen Borussia Mönchengladbach besucht. Die Kontaktnachverfolgung hat aber ergeben, dass er niemanden dort angesteckt hat.
Für die Vereine ein Beleg dafür, dass die Konzepte funktionieren. Die Ministerien weisen aber auch darauf hin, dass es aufgrund der vielen Infektionen oft nicht klar ist, wo sich die Menschen genau angesteckt haben. Außerdem betonen sie: Auch mit den besten Hygienekonzepten bergen größere Menschenansammlungen eine Gefahr, gerade vor oder nach dem Spiel, wo es schwerer sei, die Umsetzung der Vorgaben zu kontrollieren.
Und sollten tatsächlich Infizierte ein Spiel besuchen, sei die große Anzahl möglicher Kontakte für Gesundheitsämter nur schwer oder gar nicht zu bewältigen, mahnt auch das Bundesgesundheitsministerium. Und schreibt deshalb: Großveranstaltungen, auch mit reduzierter Auslastung, seien in der aktuellen Situation "nicht angemessen".
Finanzielle Sorgen der Vereine
Auch Virologin Ulrike Protzer kann diese Sichtweise nachvollziehen.
"Ich glaube, es ist wichtig, dass die Menschen schon verstehen: Jetzt müssen wir aufpassen! Wenn wir nicht in ein wirklich heftiges exponentielles Wachstum reinkommen wollen und das ganze nicht mehr kontrollieren können, dann müssen wir jetzt bremsen. Da kann ich schon gut nachvollziehen, wenn jemand sagt, dass so eine Großveranstaltung auch kein gutes Signal ist."
Auf der anderen Seite seien Besuche von engen Kellerbars deutlich gefährlicher als Stadionbesuche. Man lerne im Moment von jedem einzelnen Ereignis und müsse bereit sein, die Erfahrungen umzusetzen – seien es positive oder negative. Dieser Ansicht ist auch Alexander Wehrle. Selbst wenn sein Verein bei einer Auslastung von 20 Prozent und den vielen Hygienemaßnahmen draufzahlen müsste.
"Es geht auch nicht immer nur ums Finanzielle. Es geht auch darum, ein Zeichen zu setzen. Denn wenn wir nicht irgendwann auch mit 20 Prozent nachweisen können, dass das Hygienekonzept funktioniert, dann frage ich mich, wie das auch zukünftig mit professionellem Sport sein soll."
Denn die finanziellen Belastungen sind jetzt schon groß. Pro Heimspiel ohne Publikum verliere der 1. FC Köln 1,8 Millionen Euro, so Wehrle. Sollte es bis zum Jahresende nur noch Geisterspiele geben, würde es auch bei Greuther Fürth einen Schaden im siebenstelligen Bereich geben. Und auch Aue würde 150.000 Euro pro Spiel verlieren, so der Zweitligist.
Korrektur: In einer ursprünglichen Version hieß es, dass Union Berlin vor 5000 Menschen gespielt hat. Die Zuschaueranzahl betrug allerdings 4500.