Millionen von Reiserückkehrern werden aktuell nicht getestet, ob sie sich mit dem Coronavirus infiziert haben. Mit Blick auf eine mögliche Testpflicht für Urlauber zögern Bund und Länder noch. Der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke, Redakteur bei den Blättern für deutsche und internationale Politik, kritisiert diese Haltung scharf. Im Grunde erlebe man eine Wiederauflage dessen, was schon im vergangenen Jahr versäumt worden sei, sagte er im Dlf. Angesichts der besonders ansteckenden Delta-Variante hätte man diese Frage längst bundespolitisch einheitlich klären müssen.
Das Interview im Wortlaut:
Dirk Müller: Herr von Lucke, geht so schlechte Politik?
Albrecht von Lucke: Das kann man wohl sagen, und es ist vielleicht sogar noch eine Spur dramatischer. Es ist quasi die Wiederauflage dessen, was man bereits im letzten Jahr versäumt hat, und das macht es fast schon dramatisch. Denn wir wissen ja schon lange, wann die Ferien beginnen, wann die Ferien enden, und Sie sagen es völlig zurecht, mittlerweile sind große Teile der Urlauber in diversen Bundesländern wieder zurückgekommen. Es ist beispielsweise Berlin mitten drin in den Ferien; sie enden bald. Man kann ein Stück weit Bayern und Baden-Württemberg noch in Schutz nehmen; da beginnen die Ferien erst jetzt. In all den anderen Ländern liegt das Thema längst auf dem Tisch. Und was natürlich noch hinzu kommt: Es ist im Kern eine bundespolitisch einheitliche Frage, die längst hätte im Vorfeld geklärt werden müssen. Die Delta-Variante war im Angriff und insofern ist das ein Politikversagen, bei dem man eigentlich nur den Kopf schütteln kann.
"Auch der Wahlkampf hat vieles absorbiert"
Müller: Ist das Angst vor dem Freund?
von Lucke: Nein! Ich glaube in der Tat, es ist ein Verzögern. Es ist natürlich auch bedingt durch die Fokussierung auf andere Fragen – auch der Wahlkampf hat vieles absorbiert. Aber auch das macht es so spannend. Es verbindet sich natürlich aufs Engste jetzt mit dem Wahlkampf, ein Schweigen Armin Laschets, der ja gerade noch im letzten Interview am Wochenende sagte, wir haben keine Veranlassung, etwas zu ändern, der jetzt wieder nicht in der Lage ist, die Avantgarde darzustellen. Es wiederholt sich in gewisser Weise das Spiel des letzten Jahres. Markus Söder, der Treiber, der versuchte, in die Vorhand zu kommen, immer ein Stück weit auch mit der Devise "Söder first" in doppelter Hinsicht, ich bin der schnellste, aber ich gucke zunächst einmal auch auf mich.
Es findet auch wieder alles völlig unkoordiniert statt und das ist natürlich auch mit Blick auf den Wahlkampf, mit Blick auf die Frage, wie positionieren sich jetzt die entscheidenden Figuren, die ja nicht mehr die alten sind. Wir gucken jetzt ja nicht mehr primär auf das Agieren von Angela Merkel, sondern auf die Frage, was macht der Kandidat Laschet, der in Zukunft das Land regieren will. Das macht es noch zusätzlich dramatisch und es ist, meinem Eindruck nach, mit Blick auf die Flut völlig in Vergessenheit geraten, dass sie diese Coronakrise immer noch in massiver Form als große Gefahr im Raum haben.
"Armin Laschet ist hier ersichtlich wieder zu lahm"
Müller: Sie sagen, Markus Söder – unser Stichwort bei der nächsten Frage – will immer der erste sein. Kann es sein, dass der schnellste auch recht hat?
von Lucke: Er hat meines Erachtens recht, ohne Frage. Nur muss man sich auch da immer fragen, ist das ein kluges Agieren. Er ist ja ersichtlich auch hier wieder – und da wiederholt sich genau das Vorgehen des letzten Jahres -, er ist wieder hier willens, Armin Laschet voll an die Wand zu spielen. Das ist eine Steilvorlage von Laschet am Wochenende gewesen.
Man hätte sich übrigens normalerweise vorstellen müssen, dass natürlich vom Kanzlerkandidaten Laschet längst eine Absprache mit dem starken Mann aus Bayern hätte stattfinden müssen, ein koordiniertes Vorgehen. Söder hat daran ersichtlicher Weise kein Interesse. Er hat diese Lücke sofort gerochen. Er geht in die Vorhand. Er betont und bringt damit natürlich zur Kenntnis, was das Problem ist, nimmt interessanter Weise (auch da eine erstaunliche Duplizität der Ereignisse mit dem letzten Jahr) genau das auf, was der Kanzleramtsminister, Herr Braun, im Namen von Angela Merkel, denn das muss man ja unterstellen, auch aufgeworfen hat, nämlich die Frage, müssen wir strenger werden.
Armin Laschet ist hier ersichtlich wieder zu lahm. Er kommt nicht in einer klaren, entschiedenen Weise in die Vorhand und ruft natürlich damit genau das gleiche Bild des zögerlichen, des nicht handlungskräftigen, eher zaghaften Ministerpräsidenten, der nicht die Kompetenz und Potenz hat, stark zu agieren, wieder auf.
Müller: Sie sagen jetzt Kompetenz und Potenz. Sie sagen, das ist wieder passiert, das ist ihm mal wieder passiert. Das ist im vergangenen Jahr auch passiert. Jetzt erinnern wir uns auch daran, wieder und erneut zögert er, laviert er, entscheidet er nicht. Ist er ein schlechter Politiker?
von Lucke: Das ist sehr radikal formuliert. Aber es ist das Erstaunliche, wenn man es mal an den beiden großen Kategorien der Politikwissenschaft misst, die Machiavelli schon formuliert hat, die da lauten "Fortuna, du musst das Gespür für den Augenblick haben, du musst auch das Momentum haben und die Tatkraft haben, im richtigen Augenblick zu entscheiden", dann muss man dramatischerweise feststellen, dass Armin Laschet genau in diesen entscheidenden Fragen oftmals nicht den Blick für das hat. Übrigens – und das macht es vielleicht noch viel dramatischer – er hat auch nicht das Gespür, dass der Staat endlich präventiv handeln muss. Damit steht er keineswegs allein, aber er hat jetzt wieder das Problem, dass er die Nachhut darstellt, dass er nicht derjenige ist, der spätestens in dem Augenblick, da das Problem (wir haben es gerade benannt) viel zu spät aufgeworfen wird, dass er dann wenigstens Handlungsmächtigkeit demonstriert. Das ist eine latente Schwäche, die in seiner Person verkörpert wird, und ich glaube, das ruft all das noch mal auf, was in dem letzten Jahr an Problemen für ihn aufgeworfen wurde. Wenn er jetzt nicht in zügiger Weise dieses Problem abstellt, dann wird das für ihn sehr negativ zu Buche schlagen.
Müller: Ist er noch zögerlicher als Angela Merkel in vielen politischen Fragen?
von Lucke: Ja, das ist sehr deutlich gewesen. Denken wir auch ans letzte Jahr. Da war ja Armin Laschet immer wieder der zögerliche. Er hatte sich ja auch regelrecht festgefahren in diesem fatalen Wettstreit mit Markus Söder, der den ja auch genüsslich ausspielte. Das darf man nie vergessen. Söder ist kein Mann, der geneigt sein könnte, aus Gründen der Partei-Räson auf ein gutes Zusammenspiel mit Armin Laschet zu setzen. Aber auch all das nicht vorhergesehen zu haben, gerade übrigens auch nach der Flut-Frage, in der die Frage ja eine ähnliche ist – es geht um die grundsätzliche Frage, sowohl bei Corona wie bei der Flut und bei der Klimakatastrophe -, sind wir als Staat zukünftig auch präventiv in der Lage, mit Gefahren umzugehen.
Präventiv agieren - keine Stärke von Armin Laschet
Eine Coronakrise, eine neue vierte Welle frühzeitig zu erkennen und präventiv zu agieren, das wird eine der zentralen Herausforderungen der Zukunft sein, und an diesem Fall hat Armin Laschet wieder einmal gezeigt, dass das gerade nicht seine Stärke ist. Das war übrigens auch immer ein Stück weit die Schwäche von Angela Merkel. Auch ihr hat man ja zurecht manches Mal den Vorwurf gemacht, dass sie eher von hinten agiert. Aber Laschet bringt es in dem letzten Jahr noch einmal auf eine andere Spitze.
Müller: Das ist ein interessanter Punkt, den Sie hier mehrfach nennen, Herr von Lucke. Präventiv gehen, den Dingen ein bisschen voraus sein. Sie nehmen das Beispiel von Armin Laschet, Kanzlerkandidat der Union. Angela Merkel hat 16 Jahre die Kanzlerschaft inne gehabt, weil sie nie präventiv war, weil sie wenig Leute verärgert hat und weil die Deutschen nicht präventive Politik immer wieder neu goutieren?
von Lucke: Absolut! Das ist die eigentliche Ironie. Das Erfolgsrezept von Angela Merkel, das übrigens in mancherlei Hinsicht – sie hat es übrigens gerade selber eingestanden – durchaus auch zum Schaden war; sie hat eingestanden, dass sie gerade in klimapolitischer Hinsicht nicht präventiv genug und nicht entschieden frühzeitig genug gehandelt hat. Das war in der Tat das Erfolgsrezept. Das keine Experimente, dieses an dem Leitmotiv festhaltenden Bevölkerung, was ihr immer wieder ihr Wahlsieg nach Wahlsieg garantierte. Die alte Maxime von Adenauer über Kohl bis Merkel, keine Experimente, war auch ihr Erfolgsrezept. Wir erleben aber genau in diesem Jahr, in diesem historischen Jahr, dass dieses Erfolgsrezept ins Gegenteil umschlägt.
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Mehr Experimente wagen
Keine Experimente ist offensichtlich gerade im Falle der Bekämpfung der Coronakrise nicht das Erfolgsrezept. Wenn wir jetzt nicht experimentell, nennen wir es mal positiv experimentell in die Vorhand kommen, präventiv agieren, dann werden wir nicht nur mit der Coronakrise, sondern auch mit der Klimakrise nicht politisch fertig werden. Das müsste Armin Laschet signalisieren. Das müssen übrigens auch die anderen Kandidaten, Olaf Scholz und Annalena Baerbock, genauso stark aufnehmen. Die Grünen haben an dem Punkt zumindest den Vorteil, dass sie das in puncto Klima immer als einen Teil ihres Programms begriffen haben.
Müller: Jetzt ist es offenbar so, dass die Grünen – das sagen die Umfragen im Moment – wegen Annalena Baerbock ein Problem haben. Wer profitiert jetzt von dieser Situation, der SPD-Kanzlerkandidat?
von Lucke: Ja, und das ist die vielleicht größte Ironie der Geschichte der gegenwärtigen Situation. Die normale Situation wäre ja die, dass das Momentum dieser Zeit, einer Kumulation der Krisen, sowohl der Flutkrise, die ersichtlich auch mit der Klimakrise einhergeht, aber auch der Coronakrise, das müsste ein ungemeiner Antriebsstoff für die Grünen sein. Es müsste die Grünen in neue Höhen katapultieren. Aber Annalena Baerbock, ihr Versagen in puncto Lebenslauf und ihres Buches, des zum Teil abgeschriebenen, ist mittlerweile zu einer echten Hypothek der Partei geworden. Ihr wird offensichtlich die Kanzlertauglichkeit nicht mehr von erheblichen Teilen der Bevölkerung zugeschrieben. Deswegen ist sie etwas, was die Politik der Grünen eher beschwert und die Partei schwächt.
Laschet: Mittlerweile "eine echte Hypothek für seine Partei"
Das gleiche gilt für Armin Laschet, der mittlerweile eine echte Hypothek für seine Partei geworden ist. Es ist doch ganz ersichtlich, dass mit einer Kandidatur, einer erneuten Kandidatur von Angela Merkel, oder mit einer Kandidatur von Markus Söder die CDU/CSU ersichtlich besser dastünde, und genau das Gegenteil erleben wir bei der SPD. Hier haben wir es ersichtlich mit einem, in erheblichen Teilen der Bevölkerung angesehenen Spitzenkandidaten zu tun, der aber das große Problem hat, dass seine Werte nicht auf die SPD abstrahlen, die weiterhin im Keller steckt. Das ist die Paradoxie bei einem, wie ich nach wie vor meine, Kandidatenpersonal von drei nicht übermäßig starken Kandidaten, um es nur schwach auszudrücken, denn auch Olaf Scholz ist ja plötzlich keine charismatische Figur geworden. Er sticht aber mittlerweile schon heraus, weil er die Ernsthaftigkeit des Staatsmannes verkörpert und viele Teile der Bevölkerung offensichtlich noch am ehesten bei ihm so etwas wie Sicherheit und Stabilität vermuten.
//Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Intervi