Als ich ungefähr 15 Jahre alt war, bescherte mir Max Goldt mein bis dahin peinlichstes Buchkauferlebnis: Ich musste der netten Buchhändlerin, bei der ich sonst immer meine Fantasy-Romane bestellte, den folgenden Titel nennen: "Mein äußerst schwer erziehbarer schwuler Schwager aus der Schweiz". "Schwul" war damals, in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre, noch keineswegs ein salonfähiger Ausdruck, und so fragte die nette Buchhändlerin denn auch nach, ob sie richtig gehört hatte. Sie hatte, und ich bin inzwischen überzeugt, dass der strenge Blick dieser Dame und die heutige Vormachtstellung des Online-Buchhandels in einem kausalen Verhältnis stehen.
Jedenfalls hielt ich rund sechs Wochen später endlich den schmalen Band mit Texten und Zeichnungen von Max Goldt in Händen und las begeistert darin herum. Zehn Jahre später schmuggelte ich eine der Formulierungen des Buches sogar in meinen ersten Roman: "Hitlertitten lassen bitten." So lautet natürlich nicht der Titel des Romans, sondern besagte Formulierung.
An dieser Stelle, geschätzte Hörerinnen und Hörer, fragen Sie sich vielleicht: Was wird das hier eigentlich? Schreibt man so jetzt neuerdings Rezensionen? Und ich muss Ihnen recht geben: Bis hierhin ist das keine Rezension, sondern ein Pasticcio, ein Begriff, der ein breites Spektrum zwischen liebevoller Nachahmung und schlechter Kopie abbildet. Entscheiden Sie selbst, nachdem Sie zum Vergleich das Original gehört haben:
"Vor etwa zehn Jahren konnte man, sofern man sich im zentralen Bereich von Berlin-Charlottenburg aufhielt, einem der letzten, inzwischen aber auch austrocknenden Refugien für auffällige alte Menschen, die optische Bekanntschaft von zwei miteinander konkurrierenden Affenbesitzerinnen machen. Zumindest standen sie in Konkurrenz, was die Aufmerksamkeit der Passanten anbetraf; ob sie einander kannten oder auch nur wahrnahmen, ist keineswegs sicher. Beide waren sehr alt und so umfeldprägend wie kleine wendige Kathedralen." (Aus: "Preisung der grotesken Dame")
Der Dandy der Herzen
Seit mehr als 30 Jahren bereichert Max Goldt nun schon die Gegenwart mit seinen Texten und ist dabei nicht weniger umfeldprägend als die besagten Damen. Einem größeren Publikum wurde er in den 90er-Jahren als Kolumnist der Satire-Zeitung "Titanic" bekannt. Mit jedem Monat wuchs die Zahl seiner Fans, die im neuen Heft jeweils gleich zu der Seite mit seiner Kolumne vorblätterten. Dabei spielte es kaum eine Rolle, worüber Goldt jeweils schrieb, das Wie war entscheidend und zu jener Zeit einzigartig. Man ist es heute gewohnt, selbst in Überschriften der FAZ Ironie und Wortspiele zu erwarten, doch damals war das noch anders. Was die sprachliche Eleganz angeht, so knüpfte Max Goldt in seinen Kolumnen an die Blütezeit dieser Textform während der Weimarer Republik an, freilich ohne die politische Schärfe seiner Vorläufer zu übernehmen. Denn dafür bestand in den Anfangsjahren des wiedervereinigten Deutschlands wenig Anlass. Seine Alltagsbetrachtungen und Miniaturen sind vielmehr von einer Ironie geprägt, die den Dingen durchaus zugewandt bleibt; seine Exzentrik wird niemals herablassend, denn er weiß, dass er die Folie des Gewöhnlichen braucht, um sich davor umso besser in Szene setzen zu können. Anders gesagt: Max Goldt ist der Dandy der Herzen.
"Würden Sie mir zum Abschied wenigstens einen einzigen dummen Aphorismus von Oscar Wilde verraten?
Soll geschehen. Ich fand neulich einen in einem Abreißkalender, der ein Werbegeschenk meiner Apotheke war, und zwar auf dem Kalenderblatt vom Volkstrauertag — sonst hätte ich mir das gar nicht gemerkt. Also, da stand 'Volkstrauertag', und darunter: 'Das Dandytum ist der nachhaltige Beweis für die absolute Modernität der Schönheit.'" (Aus: "Metrosexualität, Transparenz...")
Ein recht genaues Bild der Übergangszeit
Man hat Max Goldt einen Meister der Abschweifung genannt. Und ja, auf der kurzen Strecke ist das ein wichtiges Stilmittel seiner Texte. Doch in dieser bislang umfangreichsten, 500 Seiten starken Sammlung seines Schaffens zeigt sich, dass auf Dauer auch die verschlungensten Umwege ein Muster ergeben. Zukünftige Historiker könnten aus diesen Texten ein recht genaues Bild der Übergangszeit zwischen alter BRD-Gemütlichkeit und dem neuen Deutschland zeichnen, dessen Gegenwart wir gerade erleben. Dass sich seit den 90er-Jahren sehr viel verändert hat, ist unstrittig. Doch wie die Veränderungen im Detail zustande kommen, das ist den Zeitgenossen meist nicht bewusst. In der Gesamtschau dieser Texte lassen sich solche mikroskopischen Verschiebungen ablesen. Wenn Max Goldt das Kompositum "Rohlingsspindel" zum schönsten Wort der deutschen Sprache erklärt, werden die technischen Umwälzungen des letzten Jahrzehnts auf sehr anschauliche Weise fassbar. Auch wie die Digitalisierung zunehmend das politische und gesellschaftliche Klima verändert, das hält der Autor auf für ihn charakteristische Art fest.
"Wie gern wäre ich heute ein Kind. Die Querulanten würden mir keine Spazierstöcke mehr in den Rücken bohren, sie würden mich nicht mehr angreinen und dummdreist belehren. Für diese Zwecke haben sie ja jetzt ihr allseits beliebtes Internet, und da können sie allabendlich die Wörter "Gender-Fotzen, Verarsche, Riesenlüge, Schülerzeitung, Armes Deutschland" in den Computer brüllen und würden mich, das Kind, unbehelligt in eine Zukunft voller Sonne, Liebe und Zuversicht schreiten lassen. Zu spät allerdings." (Aus: "Ein Querulant hört was knarren, neue Version")
Einen kleinen Wermutstropfen muss ich schließlich doch noch in die Suppe spucken, oder wie sagt man? Die Gliederung der neuen Goldt-Kollektion in verschiedene Abteilungen nämlich ist nicht nur überflüssig, sondern auch kontraproduktiv. Wenn unter der Überschrift "Einige Sprachkritiken" mehrere Texte zu diesem Thema versammelt werden, bekommen diese plötzlich eine Schwere, die ihnen nicht gut steht. Sicher, Goldt ist ein großer Stilist und als solcher einem gewissen Wertekonservatismus verpflichtet. Doch während beispielsweise bei Martin Mosebach, der nur gerne ein großer Stilist wäre, ein heiliger Ernst waltet, ist bei Max Goldt auch noch der Ernst immer in eine sehr spezifische Albernheit eingebettet. Dieser delikate Drahtseilakt wird durch die rüde Rubrizierung in Themenblöcke ein wenig seines Glanzes beraubt. Aber keine Sorge: Die neue Textsammlung "Lippen abwischen und lächeln" glänzt auch so noch genug.
Max Goldt: "Lippen abwischen und lächeln – Die prachtvollsten Texte 2003 bis 2014 (und einige aus den 90ern)", Rowohlt Verlag, 512 Seiten, 24.95 Euro