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Texttreu oder lesbar?

Welcher Moby Dick? Vor drei Jahren hat der Hanser-Verlag eine viel gelobte Neuausgabe des berühmten Romans von Herman Melville vorgelegt: die sechste deutsche Version dieses phantastischen Bastards aus Abenteuerroman, neubarocker Allegorie und "Great American Novel". Ein zehn Jahre währender, quälender Editionskrimi fand mit der deutschen Fassung durch Matthias Jendis ein Ende. Ursprünglich hatte man im Jahr 1991 einen anderen Übersetzer beauftragt: Friedhelm Rathjen, bekannt durch seine sperrigen Neuübersetzungen von Mark Twain, Robert S. Stevenson oder James Joyce. Die Übersetzung war fertig, da warf nach endlosen Verzögerungen und Neuverhandlungen das erste Herausgebertrio das Handtuch. Friedhelm Rathjen erinnert sich:

Von Dorothea Dieckmann |
    Das Problem der Geschichte war an einer bestimmten Stelle dann, dass ein Herausgeber für diese Ausgabe gefunden wurde, der nicht wirklich konform ging mit meiner Übersetzung ... Daraufhin wurde dann beschlossen, dass meine Übersetzung überarbeitet werden sollte, was ja nichts Schlimmes ist ...

    Doch der neue Herausgeber, der Kasseler Amerikanist Daniel Göske, und der mit der Überarbeitung beauftragte Matthias Jendis konnten sich mit dem Übersetzer nicht auf eine für beide Seiten gültige Version verständigen.

    Es gab ein Zusammentreffen der Herren Göske und Jendis mit mir, wo wir auf der Grundlage vorher ausgetauschter Argumente uns auf eine Kompromisslinie geeinigt haben; dummerweise erkannte ich diese Kompromisslinie in der Fassung, die mir am Ende vorgelegt wurde, überhaupt nicht wieder. Und es war damit auch keine Fassung, der ich meinen Namen geben konnte.

    Als im Herbst 2001 die Übersetzung von Matthias Jendis erschien, präsentierte gleichzeitig Norbert Wehr, einer der früheren Betreuer der Hanserschen Melville-Ausgabe, in seiner Zeitschrift "Schreibheft" Teile der ursprünglichen Übersetzung und einen Aufsatz, in dem Rathjen seine Grundsätze darlegte. In der Kontroverse, die sich daraufhin entzündete, wurde Rathjen einerseits für seine Erfindungskraft gelobt, andererseits für sein sklavisches Kleben am Original getadelt.

    Ja, man hat mir ja sogar vorgeworfen, es war wohl als Vorwurf gemeint, ich sei der sturste Übersetzer Deutschlands; ich nehm’ das aber ruhig als Kompliment auf. Ich bin an diese Übersetzung rangegangen und war stur in dem Sinne, alles aus dem Text herauszuholen, was mir möglich war. Dazu ist aber etwas anderes erforderlich als Sturheit, nämlich eine gewaltige Flexibilität, Flexibilität wohlgemerkt nicht im Umgang mit dem Originaltext, Flexibilität im Umgang mit der deutschen Sprache. Ich tu der deutschen Sprache dann auch schon mal weh, das ist klar. Aber das hat Melville mit seiner englischen Sprache (ja wohl) auch gemacht.

    "Niemand wird es wagen können und wollen, über kurz oder lang mit einem weiteren Übersetzungsversuch auf den Markt zu kommen", bedauerte damals die Basler Zeitung. Diese Voraussage wird nun Lügen gestraft: Der Zweitausendeins Verlag hat mit Norbert Wehr als Herausgeber die siebte Übersetzung vorgelegt - in einem stolzen, mit Rockwell Kents Illustrationen von 1931 versehenen, drei Kilo schweren Prachtband.

    Da ist sie nun, die deutsche Fassung dieses von Melville als "Entwurf eines Entwurfs" bezeichneten, zugleich archaischen und modernen Werks, eine Fassung, die in jeder Zeile die Brüche und Eigentümlichkeiten von Stil, Syntax, Lexik, Interpunktion und, nicht zuletzt, Klang nachzubilden sucht. So tönt nun der fürchterliche Kapitän Ahab in Rathjens Text und Stimme:

    Aye, aye! und ich wird ihn ums Gute Hoffnung jagen und ums Hoorn und um den norwegischen Mahlstrom und um die Flammen der Verdammnis, eh ich ihn fahren lasse. Und das ist’s, wofür ihr angemustert habt, Männer! jenen weißen Wal zu jagen auf beiden Seiten vom Land und über alle Seiten der Erde, bis dass er schwarzes Blut spritzt und die Finne von sich streckt. Was sagt ihr, Männer, wollt ihr die Hände dreinschlagen, was? Ich denk, ihr schaut tapfer aus.

    "Ich denk, ihr schaut tapfer aus", das ist die direkte Nachbildung des englischen "I think ye do look brave", das in der Jendis-Übersetzung mit abgeschwächter, hochsprachlicher Eleganz lautet: "Ihr scheint mir Mut zu haben." Unzählig sind die Beispiele solcher Zähmung des widerständigen Originaltextes in der mittlerweile etablierten Hanser-Übersetzung, deren Textnähe die der Vorgänger zwar weit übertrifft, dennoch aber deutlich den Kriterien der so genannten leichten Lesbarkeit folgt. Für Rathjen bedeutet dies eine unzulässige Glättung der Textoberfläche:

    Der Ahab spricht in vielen Kapiteln, wie man sich so einen Seebären vorstellt, sehr rauhbauzig und kurz und knapp, und plötzlich im nächsten Moment setzt er zu grandiosen shakespeareartigen Monologen an. Dann wieder kommt seine Quäker-Herkunft zum Tragen, und er spricht in altertümlichen Wendungen voller "thee" und "thou", wie es im Original dann heißt. Das passt eigentlich alles nicht zusammen. Aber es gehört zusammen in diesem Buch, und muss deswegen in dieser Vielfalt natürlich in der Übersetzung berücksichtigt werden.

    So ein Bruch in der Figurenrede geschieht in der zitierten Szene, in der Ahab seine Männer auf die Jagd einschwört. Als Ahab die Skepsis seines Steuermanns Starbuck bemerkt, wechselt die kurz angebundene Kraftsprache in eben dies salbungsvolle Quäker-Englisch, in dem es nicht "you", sondern "thou" heißt und die altertümliche Anredeform "wilt" statt "will" und "art" statt "are" verwendet wird:

    But what’s this long face about, Mr. Starbuck; wilt thou not chase the white wale? art not game for Moby Dick?

    Von diesem harten Wechsel ist bei Jendis nichts zu bemerken. "Doch was soll das lange Gesicht, Mr. Starbuck?", heißt es da. "Willst du den weißen Wal nicht jagen? Fehlt’s dir an Mut für Moby Dick?" Rathjen dagegen:

    Aber was ziehest du für ein langes Gesicht, Mr. Starbuck; wollest den weißen Wal nicht jagen? keinen Mumm für Moby Dick?

    Die Maxime, die Zielsprache der Quellsprache weitestgehend anzuverwandeln, gilt in der heutigen deutschsprachigen Übersetzungspraxis als radikal. Wenn die Ideale weniger prinzipienfester Übersetzer Behutsamkeit und Ausgewogenheit sind, so lautet Rathjens Leitbegriff: "getreu." Im alten Streit zwischen Integrieren und Distanzieren, Einbürgerung oder Verfremdung entscheidet sich Rathjen im Zweifelsfall immer dafür, die Strukturen des Originals sicht- und hörbar zu erhalten, ja die Eigentümlichkeiten kräftig zu unterstreichen. Daher die Poesie seines Moby Dick, die Manierismen und experimentellen Extreme von Rathjens Deutsch. Nach einhelliger Meinung ist aber gerade dies eine Eigenschaft des Melvilleschen Englisch.

    Der Melville packt alles, was ihm irgendwie in den Kopf kam, in dieses Buch hinein, sortiert das immer wieder neu, aber die besten Sortiermechanismen können dieses Buch nicht davor bewahren, dass es ein sehr schönes Chaos ergibt, in dem man schwelgen kann oder muss, wenn man was davon haben will ... Wenn man so einen Roman abliefert, wird einem das normalerweise jeder Lektor um die Ohren hauen.

    Dies Schicksal würde der Hanser-Übersetzung niemals widerfahren; darin kommt sie dem Leser entgegen, und darin liegt ihre Problematik. Nach der Lektüre der ersten Auszüge von Rathjens ungehobelter Eindeutschung sprach der große Anglist Dieter E. Zimmer, Herausgeber einer neuen Nabokov-Übersetzung, sein Machtwort. Rathjen, so schrieb er,

    ... unternimmt es, das Befremdende an der Sprache des Moby-Dick in ein ebenso befremdendes, verkorkstes Deutsch zu überführen. Tatsächlich ist vieles im englischen Moby-Dick gewollt und ungewollt befremdlich. Aber so radikal befremdlich, wie Rathjen meint und wie sich seine Übersetzung nun liest, ist Melville keineswegs. Der unübersehbare Hauptunterschied zwischen beiden Fassungen besteht jedoch darin, dass die von Jendis in der Tat gut lesbar ist, die von Rathjen nur mit etlicher Mühe.

    Vor kurzem hat derselbe Dieter E. Zimmer einen Aufsatz von Vladimir Nabokov übersetzt, in dem sich der große englisch schreibende Russe zu eben diesem Problem äußert:

    Lesbar, dass ich nicht lache! Der Schnitzer eines Schuljungen ist ein geringerer Hohn auf das alte Meisterwerk als dessen kommerzielle Umdeutung oder Poetisierung. ... Sobald es der Übersetzer darauf angelegt hat, den "Geist" – und nicht den Wortsinn – wiederzugeben, beginnt sein Verrat an diesem Autor. Die unbeholfenste wörtliche Übersetzung ist tausendmal nützlicher als die hübscheste Paraphrase.

    Und wer immer noch den Verdacht hegt, die neue Moby-Dick-Übersetzung des Zweitausendeins Verlages sei hässlich und holprig, der tauche in den herrlich schmierigen, glitschigen Klang, den das Walfett bei Melville und Rathjen annimmt, wenn es die Matrosen vom klumpigen Zustand in eine balsamische Flüssigkeit zerdrücken.

    Squeeze! squeeze! squeeze! all the morning long; I squeezed that sperm till I myself almost melted into it; I squeezed that sperm till a strange sort of insanity came over me ...

    Drücken! Drücken! Drücken! den ganzen Morgen lang; ich drückte jenen Walrat, bis ich selbst beinah darein verschmolz; ich drückte jenen Walrat, bis eine seltsame Art von Irrsinn mich überkam ... Lasst uns uns selbst allumfassend in die Milch und den wahren Walrat der Menschliebe zerdrücken.