Silvia Engels: Die Entwicklung, die Thailand nehmen wird, ist unklarer denn je. Nach einer Phase der Gewalt zwischen Regierungsgegnern und dem Militär setzten die Behörden gestern Zeichen der Entspannung. Sie ließen die Demonstranten bis zum Amtssitz der Ministerpräsidentin ziehen. Doch inhaltlich gibt es keine Annäherung. Yingluck Shinawatra will Dialog und ihr Amt behalten, die Gegner fordern ihren Rücktritt.
Mittlerweile hat sich ein neuer Protestzug in Bangkoks Innenstadt in Gang gesetzt, melden Agenturen. Derzeit sei aber alles friedlich. – Am Telefon ist nun Marc Saxer, er leitet das Büro der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Bangkok. Guten Tag, Herr Saxer.
Marc Saxer: Schönen guten Morgen!
Engels: Wie erleben Sie die Situation derzeit in Thailand, in der Region, die Sie überblicken können?
Saxer: Sie haben es ja gerade schon erwähnt. Es scheint so zu sein, dass sich der Mob wieder in Bewegung gesetzt hat. Es ist wiederum versucht worden, das Hauptquartier der Polizei zu stürmen, und die Polizei hat genauso reagiert wie gestern. Sie hat, nachdem das abgeriegelt war – die Protestanten hatten gestern die Gelände wieder verlassen, heute war das wieder abgeriegelt -, man hat die Demonstranten offensichtlich gerade vor zwei, drei Minuten, habe ich gerade auf Twitter gesehen, wieder reingelassen.
Das heißt, diese Taktik dieser asymmetrischen Nichtkonfrontation wird weitergefahren, die eigentlich sehr geschickt ist, weil man den Demonstranten damit eine Art symbolischen Sieg gibt, eigentlich nur ein leeres Gebäude übergibt, aber de facto sich moralisch überlegen geben kann, indem man Blutvergießen und Gewalt vermeidet.
Taktik der "asymmetrischen Nichtkonfrontation" sehr geschickt
Engels: Polizei und Militär halten sich offenbar wieder zurück. Sie haben es beschrieben. Wie interpretieren Sie das? Ist das noch die Regierung, die wirklich dahinter steht, oder führen hier auch Polizei und Militär in ihrer Strategie ein Eigenleben?
Saxer: Das Militär führt mit Sicherheit ein Eigenleben. Das Militär war immer eine sehr starke Macht im Hintergrund der thailändischen Politik. Über weite Strecken der thailändischen jüngeren Geschichte war das hier eine richtige Militärdiktatur. Das Militär hat weiterhin großen Einfluss. Es ist im Moment sehr schwierig einzuschätzen, wie sich die Lage tatsächlich ausspielen wird. Es gibt im Grunde zwei Denkschulen.
Die ersten würden sagen, dass es für das Militär zu riskant ist einzugreifen. Das Militär ist in sich zerstritten. Es gibt viele Kommandeure, die aufseiten der sogenannten roten Regierung stehen würden. Die Rothemden, die Unterstützer der Regierung aus dem Norden und Osten des Landes, haben mobilisiert. Das heißt, ein Eingreifen würde eventuell zu einem Bürgerkrieg führen, also hoch riskant für das Militär, das ja 2006 in einem Putsch schon mal die Regierung von Thaksin Shinawatra gestürzt hatte und darauf fünf Jahre lang politische Unruhen provoziert hat. Das möchte man eigentlich vermeiden. Diese Denkschule würde sagen, das Militär greift wahrscheinlich nicht ein.
Es gibt eine andere Denkschule, die das Ganze, was hier passiert, eigentlich als Putsch interpretiert. Wenn die Militärs irgendetwas gelernt haben aus den letzten Jahren, ist es dies, dass die internationale Gemeinschaft, vor allen Dingen aber auch viele Thais selber einen offenen Putsch, Panzer auf den Straßen, nicht mehr akzeptiert. Das heißt, man könnte es so interpretieren, dass dieser ganze Regierungsprotest letztendlich so eine Art ziviles Feigenblatt ist, hinter dem die eigentlichen Eliten tatsächlich die Regierung aus dem Amt drängen wollen.
Engels: Könnte man, wenn man diese zweite Denkschule einmal weiter spinnt, dann die Zurückhaltung von Militär und Polizei auch so interpretieren, dass Ministerpräsidentin Yingluck Shinawatra geschwächt ist?
Thailands Regierung unter Druck: Massendemokratie entsteht
Saxer: Geschwächt ist sie allemal. Das ist ja klar. Die Regierung steht unter enormem Druck. Wenn wir mal als Denkhypothese annehmen, dass es sich hier um einen Putsch handelt, dann ist die Frage, gewinnt dieser Putsch, setzen sich die Fraktionen innerhalb des deep states, also der Eliten aus Palast, aus Bürokratie, die alten Feudaleliten und Militärs, durch. Die Chancen sind interessanterweise so zu beurteilen wie der ganze Konflikt. Was hier passiert seit vielen Jahren, ist ja eine Transformation. Das heißt, das alte, aristokratische, feudale, technokratische System bricht langsam aber sicher zusammen, und es entsteht eine Massendemokratie.
Und dieses nebeneinander her von Werten und Ordnungsvorstellungen ist eigentlich die eigentliche Krise. Das heißt, was hier verhandelt wird, einmal jenseits der aktuellen Ereignisse, ist, ob sich die Minderheit, die natürlich über die ökonomische, ideologische und auch Zwangsgewalt verfügt, sicher fühlt in dieser neuen Gesellschaft, und daran hat ja letztendlich die Regierung gerüttelt, indem sie das Verfassungsgerichtsurteil nicht anerkannt hat, indem sie den Senat, der bis jetzt die Eliten repräsentiert, demokratisch wählen lassen wollte. Das heißt, sie hat so ein bisschen die Checks and Balances aushebeln wollen, und dagegen gehen die Eliten gerade vor.
Engels: Und welche weiteren Entwicklungen erwarten Sie jetzt?
Saxer: Hinter den Kulissen wird weiter verhandelt, sozusagen nonstop. Wir haben ja im Moment eigentlich eine Art von Waffenstillstand. Morgen hat der König Geburtstag, heute Abend wird er traditionellerweise eine Ansprache ans Volk halten. Die Frage ist, auf welche Seite schlägt sich wer. Das wird hier genauestens beobachtet. Da gibt es bestimmte Signale. Wir haben vier Tote und 285 Verletzte gehabt über die letzten Tage. Einige dieser Verletzten wurden im Krankenhaus von Abgesandten des Palastes besucht. Das sind immer Zeichen, die hier gesetzt werden, die interpretiert werden. Es wird sozusagen hinter den Kulissen nonstop verhandelt. Ich denke, das Ergebnis ist keinesfalls klar.
Engels: Keinesfalls klar. Also würde eigentlich noch eine Option darin bestehen, dass Ministerpräsidentin Shinawatra ihre Unterstützer zu offeneren Unterstützungen auffordert, heißt die Rothemden, oder, wie Sie skizziert haben, führt das zwangsläufig dann in den Bürgerkrieg?
Protestierende wollen parlamentarisch-demokratisches System abschaffen
Saxer: Zwangsläufig führt das nicht in einen Bürgerkrieg. Die Regierung hat ja mehrfach angeboten, zurückzutreten und das Parlament aufzulösen. Das wäre ja sozusagen in einer normalen funktionierenden Demokratie der Ausweg jetzt. Allerdings haben sich die Protestführer darauf versteift, dass das nicht genug wäre. Manchmal sind natürlich dann auch einfach Zitate ganz interessant, die sagen, was soll das, wir verlieren die Wahl ja sowieso, die haben ja die Mehrheit, und wir akzeptieren einfach das Mehrheitssystem und die parlamentarische Demokratie nicht, also müssen die erst mal weg.
Das heißt, was die Protestierenden wollen, ist ja, das gesamte parlamentarische demokratische System abzuschaffen. Darum wird gerade gerungen: reicht sozusagen nur der Rücktritt, der angeboten wurde, oder setzt man jetzt eine Stadthalter-Regierung ein, die die Verfassung ändert, um wiederum es noch schwieriger zu machen für die Bevölkerungsmehrheit, eine Regierung zu wählen.
Dasselbe Spiel hat man 2006/2007 schon mal gemacht, hat alles nichts genutzt, es sind dreimal wieder die roten Regierungen gewählt worden. Ich denke, das ist ein weiterer Versuch, das hier zu tun. Das wird von Akademikern als Flankenschutz auch gefordert. Das wäre sozusagen der Spielplan der Konservativen. Ob sie damit durchkommen, zeigt dann, wie weit sich Thailand tatsächlich schon verändert hat in den letzten Jahren.
Engels: Marc Saxer war das mit Einschätzungen zur Entwicklung in Thailand. Vielen Dank für die Analyse. Marc Saxer leitet das Büro der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Bangkok. Auf Wiederhören dahin.
Saxer: Auf Wiederhören!
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