Irgendwann …
"Es war überfällig, heute Abend werden wir reden."
… sagt einer aus der Familie den magischen Satz:
"Heute kommt alles auf den Tisch."
Ein banaler Satz, den einer der beiden Brüder in "The Dinner" von sich gibt. Aber einer mit heftigen Folgen. Denn dass "es" "auf den Tisch kommt", bedeutet, dass "es" vorher in den Kellergewölben lange Regie führte. Und gemäß psychodynamischer Logik fliegt das, was auf dem Tisch sichtbar wird zwischen Vorspeise, Hauptgang und Dessert, es fliegt allen um die Ohren.
Das gemeinsame Essen und düstere Familiengeheimnisse
Das gemeinsame Mahl - Es ist wohl angerichtet, aber vorher ist eben auch sehr viel angerichtet worden. Bei Thomas Vinterberg in "Das Fest" ist der erste Gang gerade aufgetragen an Hotelier Helges 60. Geburtstag, gefeiert auf dem Familienanwesen am riesigen Tisch. Die einen löffeln noch die Suppe, da hält Sohn Christian seine "Wahrheitsrede":
"Er missbrauchte uns. Er hatte Sex mit seinen lieben Kinderchen."
Über Jahre vergewaltigte der Jubilar seine nun erwachsenen Kinder. Die Bombe also ist geplatzt und das Fest geht an der Tafel unter im Chaos. Eine Menge Tretminen liegen auch bereit am Esstisch der Westons, bei denen Regisseur John Wells in seinem Film "Im August in Osage County" sozusagen die Vivisektion am lebendigen Familienkörper vornimmt.
"Mom, wir wollen essen. Reichst du mir den Auflauf bitte. - Meinen Auflauf."
Der Auflauf knallt gleich am Anfang zu Boden.
"Verdammt noch mal!"
Böses Zeichen! Ach, zu viel Wein, zu viele Tabletten und zu viele modernde Familiengeheimnisse. Eine Tochter liebt ihren Cousin, aber beide wissen nicht, dass sie eigentlich Bruder und Schwester sind. Viel liegt mit anderen Worten bereit zur emotionalen Entladung. Entsprechend hier das Psycho-Massaker beim Beerdigungsdinner:
"Iss jetzt, du scheiß Kuh! - Fahr zur Hölle. - Iss den verdammten Fisch. - Mom, ich habe dir was zu sagen. - Hast du nicht. Nein, hast du nicht. Halt's Maul. - Ich habe keinen Hunger!"
Am Ende ist die Mutter - Meryl Streep -, zerfressen vom Krebs und ihrem Hass, alleine. Die drei Töchter werden nie an den Tisch zurückkehren.
Der Tisch als Zerrbild der Familie
Wie stabil ist eigentlich der Esstisch, der über Jahre auch Lügen und Geheimnisse tragen musste? Der Tisch als Zerrbild der Familie, die Spiegel der Gesellschaft. Als Wilhelm in Matti Geschonnecks Film "In Zeiten des abnehmenden Lichts" 90 wird …
"Du kannst mir gleich helfen, wir bauen den Tisch auf."
… muss der riesige Esstisch mit der komplizierten Mechanik wieder raus aus der Ecke.
"Ich fass mit an!"
Doch als der Urenkel auf das wacklige Möbelstück klettert: Tischzusammenbruch.
"Das habe ich kommen sehen!"
Der reale Sozialismus, kurz vor seinem Ende 1989, ist so mürbe, dass die Zukunft in Gestalt des Urenkels den Tisch zusammenkrachen lässt wie ein Kartenhaus.
"Madame, es ist serviert."
Das Wunderbare beim Ritual des Essens …
"Darf ich die Herrschaften jetzt zu Tisch bitten?"
… das auf der Leinwand zelebriert wird: Bei Louis Buñuel in "Der diskrete Charme der Bourgeoisie", bei Quentin Tarantino in "Django Unchained" oder in Coppolas "Pate[n]" oder, oder: Es geht um die Höllenschlunde, die am Tisch aufreißen:
"Es sind eine Menge Lügen heute Abend hier an diesem Tisch verbreitet worden."
"The Dinner": Genug Platz, alles unter den Tisch zu kehren
Und verdaut hat diese Lügen, Geheimnisse und falschen Wahrheiten keiner. Das, was "auf den Tisch" kam, wird nicht selten wieder "unter" selbigen "gekehrt". Beim Essen im Edelrestaurant, jetzt in Oren Movermans böser Gesellschaftsdiagnose "The Dinner", quälen sich die beiden betuchten Brüder und ihre Ehefrauen herum mit der Frage, wie sie damit umgehen sollen, dass ihre verwöhnten Söhne aus Lust und Sadismus eine Obdachlose angezündet und ermordet haben.
"Ich kann mir nicht vorstellen, mit dem Gedanken zu leben, dass - dass mein Sohn an einem Mord beteiligt war", sagt der eine Bruder.
Doch der andere in "The Dinner" wiegelt ab, nachdem er sich kurz angemessen moralisch gewunden hat:
"Solange nichts passiert, wird nichts passieren."
Irgendwie hat er ja doch Recht, meint dann die Familie. Unter den Esstischen im Film ist viel Platz.