Archiv

The Divine Comedy
Büroklammerpoesie und Alltagshymnen

Neil Hannon war sich nie zu schade, seine Klugheit und Belesenheit auszustellen. Mit seiner Band The Divine Comedy veröffentlichte er in 25 Jahren verlässlich humorvolle Albenkonzepte oder Konzeptalben: Über die Liebe und das Leben oder zuletzt mit "Office Politics" über sich wandelnde Berufswelten. Und das durchaus ernstgemeint.

Von Fabian Elsäßer und Marcel Anders |
    Ein Mann mit Bart trägt ein Sakko und hat die Hände an die Schläfen gelegt
    " Mache ich mir große Sorgen, was die Zukunft bringt": der britische Musiker Neil Hannon (Ben Meadows)
    Neil Hannon: "Das Hauptproblem ist, dass wir uns als Menschen immer mehr zurückziehen – und uns in kleine technische Scheinwelten flüchten. Das ist furchteinflößend."
    Musik: "You’ll never work in this town again"
    Hannon: "Ich versuche nicht, die Welt zu retten. Ich rede einfach über Sachen, die mich interessieren – und die mir Sorgen machen."
    Musik: "You’ll never work in this town again"
    Hannon: "Ich hatte nie einen richtigen Job – um meine Mutter zu zitieren. Ich denke, sie wartet immer noch darauf, dass ich den ganzen Quatsch zur Seite schiebe und etwas Vernünftiges mache."
    Musik: "You’ll never work in this town again"
    "Einige Songs auf dem neuen Album drehen sich explizit um die Arbeitswelt – andere aber auch nicht. Ich habe versucht, sie zu einer Art Betrachtung des modernen Lebens zusammenzufügen."
    Musik: "Infernal Machines"
    Höllische Maschinen werden hier besungen, "Infernal Machines". Es ist ein Song von "Office Politics", dem zwölften Album der nordirischen Band The Divine Comedy, das im Sommer 2019 erschienen ist.
    "Den Mount Everest besteigen, weil es ihn gibt"
    In diesem Konzeptalbum mit insgesamt 16 Stücken beschreibt Neil Hannon die moderne Arbeitswelt. Vordergründig. Denn es geht ihm dabei um mehr:
    Hannon: "Es ist auch die Quelle meiner Wut, nämlich die Art und Weise, wie Menschen heutzutage behandelt werden. Und dass ganz normale Arbeitnehmer scheinbar nicht mehr genug Wertschätzung erfahren, um vernünftig entlohnt zu werden. Mehr noch: Man gibt ihnen auch noch ein schlechtes Gefühl bei der Ausübung ihres Berufs. Und das ist nicht OK: Jeder gibt sein Bestes, und dafür sollte man dankbar sein. Es ist eine schreckliche Vorstellung, dass durch die Automatisierung kaum noch langfristige Karrieren in der Arbeitswelt möglich sind. Denn die haben dem Leben der Menschen Struktur und Bedeutung gegeben. Von daher mache ich mir große Sorgen, was die Zukunft bringt."
    Seinen Texten nach zu schließen, sind das die Technisierung der Arbeitswelt, steigender Konkurrenzdruck, ständige Verfügbarkeit der Angestellten, letzten Endes die totale Vereinnahmung des Individuums durch die Arbeit. Und die moderne Technik verändert auch unser soziales Miteinander.
    Hannon: "Eigentlich ist es eine lustige Sache. Nach dem Motto: ´Warum besteigt man den Mount Everest?´ - weil es ihn gibt. Warum haben wir Internet und soziale Medien? – weil es möglich ist.´ Sprich: Wir verwenden die Technik, weil wir sie halt haben – nicht, weil sie uns hilft. Ich erinnere mich noch gut an die Zeit davor – und da ging es uns ebenfalls prima. Da haben wir noch direkt miteinander gesprochen. Und das war toll."
    Im Ruhestand bröckelt der Wohlstand
    Diese Veränderungen und Unsicherheiten beschreibt Hannon aber nicht als Mahner, sondern mit dem Blick eines freundlichen Beobachters anhand konkreter Szenen und Personen. Der Song "Norman and Norma" zum Beispiel schildert den Lebensweg eines ganz normalen britischen Durchschnittspaars. Sie lernen sich auf der Arbeit kennen, heiraten, gründen eine Familie, arbeiten, fahren in Urlaub, sind glücklich. Aber im Ruhestand bröckelt der Wohlstand. Der ohnehin bescheiden war. Sie können im Urlaub nicht mehr in die Sonne fahren und holen sich stattdessen eine Lungenentzündung.
    Musik: "Norman und Norma"
    "Norman und Norma" vom jüngsten Divine Comedy-Album "Office Politics" zeigt exemplarisch Neil Hannons Klasse als Songschreiber. In rund dreieinhalb Minuten entwirft er über einer beiläufig hingetupften Melodie eine Sozialstudie über den Niedergang der britischen Mittelschicht.
    Sommerschlussverkauf im Synthesizer-Center
    Typisch für Neil Hannon, früher wie heute: sein Humor. Ein sehr britischer Humor. Trocken, schwarz, manchmal auch einfach völlig überdreht. "The Synthesizer Service Centre Super Summer Sale" könnte auch ein Song von Monty Python sein.
    Hannon: "Wir waren auf Tour und die Idee brodelte schon länger in mir. Ich hatte in mein Notizbuch geschrieben: ´Das Synthesizer-Service-Center´ und dachte: ´Das ist irgendwie witzig.´ Meine nächste Überlegung war: ´Wie wäre es, wenn ich das mit einem anderen Begriff kombiniere – etwa zum Synthesizer-Service-Sommerschlussverkauf.´ Und allein die Aussprache dieses Begriffs gab den Rhythmus für alles andere in dem Song vor. Was ich für witzig hielt. Und als wir auf der letzten Tour mal einen freien Tag hatten, saß die gesamte Band auf der Veranda eines Hotels beisammen, hatte ein paar Biere und hat so viele Synthesizer-Typen wie eben möglich zusammengetragen. Anschließend habe ich sie so zusammengesetzt, dass sie sich reimen."
    Musik: "The Synthesizer Service Centre Super Summer Sale"
    The Divine Comedy ist das Produkt von Edward Neil Antony Hannon, geboren 1970 in Nordirland als Sohn eines Pfarrers und späteren Bischoffs von Clogher. Wo immer das auch liegen mag. Seine Kindheit war nach eigenen Worten geprägt von toten Sprachen, Kirchenchorproben, Gottesdiensten, und: Top of the Pops.
    Hannon: "Das Schlimmste waren die Chorproben am Donnerstag-Abend, die sich mit Top Of The Pops überschnitten. Es war immer ein Rennen, möglichst schnell von der Probe nach Hause zu kommen und zumindest die letzten 15-20 Minuten der Sendung zu erleben. Der Gedanke daran macht mich bis heute fertig."
    Klassische Schulbildung, schlaue Popmusik
    Daher sei er auch Atheist, sagt er. Weil man dann sonntags ausschlafen kann. Zur Universität ist Hannon nie gegangen, weil er schon mit 19 "The Divine Comedy" gründete. Doch die klassische Schulbildung hat ihre Spuren hinterlassen, auf fast jedem Album finden sich Bezüge zu Literatur, Kunst, Film und klassischer Musik. Das geht beim Bandnamen los, nach Dantes Alighieris Göttlicher Komödie, und mit Song- und Album Titeln gerade so weiter. Das Debüt "Fanfare for the comic muse" parodiert das bekannte Orchestralwerk "Fanfare for the common man" von Aaron Copland, spätere Songs beziehen sich auf den Dramatiker Noel Coward oder Barockdichter John Dryden.
    Musik: "Lucy"
    "Lucy" war der erste, missglückte Anlauf der Divine Comedy auf die Single-Charts. Der Song stammt vom zweiten Album "Liberation" aus dem Jahr 1993. Auf dem Albumcover sieht man den jungen Neil Hannon mit Sonnenbrille, dunklem Anzug und blondgefärbten kurzen Haaren. Heute würde man sagen: nerdig. Auf seine Art ist er das tatsächlich schon immer gewesen, so etwas wie ein wandelndes britisches Klischee. Er ist freundlich, aber auch sehr zurückhaltend. Über sich selbst spricht er kaum, über Politik aber sehr gerne. Zu Interviews im Ausland bringt er seine eigenen Teebeutel mit und trägt auch im Hochsommer Tweedwesten und Hüte wie aus einem Landhausmodekatalog. Im Widerspruch dazu steht seine starke Bühnenpräsenz: da trägt er braune Krawatten zu orangefarbenen Sakkos und Partyhütchen, geht offen aufs Publikum zu und dirigiert seine Band. Ein echter Showman. "Life and soul of the party" , Leib und Seele der Betriebsfeier eben, wie es so schön heißt im gleichnamigen Song vom 2019er Album "Office Politics".
    Musik: "Life and soul of the party"
    Seit fast 30 Jahren gibt es The Divine Comedy nun. Auf den ersten sechs Alben, durch die 90er-Jahre hindurch, waren die Songs recht konventionell: drei Minuten lang, Strophe, Refrain, fertig. Sie passten zur Britpop-Welle dieser Zeit und verhalfen The Divine Comedy im Gefolge von Oasis, Blur und Pulp regelmäßig zu Top 20-Platzierungen.
    Hannon: "Ich habe erst im Nachhinein herausgefunden, dass ich für viele Leute ein Teil der Brit Pop-Bewegung war. Aber ich blicke durchaus gerne auf diese Zeit zurück. Denn ich denke, dass ich mich glücklich schätzen darf, dabei gewesen zu sein – einfach, weil die Art von Musik, die ich damals gemacht habe, sehr gut in diesen Kontext gepasst hat. Also mit den ganzen Zitaten der britischen Musik aus den 60ern und vielleicht auch noch der sogenannten ´goldenen Ära´ zwischen 1978-83."
    Mit der Hit-Single droht die Erniedrigung
    Dass Neil Hannon nicht wirklich etwas mit Britpop zu tun hatte, zeigen seine Vorbilder: eben nicht die Kinks oder The Who oder Punkrock, sondern symphonischer Pop von Burt Bacharach, dem Electric Light Orchestra oder Ennio Morricone, aber auch Electro-Pop von Human League und OMD. In seiner eigenen Musik werden diese Einflüsse aber erst ab 2001 deutlich. Davor klang er so wie auf dem bis heute größten Single-Hit: "The National Express" aus dem Jahr 1999.
    Musik: "The National Express"
    Mit "The National Express" kamen The Divine Comedy 1999 zum ersten und einzigen Mal in die britischen Top 10. Richtig wohl fühlte sich Band-Chef Neil Hannon damit aber nicht.
    Hannon: "Ich habe den Überblick verloren, wie oft die Busgesellschaft National Express schon auf mich zugekommen ist und gesagt hat: 'Hey, du hast einen Song, der unseren Namen trägt. wir sollten uns für eine Werbekampagne zusammentun.' Aber dann haben sie immer so schreckliche Ideen wie: 'Du könntest der Busschaffner sein.' Wo ich mir denke: 'Kein Geld der Welt kompensiert eine solche Form der Erniedrigung.' Das spare ich mir dafür auf, wenn ich in Rente gehe."
    Zu Zeiten des "National Express" waren Divine Comedy tatsächlich noch eine Band im klassischen Sinne, doch die löste Hannon 2001 auf. Seitdem hat er die totale Kontrolle über sein Projekt und nutzt diese künstlerische Freiheit. The Divine Comedy stehen seitdem nicht mehr für einen Sound: mal ist es Kammerpop mit Streichern, mal Swing und die Ballsaal-Musik der 20er-Jahre. Er selbst sagt von sich, dass er eigentlich gar keinen Stil habe, nicht mal eine künstlerische Persönlichkeit.
    Hannon: "Ich verwende gerne Klischees, das habe ich schon immer. Und auch unterschiedliche Genres. Dazu eine nette Anekdote: Als ich mit Nigel Godrich an "Regeneration" gearbeitet habe, meinte er zu mir: 'Versuch Klischees und Genres zu vermeiden. sei einfach du selbst.' Und darauf ich: 'Aber ich weiß doch gar nicht, wer ich bin.' Ich bin der Meinung, dass das, was meine Arbeit ausmacht, gerade daraus resultiert, alle möglichen Genres zu verwenden - sie inspirieren mich erst zu dem, was ich tue."
    Musik: "Napoleon Complex"
    Entschuldigung beim Publikum
    Napoleon Complex stammt vom Album "Foreverland", das Neil Hannon 2016 aufgenommen hat. Der Song steht beispielhaft für das gewollte stilistische Durcheinander, das Neil Hannon inzwischen kultiviert. Seine Alben sind wie Playlisten der Streaming-Generation, in denen alles Mögliche passieren kann. Auch wenn er keine Single-Hits mehr landet wie in den 90ern, war Hannon damit von 2004 bis 2016 erstaunlich erfolgreich. Beim jüngsten Album Office Politics schien es allerdings fast so, als ob er seine loyale Gefolgschaft zu sehr fordert. Beim Auftritt im halbvollen Paradiso in Amsterdam entschuldigte er sich explizit dafür, das komplette Album zu spielen. Das Publikum reagierte in diesem Fall etwas verhalten und ließ sich erst wieder durch alte Songs wie das choralartige "Songs of Love" einfangen.
    Musik: "Songs of Love"
    "Songs of Love" vom Album Casanova aus dem Jahr 1996, ein Beispiel für die "klassischen" Divine Comedy. Wobei Neil Hannon aber noch eine ganz andere Seite hat: Er hat Stücke für Künstler wie Charlotte Gainsbourg, Air oder Ute Lemper komponiert. Ist auf Soundtracks zu "Per Anhalter durch die Galaxis" oder "Doctor Who" zu hören und unterhält das Nebenprojekt "The Duckworth Lewis Method" mit Stuart Murdoch von Belle And Sebastian. Oder er versucht sich an klassischer Musik, einem Musical und zwei Opern. Viel Aufmerksamkeit bekam er dafür nicht, aber das ist ihm egal.
    Ein wundervolles Pferd tritt den ESC
    Hannon: "Wenn Elton John ein Musical macht, ist das eine große Sache, aber nicht, wenn ich das tue. Trotzdem lohnt es sich, denn ich mag die Geschichte, die dahintersteckt. Und ich wollte sie auf musikalische Weise umsetzen. Das Problem ist, dass ich bei allem, was ich in den letzten 15 Jahren gesehen oder gehört habe, denke: 'Könnte das ein Musical ergeben?' Also selbst bei dem politischen Theater um den Brexit. Nach dem Motto: 'Könnte das ein Thema sein?'"
    Hübsch auch sein Beinahe-Beitrag zum European Song Contest, der eigentlich gar keiner war. "My lovely horse war 1996 in der ziemlich biederen britischen Fernsehserie Father Ted über einen Landpfarrer zu hören. Der Pfarrer träumt davon, wie er am ESC teilnimmt. Die Musik stammt von Neil Hannon und wurde zum Kult-Song.
    Hannon: "Vor ein paar Jahren gab es eine Online-Petition, nach dem Motto: 'My Lovely Horse' aus Father Ted müsse unbedingt der irische Eurovisions-Beitrag werden. Das haben 10.000 Leute unterschrieben. Bis jemand meinte: 'Es kann gar nicht Teil der Show sein, weil es bereits bei zu einem früheren Anlass verwendet wurde.' Das war´s dann. Ich hätte da ohnehin nicht mitgemacht."
    Zum Glück.
    Musik: "My lovely horse"
    Eigentlich hat Neil Hannon mit seinem Projekt The Divine Comedy und seinen zahlreichen Nebentätigkeiten alles ausprobiert und erreicht. Zumindest in künstlerischer Hinsicht. Fast.
    Hannon: "Es hat mich noch niemand danach gefragt, den Soundtrack zu einem Film zu komponieren. Was jetzt nicht ganz stimmt. Ich wurde schon mal darauf angesprochen, aber dann ging der Produktionsgesellschaft das Geld aus oder das Projekt wurde verworfen. Insofern ist das das einzige Ziel, das ich noch habe, eben mich daran zu versuchen. Anschließend kann ich bis an mein Lebensende auf der Couch sitzen und 'House Of Cards' schauen."
    Musik: "Tonight we fly"