Auf vier Bände ist das ambitionierte Projekt angelegt, das dereinst ein Standardwerk zur bald 2000-jährigen christlich-jüdischen Beziehungsgeschichte sein will: "The Encyclopedia of Jewish-Christian Relations". Damit wird mehr als sieben Jahrzehnte nach der Shoah ein Werk präsentiert, das sowohl den Blick zurück als auch in die Gegenwart und Zukunft dieser vielfach belasteten, aber auch reichen Geschichte richtet. Der Anstoß zu diesem Mammutprojekt kam aus dem Potsdamer Abraham Geiger Kolleg sowie dem Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Rabbiner Walter Homolka, Direktor des Geiger-Kollegs, will das Lexikon als eine Ermunterung für eine stärkere internationale Perspektive verstanden wissen.
"Viele Erkenntnisse im deutschsprachigen Raum sind in den USA nicht bekannt und umgekehrt. Es gibt mittlerweile verschiedene Erklärungen, gibt aber auch eine große Zahl an Forschungsvorhaben und das einmal einer Gesamtschau zu unterziehen und dann vor allem auch den Blick in die Zukunft zu wagen und zu fragen: Was hat das dann für Auswirkungen für die Aussagen der christlichen Kirchen zum Judentum und für die Aussagen jüdischerseits zu den Kirchen? Das ist das Anliegen."
Im christlich-jüdischen Gespräch ist seit der Shoah vieles auf den Weg gebracht worden. Es gab in beiden Kirchen bahnbrechende Stellungnahmen und Beschlüsse, die eine Annäherung ermöglicht haben. Doch es gibt auch mahnende Stimmen, die mit Sorge darauf schauen, daß die junge Generation kaum noch Träger dieses Dialogs ist.
Standortbestimmung der christlich-jüdischen Beziehungen
Ein umfassendes Werk zur christlich-jüdischen Beziehung, das Ergebnisse aus der internationalen Forschung bündelt, neue wissenschaftliche Perspektiven eröffnet und Anregungen zu weiteren Forschungen gibt, fehlt bislang. Es geht um eine Standortbestimmung, erklärt die Koordinatorin des Projekts, die evangelische Theologin Kathy Ehrensperger:
"Viele grundlegende Fragen, die wurden noch nicht gestellt. Die Beziehung ist soweit reif, dass man jetzt auch kritische Anfragen aneinander stellen kann. Also dass man sich nicht nur gegenseitig respektiert und anerkennt auf Augenhöhe, sondern dass man auch konfliktreiche Bereiche anschauen kann. Dass man Missverständnisse angehen kann."
Kathy Ehrensperger lehrt an der Universität Potsdam Neues Testament aus jüdischer Perspektive. Doch längst verlaufe – auch nach Jahrzehnten des Dialogs – in der Beziehung zwischen Christen und Juden nicht alles problemlos. Sie trifft immer wieder selbst bei Theologen auf fest verankerte Stereotype.
"Wenn heute immer noch von den 'verheuchelten Pharisäern' auf den Kanzeln gepredigt wird, dann besteht ein Problem immer noch, trotz der 50, 60 Jahre christlich-jüdischen Gespräches. Trotz aller Versuche, Antijudaismus aus christlicher Theologie herauszudenken. Wenn christliche Identität sich immer noch so formuliert, dass der Jude der exemplarische, selbstgerechte Fromme ist. Wenn das Gesetz immer noch 'überwunden' werden muss, um zur Universalreligion zu gelangen, dann ist etwas im jüdisch-christlichen Gespräch noch nicht geschehen, und zwar etwas ganz Grundlegendes."
Die jüdische Leben-Jesu-Forschung zählt bald 200 Jahre. Sie habe jedoch, beklagt Rabbiner Walter Homolka, so gut wie keinen Einfluss auf die Christologie in den Kirchen gehabt. Zwar hätten die beiden jüdischen Gelehrten Shalom Ben Chorin und Pinchas Lapide in den 1980er-Jahren Tausende Christen mit ihrer jüdischen Sicht auf das Neue Testament und auch durch ihr persönliches Wirken beeindruckt. Es sei jedoch symptomatisch, dass für die nachfolgende Generation in den Kirchen diese Fragen kaum noch eine Rolle spielten.
Homolka sagt: "Hier eine Sicherung des Bestandes herbeizuführen, das Ganze auf globaler Ebene mal mit einem Resümee zu versehen und dann aber auch zu sehen, welche wirklichen Fortschritte das dann gebracht im Verhältnis von Judentum und Christentum ist die große Aufgabe dieses Lexikons. Um dann auch zu sehen, was ist denn eigentlich der Ertrag? Haben wir ein Verhältnis auf Augenhöhe? Erkennen die Kirchen, die christliche Theologie an, dass das Judentum ein ungekündigtes Verhältnis mit Gott hat, das keiner weiteren Erlösungsbedürftigkeit unterliegt? Umgekehrt: Wie ist das Verhältnis der jüdischen Theologie zur Wirkungsgeschichte Jesu?
Das Kompendium zur jüdisch-christlichen Beziehung will den Blick aufeinander richten. Es versteht sich damit auch als Anregung und Aufforderung an beide Seiten.
Homolka: "Shalom Ben Chorin hat einmal gesagt, dass das auch von den Juden nicht unterschätzt werden darf, dass diese Wirkungsgeschichte zu einer großen historischen Bedeutsamkeit geführt hat. Dass das auch jüdischerseits heilsgeschichtlich eingeordnet werden muss."
Für den katholischen Theologen Rainer Kampling, der das Projekt für das Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg mit angestoßen hat, ist hier die Kirche auf besondere Weise herausgefordert.
Verfolgungsgeschichte hat auch den Blick verstellt
"Wenn man heute sagen darf, dass das, was wir Antijudaismus nennen, eine Verirrung des Glaubens war und ist, welchen Schaden hat er dann wirklich dem zugefügt, was wir Christentum nennen? Also es ist von der theologischen Sicht, neben dem großen historischen Interesse, sicherlich auch noch einmal die Selbsterkundung durch die eigene Schädigung des Antijudaismus."
Gleichzeitig verstelle der Blick auf die jahrhundertelange Verfolgungsgeschichte andere Seiten der jüdisch-christlichen Beziehung.
Kampling: "Es gibt Gemeinsamkeiten, die wir nicht wahrgenommen haben. Es gibt einen viel größeren Austausch, der auch nach der großen Wende der Pest anhält. Nach der Pest haben wir immer noch einen intellektuellen Austausch. Also sowohl jüdisch wie christlich gibt es eine große gemeinsame Menge, bei aller Diskrepanz. Und man kann natürlich diese Diskrepanz und die Verfolgung des Judentums durch Christen nicht verschweigen. Aber gleichwohl gilt es zu entdecken, was es an Gemeinsamkeiten gibt."
Neue Blickwinkel und Perspektiven, die in der "Encyclopedia of Jewish-Christian Relations" aufgezeigt werden sollen. Sie wird mehrere hundert Einträge umfassen. Zu zentralen theologischen Begriffen wie dem "Bund". Zu Jesus von Nazareth oder Mose und ihre jeweilige Wirkungsgeschichte. Ebenso werden geografische Räume betrachtet, der Nahe Osten oder das sefardische Judentum in der islamischen Welt. Geführt wird das Projekt von Chief Editors zu denen neben Walter Homolka und Rainer Kampling noch der Direktor des Jüdischen Museums Berlin, Peter Schäfer, der Leiter des Berliner Instituts Kirche und Judentum, Christoph Markschies, der Münchner katholische Theologe Martin Turner sowie die US-amerikanische Neutestamentlerin Amy Jill Levine gehören. International anerkannte Experten, für die allein die fachliche Expertise und nicht etwa konfessionelle Zugehörigkeit ausschlaggebend sind, werden die jeweiligen Themen bearbeiten. Das mit Bundesmitteln geförderte Lexikon wird beim renommierten de Gruyter Verlag auf Englisch erscheinen und zusätzlich in einer digitalen Version aufgelegt. Kein Lexikon im landläufigen Sinne, sondern eine "Formulierung der Zukunft in Betrachtung der Vergangenheit an der Schnittstelle der Gegenwart", so Walter Homolka:
"Ich glaube, man muss da mal die Dinge aufblättern, auch Dinge die sich nicht vereinbaren lassen, nebeneinander stehen lassen."
Ende 2021, Anfang 2022 ist es dann soweit. Alle vier Bände sollen auf einmal veröffentlicht werden. Die Herausgeber hoffen, dass sich Einstellungen ändern, auch wenn sich das Lexikon zunächst an ein ausdrücklich akademisches Publikum wendet. Die Koordinatorin Kathy Ehrensperger:
"Ein Grundlagenwerk und Anstoß, damit sich der jüdisch-christliche Dialog weiterentwickeln kann. So wie das angefangen hat, das war unglaublich wichtig, aber es findet ein Generationenwechsel statt. Und wenn nicht etwas verloren gehen soll, braucht es neue Anstöße und Initiativen.