"Look well at this man. Look! Come up out of your graves, philosophers, and you who founded churches, and all you who for ten thousand years have talked of God ..."
Am Anfang steht das Gedicht von Mary Borden, "Unidentified / Unerkannt", über die Gottverlassenheit des Menschen im Krieg und einen sterbenden Soldaten. Die Zeilen ihres Langgedichts lassen uns den Moment des Todes hören. Das tun auch Duncan Macmillan und Katie Mitchell. Ihre neue Arbeit ist eine filmisch-poetische Todesfuge von unglaublicher Präzision, die das gebannte Publikum 75 Minuten lang in atemloser Stille hält.
"... look close at this man. Look! He waits for death, he knows, he watches it approach, he hears it coming, he can feel it underneath his feet - death bearing down on him from every side ..."
Und natürlich erfindet Katie Mitchell sich und ihre Arbeit nicht neu für die Salzburger Festspiele. Ein auseinandergeschnittenes historisches Zugabteil beherrscht die breite Halle auf der Perner-Insel, dahinter sind viele kleine Räume, in denen die Spielszenen gefilmt werden: ein Labor, eine Bahnhofstoilette, der Garten der Villa Haber in Berlin-Dahlem, ein Krankenzimmer.
Die Schauspieler wissen exakt, in welcher Sekunde sie was tun, welche Hand sie bewegen, in welche Richtung sie schauen oder gehen müssen. Das Ganze ist eine ausgefeilte Choreografie mehrerer Schauplätze, Zeit- und Spielebenen, die auf einer Leinwand über der Szene zusammen geführt werden.
Eine feministische Geschichte
Neu ist die ganz eigenständige Geschichte, die Macmillan und Mitchell erzählen. Und die ist weiblich, feministisch und pazifistisch, sie ist historisch verbürgt und aufklärerisch im besten Sinne, auch wenn sie vor allem von der Ohnmacht der Frauen im Krieg handelt.
"Sowohl Armee als auch Marine sind unserem Geschlecht verschlossen. Es ist uns nicht gestattet zu kämpfen. Noch ist es uns gestattet, Mitglied der Börse zu sein. Daher können wir weder das Druckmittel der Gewalt noch das Druckmittel des Geldes einsetzen. Wir können keine Predigten halten und keine Verträge aushandeln. Und so befinden sich alle Waffen, mit denen ein gebildeter Mann seine Meinung durchsetzen kann, außerhalb unserer Reichweite."
Die Chemie zum Töten
Claire Haber arbeitet während des Zweiten Weltkriegs in den USA in einem Chemie-Labor. Sie forscht an Mitteln gegen Chlorgas-Angriffe. Und sie hat ein persönliches Motiv: Ihre Großmutter war Clara Immerwahr, die Frau des Chemikers Fritz Haber, der 1915 das erste Giftgas zum Einsatz brachte - und vielen Tausend Soldaten den Tod.
"Alles lief nach meinen Berechnungen. Wir setzten die Zylinder aus, annähernd 6.000 über eine Breite von 6,5 Kilometern. Eine Wolke aus Gas strömte über das Feld. Als es die erste französische Frontlinie erreichte, verstummte das Gewehrfeuer. Ich hörte Vögel singen, das Rauschen des Baches. Es war, als wäre kein Krieg. Giftgas ist eine höhere Form des Tötens."
Kurz darauf erschoss sich Clara im Garten ihres Hauses mit der Dienstwaffe ihres Mannes. Ihre Geschichte ist vor 30 Jahren erstmals durch eine Biografie bekannt geworden, vor Kurzem war ein Spielfilm mit Katharina Schüttler über die erste promovierte deutsche Chemikerin in der ARD zu sehen.
Jetzt spinnt das Stück "The Forbidden Zone" die Geschichte in die Zukunft, angereichert mit Textzeilen von Emma Goldman, Virginia Woolf oder Hannah Arendt. In Salzburg spielen neben Clara und Claire noch die Labor-Kollegin und ihre Vorgeschichte als Krankenschwester in einem Lazarett und zwei Soldaten aus zwei Weltkriegen eine Rolle:
"You are not American. You don't belong here."
Die Perfektion als Vorwurf
Die Technik, aus einem sich nicht bewegenden Stück Kulisse einen fahrenden Zug zu machen, ist so perfektioniert wie alle Abläufe: Geräuschlos huschen Männer mit Videokameras zwischen den Szenen hin- und her. Die Kamera blickt häufig in stumme Gesichter oder nimmt symbolische Gegenstände auf: den Schlüssel zum Giftschrank des Labors, die Waffe, das Medaillon, das Claire und Clara häufig am Hals befühlen.
Wenn man mäkeln wollte, könnte man diesem unglaublich spannenden Abend einzig dies vorwerfen: die Perfektion, die dieses Schau-Spiel, diese Bild-Erzählung so poetisch, elegisch und schlafwandlerisch sicher macht, und damit um so viel schöner als der verhandelte Inhalt.
Dies, und das Thema "Selbsttötung als Familienerbe", verbindet das Stück übrigens mit der neuen Oper über Charlotte Salomon. Es ist den Salzburger Festspielen nicht hoch genug anzurechnen, zwei nahezu unbekannte Frauenschicksale so eindrücklich ans Licht und zur Kunst gebracht zu haben.