Lone Scherfigs Berlinale-Eröffnungsfilm "The Kindness of Strangers", ist das genaue Gegenteil von dem was die ehemalige DOGMA-Mitbegründerin früher machte, sagte Dlf-Kritikerin Maja Ellmenreich. Einst war Scherfig ja bekannt als Protagonistin der Dogma-Bewegung. Die DOGMA-Bewegung von 1995 war angetreten, um das Kino neu zu erfinden, neu zu definieren – weg von den großen Effekten, hin zur Abbildung der Wirklichkeit: kein künstliches Licht, keine künstliche Filmmusik, Handkameras und Originalschauplätze.
Und in den 18 Jahren seit Scherfigs Dogma-Erfolgsfilm "Italienisch für Anfänger" habe sie sich um 180 Grad gedreht, sagte Maja Ellmenreich. Nun mache Scherfig eher ein herzerwärmendes Romantik-Kino – mit all seinen Vor- und Nachteilen – da gibt es die Handkamera nur, wenn es in der Notaufnahme des Krankenhauses hoch her geht. Da wird die Filmmusik in all ihrer Emotionalität laut aufgedreht. Also, von Dogma sei Lone Scherfig weit, weit weg, so Ellmenreich.
Plädoyer für Vorurteilsfreiheit
In dem Berlinale-Eröffnungsfilm gehe es ziemlich wörtlich um die Freundlichkeit, um die Menschenliebe zwischen Fremden. Lone Scherfig zeichne ein Personaltableau von Menschen, die einander zu Beginn nicht kennen, deren Wege sich aber immer häufiger und intensiver kreuzen. Im Zentrum steht eine junge Mutter, die mit ihren beiden Söhnen vor ihrem gewalttätigen Ehemann flieht. Doch je auswegloser die Situation wird – kein Geld, keine Unterkunft – desto ehrlicher muss sie gegenüber ihren Kindern werden. Ein "Road Movie" auf den Straßen von New York.
Und auch die anderen "Strangers" sind auf ihre Weise in verzweifelten Situationen: Da ist eine junge Ärztin, die sich aufreibt für andere, sich aber um sich selbst überhaupt nicht mehr kümmert. Da ist ein junger Mann, der einen Job nach dem anderen verliert, obdachlos wird. Ein Ex-Knacki, der nur mühsam in der Freiheit zurechtkommt, aber es gelingt ihm, ein russisches Restaurant wieder zum Laufen zu bringen.
"The kindness of strangers", sagte Maja Ellmenreich, sei ein berührender Film, aber beileibe kein raffiniertes Arthouse-Kino: wenig überraschend, sehr eindeutig in seiner Botschaft. Aber ein Plädoyer für Vorurteilsfreiheit, für Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft.
Hilfsbereitschaft gegenüber Fremden
Sehr viel mehr hat unsere Kritikerin der erste deutsche Beitrag "Systemsprenger" von Nora Fingscheidt begeistert. Die Geschichte eines gewalttätigen Kindes. Ein Film der fragt: Warum sind Kinder so, was läuft schief in der Gesellschaft, dass Kinder so eine Wut entwickeln, zerstören und zu so genannten "Systemsprengern" werden.
Im Kern, so Ellmenreich, habe er einen ähnlichen Inhalt wie "The kindness of strangers": Hilfsbereitschaft gegenüber Fremden – aber nur im Kern. Benni ist ein neunjähriges Mädchen, schwer traumatisiert als kleines Kind, flippt sie regelmäßig aus – wie die meisten von uns wohl noch kein Kind haben ausflippen sehen. Da fliegen Bobbycars durch die Luft; sie rammt den eigenen Kopf gegen die Wand; schlägt andere Kinder bis zur Bewusstlosigkeit. Ihre Aggressionen richten sich gegen sich selbst und gegen andere – keiner kann sie "einfangen"; im Notfall muss die Polizei kommen, der Rettungsdienst, und dann landet sie sediert in der Psychiatrie. Ihre Mutter ist hoffnungslos überfordert, die meisten der Profi-Betreuer auch. So durchläuft Benni eine Vielzahl von Heimen, Einrichtungen, Stationen – überall fliegt sie raus. Doch im Prinzip wollen alle helfen; nur ganz wenige dringen zu Benni durch: Und die laufen Gefahr, dass sie den professionellen Abstand verlieren, dass die Grenze zwischen privatem Gefühl und beruflichem Verstand verschwimmen. Denn zu wem Benni Vertrauen aufbaut, den will sie verständlicherweise nicht mehr loslassen. Dabei ist Benni unberechenbar, ihr Verhalten nicht vorhersehbar. Und ihr tiefster Wunsch: zurück zur Mutter, die labil und überfordert ist.
"Systemfänger" ist der Debutfilm von Regisseurin Nora Fingscheidt,die das Drama mit einer atemberaubenden Hauptdarstellerin - Helena Zengel – in Szene gesetzt habe, so Maja Ellmenreich im Dlf. Die 10jährige Helene Zengel, spiele von den weichen Momenten bis zum wildesten Furor alles überzeugend. Und auch die erwachsenen Schauspielerinnen und Schauspieler lassen einen vergessen, dass "Systemsprenger" keine Dokumentation, sondern eine Fiktion ist.
Emotionale Achterbahnfahrt
Das auch schon preisgekrönte Drehbuch von Nora Fingscheidt besitzt die Dramaturgie einer immer enger werdenden Eskalationsspirale. Eine Enttäuschung folgt auf die nächste, ein Rausschmiss auf den nächsten; hoffnungsvolle pädagogische Versuche werden durch brutale Rückfälle konterkariert. Doch während man den Film schaut, ist die Entwicklung so unvorhersehbar wie Bennis Verhalten: Hoffnung und Enttäuschung durchläuft man wie bei einer Achterbahnfahrt. Der Figur dieses Mädchens kommt man sehr nah, ihre Verletzungen, ihre Beweggründe werden einem im Laufe des Filmes immer klarer. Wir als Beobachter erkennen Muster, sind zunächst Außenstehende, die aber auch immer mehr den Abstand verlieren. Emotional außerordentlich packend –und, so Maja Ellmenreich: böse Zungen könnten auch sagen: manipulativ.