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The Notwist
Song-Splitter mit größtmöglicher Fallhöhe

Die Band The Notwist hat sich seit ihren ersten Auftritten Ende der 80er-Jahre von einer Hardcore-Band hin zum experimentellen Pop-Kollektiv mit Elementen der Neuen Klassik entwickelt. Mit "Close to the Glass" gibt es nun ein neues Album.

Von Andi Hörmann |
    Das oberbayerische Voralpenland, auf der halbstündigen Zugfahrt von München nach Weilheim zieht es vorbei wie der Vorspann eines Films: saftig grüne Hügel vor strahlend blauem Himmel, vereinzelte Föhnwolken, dümpelnde Pflanzen auf trüben Gewässern, da ein verwahrlostes Gehöft, dort schroffe Fichtenwälder.
    Am Bahnhofsplatz wartet Markus Acher - Zauselbart, Brille und Parka. Er wirkt fast so verschlafen wie die nur knapp 20.000 Einwohner zählende Kreisstadt Weilheim. Zur Begrüßung ein kurzes Winken. Er telefoniert. Dunkelblauer Kleinwagen, zwei Kindersitze auf der Rückbank.
    Knapp zehn Autominuten von der Weilheimer Innenstadt, ein tristes Industriegebiet, eine Autowerkstatt, eine Gardinenschneiderei, ein Werkzeughändler - und das Studio von The Notwist. Eine umfunktionierte Gewerbehalle, etwa 80 Quadratmeter groß, mit rotem Teppichboden. Der Eingang, eine Aluminiumglastür, von innen schallgeschützt verkleidet. Unzählige Musikinstrumente stehen und liegen in einem undurchschaubar geordnetem Chaos im Raum verteilt. Einsatzbereit: da mal klimpern, dort mal klöppeln.
    "Hier steht ein altes Schlagzeug, ein Harmonium, ein Klavier, eine Hammondorgel, ein Wurlitzer-Piano, diverse Verstärker, Percussion-Instrumente, Glockenspiel, Xylofon, Keyboards, noch mal Keyboards, noch mehr Keyboards, noch mehr Keyboard und noch ein Keyboard - und eine Kaffeemaschine."
    In der improvisierten Einbauküche neben der Aufnahmeregie mit einem 24-Kanal-Mischpult macht sich Micha Acher - Hauptinstrument: E-Bass - einen Kaffee. Sein Bruder Markus - Gesang und Gitarre bei The Notwist - steht in der Raummitte: erkältet, hustend.
    Jedes noch so banal klingende, kleine Geräusch - hier könnte es musikalische Bedeutung erfahren. Das Studio von The Notwist ist ein profaner Sakralbau für Klangskulpturen. Die Instrumente im Raum - der Raum, das Instrument.
    "Es klingt zwangsläufig jedes Stück nach dem Raum. Auch, weil wir immer versuchen, keine reine Computermusik zu machen. Also in dem Sinn, dass wir immer versuchen, dass das wieder aus dem Computer rauskommt und im Raum stattfindet. Selbst wenn wir was Elektronisches machen, wird das sehr oft durch den Raum geschickt."
    Die Reise der Töne durch den Raum - eine Klangexpedition, die den Sound formt. Das Mikrofon: Extrem weit entfernt oder ganz nah an der Klangquelle. Abspielen, zum Beispiel über antiquierte Radioboxen. Aufnehmen, mit einem hochsensiblen Kondensatormikrofon. Oder einfach über ein batteriebetriebenes Minikeyboard mit integriertem Mikro, in das Markus Acher gerade ein Hallo flüstert, sampelt und mit der Tastatur in der Tonhöhe verändert.
    "Hallo ... Hallo. Hallo. Hallo."
    Die Gebrüder Acher und der Elektroniktüftler Martin Gretschmann haben 18 Monate am neuen The-Notwist-Album komponiert. Keine Sisyphosarbeit, mehr eine Arche Noah - gebaut aus musikalischen Irrungen und Wirrungen. Vor einem Verstärker sitzt Markus Acher, stimmt die E-Gitarre und spielt das Stück "Casino" aus dem neuen Album.
    "Close to the Glass", im Albumtitel spiegelt sich die Musik der neuen Notwist-Platte: transparente Kompositionen, zerbrechliche Emotionen. Gläsern schöne Songcollagen mit größtmöglicher Fallhöhe - euphorisierend und melancholisch zugleich. Zwölf unter die Haut gehende Song-Splitter, versehen mit heilsamen Gegengift. Etwa im böse Geister vertreibenden Titelstück, im ersehnten Trost herbeischnippenden "Run Run Run", im Frust wegtanzenden "Kong" mit seinen schrammelnden Shoegazer-Gitarren. Oder im aufzehrenden Zweifel vertreibenden "Signals":
    "Der Martin hat sich bei dieser Platte bei der ersten Aufnahmerutsche so ein Modular-Synthie-System gekauft. Das war hier so ein Tisch, der so hoch war. Mit 50 Modularstecksystemen so eine Wand aufgebaut und hat sich völlig in diese Modularsysteme rein gearbeitet und fand das super."
    "Jedes mal haben wir uns gedacht: Wow, Wahnsinn, schon wieder so Teile! Und das hat immer abgefahrener geklungen. Wie so ein durchgeknallter Professor hinter seiner Wand. Und hat so an diesen Dingen rum geschraubt."
    Wie ein roter Faden zieht sich ein blubberndes Arpeggio aus modularen Synthesizersystemen durch das neue Album von The Notwist. Ob es das flirrend schöne oberbayerischen Voralpenland ist oder die Abgeschiedenheit in ihrem Weilheimer Studio: The Notwist habe mit ihrem neuen Album "Close to the Glass" scheinbar Unvereinbares in symphonischer Elektronik vereint: endlos glatte Klarheit in eindringlich gläserner Vielfalt.
    "Wir haben irgendwann angefangen, uns die Stücke hintereinander anzuhören und dachten uns: Das geht überhaupt nicht, die sind alle so verschieden, die bekommen wir überhaupt nicht zusammen auf eine Platte. Und irgendwann dachten wir uns, dass man das so richtig ausstellen kann. Oder sogar ins Extrem führen - als Prinzip für die ganze Platte. Wie so ein DJ-Mix oder Hip-Hop-Platten. Ich finde bei Hip-Hop-Platten oft cool, dass da vollkommen ohne jeglichen Respekt zwischen den Sachen hin- und hergeswitcht wird - zwischen Samples und dann wieder ein Lied. So etwas mag ich sehr gerne."