Haben wir das Streiten verlernt? Auf diese Ausgangsfrage antwortet Thea Dorn: "Wir haben das Streiten verlernt. Streitbarkeit halte ich für eine Tugend. Die geht flöten, wenn man zu harmoniesüchtig ist." Die Gretchenfrage sei: Was heißt eigentlich streiten? "Heißt streiten, ich will gewinnen, ich will meine Meinung durchsetzen, oder ist ein Streit etwas, wo ein Erkenntnisinteresse besteht, wo man die Hoffnung hat, dass man nachher klüger oder zumindest mit veränderten Ansichten vom Kampfplatz geht."
Daniel-Pascal Zorn weist darauf hin, dass schon die Frage zwei Voraussetzungen beinhaltet: "Erstens: Dass man es verlernt hat, setzt voraus, dass man es einmal gelernt hat. Hatten wir es denn mal gelernt? Zweitens: Und wenn wir es gelernt haben: Was hat dazu geführt, dass wir es verlernt haben?"
War Streiten früher besser?
Nach Ansicht von Thea Dorn hat sich in den vergangenen Jahrzehnten "eine übergroße Konsens- und Harmoniesucht breitgemacht. Und auf einmal tauchen diese hässlichen, lauten Stimmen auf, die brüllen und sagen: Ich will meine Meinung sagen! Und: Das wird man doch noch sagen dürfen! Das trifft auf ein Milieu, das es überhaupt nicht mehr gewohnt war, sich ernsthaft über Sachen auseinanderzusetzen. Dazu habe auch der Regierungsstil der Bundesregierung in den letzten zehn, 15 Jahren beigetragen.
Zu allen Zeiten habe es Diskussionen gegeben, wie man miteinander streiten müsse, sagt Daniel-Pascal Zorn: "Wir leben in einer Zeit, in der wir gut miteinander streiten können, sind aber jetzt des Streits bedroht. Darüber müssen wir auch im Streit auseinandersetzen."
Was sagt der Satz "Das wird man ja wohl noch sagen dürfen" über die aktuelle Streitkultur aus?
Thea Dorn hält allen, die den Eindruck haben, man dürfe hierzulande nicht mehr frei reden, entgegen: "Macht euch mal klar, wenn ihr euch historisch und auf der Welt umguckt, dass es keine Gesellschaft gibt, in der man so viel reden darf wie bei uns und über so viel reden darf wie bei uns." Sie vermutet hinter dem Satz auch eine "Wut, dass man damit gewissermaßen von dem, was man für die feineren oder richtigeren Kreise der Gesellschaft hält, ausgeschlossen wird. Das verbirgt sich eigentlich hinter dem Satz, dass man das nicht sagen darf."
Zorn will über die moralische Ordnung des Dürfens und Nicht-Dürfens hinaus den Diskurs auch auf eine andere Art und Weise betrachten und fragen: "Wie rechtfertigst du das? Mit welchen Gründen? Dann bin ich in einem anderen Modus, der nicht nach dürfen oder nicht dürfen entscheidet. Dann unterscheide ich das 'Aussprechen von etwas' und das Geltenkönnen von etwas. Ich sehe die Entwicklung, dass überhaupt niemand mehr auf Gründe achtet. Da muss man eine Gegenspannung entwickeln."