Am Ende bleibt oft nur noch die Musik. Wenn sich der Geist bereits tief in der Demenz verflüchtigt hat, sind alte Menschen immer noch empfänglich für Töne und Klänge. Sie sind noch da. Aber sie sprechen nicht mehr unsere Sprache. Auf der Bühne des Staatstheater Braunschweig können die Alten nicht nur Musik hören. Sondern auch mit Tönen kommunizieren. In ihren Rollstühlen spielen sie auf der Geige oder dem Cello. Sie zeigen mit zarten Harmonien, was sie immer noch empfinden. So anrührend die verstummten Geister mit den traurigen Klängen daher kommen, so hart und unromantisch ist die Realität derjenigen, die sie pflegen.
Mit "Polnische Perlen" widmet sich das Künstlerkollektiv werkgruppe 2 der Ausbeutung von osteuropäischen Pflegekräften. "Polnische Perlen", die zwischen den Gestalten im Rollstuhl arbeiten und und dabei von ihrem Schicksal erzählen. Mal vor, mal hinter den verschiebbaren Gardinen-Stellwänden.
"Und wir müssen die Menschen auch verstehen. Wir müssen die Menschen auch verstehen und ein bisschen freundlich sein bei den alten Menschen. Und auch, ein bisschen lieben, ja, ein bisschen lieben die alten Menschen, was sie brauchen, das müssen wir auch verstehen".
Was zunächst wie eine Recherche des Magazins “Monitor” klingt, hat werkgruppe 2 in höchst poetische Bilder transformiert. Die sollen sich deutlich von journalistischen Auseinandersetzungen mit dem Thema unterscheiden, betont Regisseurin Julia Roesler:
“Weil wir einfach in einer Welt leben, in der es uns nie an Nachrichten mangelt, und in der wir permanent alle Informationen und alles Wissen verfügbar haben. Das führt ja aber trotzdem nicht dazu, dass ich mich für diese Dinge interessiere".
18 Interviews liefern die Textbasis für dieses Stück Dokumentar-Theater. 18 Interviews, die nicht leicht zu organisieren gewesen sind. Denn den meisten Auftraggebern und Arbeitnehmern war klar, dass sie in einer rechtlichen Grauzone arbeiten. Diejenigen, die doch mit den Künstlern gesprochen haben, offenbaren eine ambivalente Welt. Zwischen Selbstaufgabe und liebevoller Zuwendung. Nicht alle machen diesen Job nur wegen des Geldes. Aber alle wissen, dass ihr Verdienst zu klein ist. Und ihre Arbeitsverhältnisse einer modernen Form der Sklaverei ähneln.
Bei der Umsetzung der Recherche auf der Bühne geht das Künstlerkollektiv einen ganz eigenen Weg. Im Gegensatz zu anderen Dokumentartheater-Projekten verzichtet werkgruppe 2 auf Laiendarsteller, die zwar authentisch erscheinen, aber keine Schauspieler sind.
“Also ich glaube, dass wirklich die große Chance ist, den Weg über den Schauspieler zu gehen und zu sagen der Schauspieler fungiert als Stellvertreter, wird, geht an die Position des Menschen, den wir interviewt haben, versucht über sein schauspielerisches Handwerk eine Figur zu erschaffen, die wir als Zuschauer dann mit all ihren emotionalen Facetten wahrnehmen und begreifen können”.
Die echten Schicksale werden so in eine Art magische Fiktion transformiert. Die Schauspieler bauen mit ihrem Können ihre realen Vorbilder auf der Bühne nach. Wie auch Nientje Schwabe, die ihrer “Polnischen Perle” sehr nahe gekommen ist.
“Wir haben damit gearbeitet, dass wir uns lange auch Tonbänder angehört haben mit deren Interviews. Dass wir den Akzent so ein bisschen studieren und eben auch den Charakter, den man da raus hört, was ihr wichtig ist und wo man sie an ihr wichtigen oder emotionalen Punkt erwischt. Und was für sie eine Selbstverständlichkeit hat, dass man sich versucht reinzudenken, was sie für ein Mensch ist”.
Durch diese Transformation der Realität in die Kunst entsteht eine Künstlichkeit. Und eine Distanz, die die Schicksale emotional nachvollziehbar macht.
Auf der Probe allerdings besteht die Gefahr, dass die poetischen Bilder der stummen Alten, das Schicksal der ausländischen Pflegekräfte überlagern. Ein gefährlicher Dualismus zweier wichtiger Themen, ist so entstanden.
Ob der Abend von der berührenden Versinnbildlichung der Demenz noch die Kurve kriegt zur europäischen Sozialkritik, wird sich erst bei der Premiere heute Abend zeigen. Sehenswert wäre dieses ungewöhnliche Stück Dokumentartheater allerdings selbst dann, wenn dieser Schwenk nicht gelingt.