Bei der letzten König-Lear-Premiere am Wiener Burgtheater saß er im Publikum und man konnte an seinem Gesicht beobachten, dass ihm der Wahnsinn sichtlich Spaß machte, den Gerd Voss – dieser andere Wiener Lokalmatador - in der Inszenierung von Luc Bondy als eine Art Lear-Gott genüsslich zelebrierte und auskostete. Und nun spielt Klaus Maria Brandauer selbst diesen greisen König, der abdankt, bevor es zu spät ist, der sein Reich teilt unter seinen Töchtern und dabei eine, die Jüngste, enterbt und verstößt, weil sie ihm nicht schmeichelnd nach dem Mund redet, wie ihre beiden älteren Schwestern.
Danach kommt der freie Fall aus der Höhe der Macht in die Niederungen von Demütigung, Wahn und Sterblichkeit. So jedenfalls hat man den Lear schon oft gesehen, doch genau diesen Lear, der im Wahn über die Heide braust, um dann in der Demenz zu versacken, für den haben sich weder Klaus Maria Brandauer noch sein Regisseur Peter Stein interessiert. Zwar zeigt Brandauer in der ersten Szene noch im Jähzorn die verletzte Eitelkeit des Patriarchen, dessen Tochter sich ihm entgegenstellt. Doch je weiter sich dieser Lear von der Macht entfernt, desto kürzer wird sein Mantel, der erst als Lederpelz hinter ihm herschleppt, als er noch die Krone trägt, der schon kürzer ist, als er zum Gast wird und zum Bittsteller seiner Töchter, bis er schließlich im weißen Büßerhemd auf der Heide steht und Mensch Lear ist.
"Fühle mal, was Armut fühlt, auf dass du hinschüttest für sie dein Überflüssiges und rettest die Gerechtigkeit des Himmels."
Es ist ein leiser, sehr stiller, sehr zurückgenommener Lear und damit einer, den man eigentlich von dem Schauspieler Klaus Maria Brandauer, diesem Rampentier, nicht erwartet hat. Erst Peter Stein, sagt man, habe Brandauer dazu gebracht, nicht mehr nur sich selbst zu spielen, sondern Figuren im wahrsten Sinne des Wortes zu entdecken. Und das tut Brandauer nun auch bei diesem Lear, der vermeintliche Wahn ist ein Weg der Erkenntnis und je erkennender dieser Lear wird, je klarer er sieht, desto menschlicher wird er, desto mehr sieht er auch mit den Augen des Narren, der zweiten großen Rolle in Shakespeares Stück, die als eine Art Wahrheitsmund und Blaupause des Königs in Wien nun von Michael Maertens als buckliger Eulenspiegel gespielt wird. Auch so ein Schauspieler, dem leicht die Pferde durchgehen können und der hier von dem Altpsychologen Peter Stein in die dezente Zurücknahme geführt wurde.
Doch so großartig dieses Narrenpaar daherkommt und so gerne man ihnen bis zum Schluss zuschaut, bis hin zu Lears Tod, der hier die tote Tochter im Arm sitzend kaum merklich verscheidet, so ist das Theater um sie herum ein hoffnungslos zelebriertes Staatstheater, wie Peter Stein es gern auch in der Oper abliefert, ein Theater, das so gar nicht zum eigentlichen Kern dieser Inszenierung passt.
Im riesigen leeren Bühnenkasten hat Stein jede Szene auf die Mittelachse hin arrangiert, Figuren im edlen Kostüm sind da immer wieder zur dynamischen Aufstellung angeordnet. Und was Stein seinen beiden Hauptakteuren an Zurücknahme abgerungen hat, das hat er, so scheint es, insbesondere den beiden bösen Töchtern eingehaucht, die in Gestalt von Corinna Kirchhoff und Dorothee Hartinger als comichafte Megären am Rande der Peinlichkeit agieren:
- "Ich habe ihn in meine Rechte eingesetzt, so kann er sich den besten ihrer gleichen."
- "Das höchstens nur, wenn er sich euch vermählte."
- "Aus Spöttern werden oft Propheten."
- "Hola."
- "Das Auge, mit dem du das gesehen hast, schielt."
- "Mylady, mir ist nicht wohl, sonst gäb ich dir aus übervoller Galle Antwort."
Und so verlässt man das Wiener Burgtheater nach diesem Lear mit äußerst gemischten Gefühlen, obwohl man sich eines Tages wohl doch daran erinnern wird, Klaus Maria Brandauer auf einem weiteren Höhepunkt seiner Karriere gesehen zu haben.