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Theater
Großer Spaß an grellen Zerfallsbildern

Frank Castorf hat an der Berliner Volksbühne "La Cousine Bette"nach Honoré de Balzac inszeniert. Es ist ein fünf Stunden langer gewaltiger, pornografischer, deutsch-französischer Zeitenwende-Untergangsklamauk geworden.

Von Eberhard Spreng |
    Was Geld mit den Menschen anrichten kann, zeigt nichts deutlicher als die Prostitution: Da wird erst der Körper verkauft, dann der Geist und dann die Seele, und wenn alles verloren ist, die Ehre, das Selbstbewusstsein, dann ist der Preis, den man für sich selbst erzielen kann, noch geringer als er vorher schon war. Diese Binsenweisheit, diesen Grundkurs in kapitalistischen Verkehrsformen muss Baronin Adeline Hulot d’Evry erst noch lernen. Ihr älterer Ehemann ruiniert mit seinem ausschweifenden Leben die Familie. Marc Hosemann erteilt als Geschäftsmann Célestin Crevel Kathrin Angerer diese Lektion mit breitem rheinischen Akzent, krämerseelenhaft, hemdsärmelig und unverblümt. In den ersten Minuten der Aufführung versteht sie im fahlen Licht eines Kaminfeuers nicht so recht, wovon die Rede ist, nach fünf Stunden auf der Vorderbühne und im grellen Schein des Rampenlichts hat sie begriffen.
    In der Zwischenzeit ist alles kaputt gegangen und Frank Castorf hat einen gewaltigen pornografischen deutsch-französischen Zeitenwende-Untergangsklamauk veranstaltet, einen anarchischen Reigen mit präzis sich steigerndem Verrücktheitsquotienten. Denn die Zeiten, in denen er es etwa eineinhalb Stunden nah am Text ausgehalten hat und seine Inszenierungen dann unvermittelt in lockere soziopolitische Vortragsreihen umschlagen ließ, unterbrochen von improvisierten Rüpel- und Rempelexzessen, sind lange vorbei. Frank Castorf hält das sportlich Improvisierte mit dem präzis Geplanten und Geprobten in einer aufregenden Balance. Denn alles, was sich zwischen den Akteuren in den engen Räumen eines schwarzen Bühnenaufbaus abspielt, übertragen kleine Videoteams nach draußen auf Videoleinwände, und da sieht jedes Bild, jeder Schnitt, jedes Gegenlicht, jeder Ausschnitt und der Rhythmus des Ganzen verdammt gebaut aus und überhaupt nicht zufällig. Es sind Bilder von grell überzeichneten Figuren, Karikaturen der Gier, der Eitelkeit, der Verführung.
    Die Titelfigur, diese arme, missgünstige, intrigante Tante Lisbeth spielt die französische Filmdiva und Sängerin Jeanne Balibar, deren Theaterauftritte im Nachbarland allerdings gelegentlich hinter den Erwartungen zurückblieben, zuletzt als Nova in Handkes "Über die Dörfer" in Avignon. Hier aber wirft sie sich mit unverkrampftem Elan ins Groteske des Castorf-Theaters.
    "Ich habe auch Idee, aber was nützen uns diese unwirklichen Schätze, wenn man keinen Nutzen daraus ziehen, kein Haus darauf bauen kann. Leute, die Idee haben, kommen nie soweit wie die, die keine haben. Tüchtig rühren muss man sich nur, das ist die Hauptsache. Statt ins Blaue hineinzuträumen, sollten sie ... ficken."
    Von Stunde zu Stunde lebendiger und wacher
    Verbündete beim erotischen Angriff auf die Familie Hulot ist die französische Schauspielerin Claire Sermonne als Courtisane Valérie. Mit ihr hatte Castorf am Pariser Odéon bereits gearbeitet. Immer wieder wechseln die beiden Aktricen unvermittelt ins Französische, albern über Paris und Berlin, ducken sich schließlich wie Kinder unter einer Matratze, als die durch Geldgier zerfressenen, vom sittlichen Verfall zerrütteten Männer sich unvermittelt in knurrende Bestien verwandeln, in die Vorläufer des faschistischen Furors. Jetzt ist plötzlich von Flucht die Rede, vom Ende des lustigen Kulturexils. Castorf will in der Balzacschen Romanwelt, bei den bigotten Heuchlern der frühen 1840er-Jahre den latenten Antisemitismus und eine präfaschistische Mentalität offen legen. Aber das geschieht eher kurzschlussartig, zu groß ist sein Spaß an den grellen Zerfallsbildern.
    Bert Neumann hat ein schwarzes Haus in das Glitzerfädendekor von René Polleschs "Glanz und Elend der Courtisanen“ eingebaut: eine Blackbox mit Außentreppe und diversen Salons im Inneren: Parkett, Empire-Stühle, goldgerahmte Ahnenreihe. Außen hängt eine rote Lampe, der Schriftzug "Asia Quick" flackert in der Dunkelheit. Ganz oben im Dachboden haust die bösartige Tante Elsbeth. Einmal spinnt sie sich selbst im fahlen Licht des kleinen Kamerascheinwerfers in ein Netz von Fäden ein, eine Spinne in Erwartung ihrer Opfer. Alexander Scheer wütet grinsend, kopulierend, blutend durch die Räume und spielt den erotomanischen Familienvater wie eine Fernsehklamauknudel; Katrin Angerer gibt seine Frau als komisch manierliche Baronesse mit kunstvoll geflochtener Hochfrisur. Lilith Stangenberg spielt die blasse Tochter mit den immer aufgerissenen Augen: Ein Bordellgespenst mit krächzendem Stimmlein. Ganz zum Schluss geistern alle mit syphilitisch entstellten Gesichtern, mit Greisenposen über die Vorderbühne, tänzeln ausgelassen auf der Stelle und albern über das Nicht-Enden-Wollen der Aufführung. Und der wachmüde Zuschauer mutmaßt, dass der alte neue Castorf mit diesem Romankehraus seine vorbehaltlos in der Aktion wütenden Schauspieler und seine um sie herumtanzenden Kameraleute und Tonangelmänner in fünf Stunden nicht müde gekriegt hat, sondern von Stunde zu Stunde lebendiger und wacher.