Die "Notoperation" ist der Inszenierung kaum anzumerken. Im Gegenteil - mit etwas gutem Willen geht die Reduzierung des literarischen Monstrums sogar als dramaturgisch ganz ordentliche Idee durch: Nur von Planung und Ausführung des Verbrechens zu erzählen, das am Beginn der selbstbewusst-kriminellen Karrieren des armen Studenten Raskolnikow steht. Er ermordet ja die böse alte Pfandleiherin, die ihm das Plätzchen vermietet hat, den "Sarg", in dem der Student vor sich hin vegetiert. Der "Sarg" ist hier das Etagenbett in einer Massenunterkunft; er lebt so, wie heute Leiharbeiter gehalten werden – und das ist schon der erste kluge Clou in Henkels "Schuld".
Wer immer in diesen Betten lebt, ist hier ein Raskolnikow; ein halbes Dutzend von ihnen haust im düstren Kellerloch und trägt den Mordplan in sich. Der muss geprobt werden, genau berechnet und bedacht, damit er funktioniert – also proben die Raskolnikow. Wie im Theater.
So hat die Inszenierung auch die umzugsbedingte Besonderheit des Abends fest im Blick. Irgendwann später wird Lina Beckmann (die Ensemblemitglieder reden einander gelegentlich mit Klarnamen an) jauchzen und jubilieren, dass sie irgendwann auch noch den ganzen Roman proben werden, auf der großen Bühne.
Im Halbdutzend übernehmen nun zwar alle auch Partien am Rand von Raskolnikows Lebensweg – vor allem aber sind sie gemeinsam und kollektiv der Mörder in spe; immer wieder in Angst vor der eigenen Monstrosität, verheddert sich ihr Denken in Zweifel und Widerspruch.
Je mehr die Raskolnikows aber vom Leben drum herum wahrnehmen, desto radikaler wächst die Hybris – so viele schlechte und verkommene Menschen "dürfen" leben, in der Kneipe, auf der Straße, ja selbst in der eigenen Familie, dass Raskolnikow selbst sich als auserwählt empfindet. Und die zentrale Idee des Romans gebiert: Menschen gibt's, die so außergewöhnlich sind, dass sie das Recht (und sogar die sozialhygienische Pflicht!) haben, die Minderwertigen aus der Welt zu räumen.
Und darum muss zunächst mal die alte Pfandleiherin weg; dass dabei auch deren debile Schwester mit dran glauben muss, geht als "Kollateralschaden" durch.
Hat schließlich einer der Raskolnikows die Frauen mit dem Beil getötet (und dafür zwei Kunst-Gerippe wie aus dem Anatomie-Unterricht mit roter Farbe übergossen), kommt der gemütliche Herr Inspektor – und führt den Täter auf theoretisches Glatteis; Student Raskolnikow hatte die eigene und ungeheure Theorie so sogar anonym veröffentlicht ... Hier beginnen im Roman weitere 700 Seiten voller Reflexion und Gegrübel, aber der Erwerb von "Schuld" ist schon vorbei. Wie auch die Inszenierung.
Aus der Vervielfachung des in sich zergrübelten Protagonisten gewinnt Henkels Inszenierung viel Kraft, und dem Hamburger Ensemble ist es tatsächlich gelungen, die Energie des frühen Probenstadiums (wo ja alles auch noch ganz anders erzählt werden könnte) bis zur Premiere und in die fertige Aufführung zu retten. Sie darf und soll ja angenehm unfertig wirken, und im andauernden Suchen nach Lösungen wachsen Ironie und Vergnügen.
Mal kommt eine Bar samt Musikant herein gerollt, und alle brechen in larmoyantes Wodka-Gejammer aus, mal kommt ein Maler herein und beginnt damit, die aus grob gerasterten Fotos geformten Teile der Bühne von Thilo Reuther schwarz anzustreichen: "Is' doch der Malersaal hier, ne?", hamburgelt er dazu. Später, nach dem Mord, wird übrigens er als Zufallstäter herhalten müssen am Beginn der Ermittlungen.
Natürlich fehlt dem Abend der große Zugriff, der forciert intellektuelle Überbau. Das kann ja auch gar nicht anders sein. Aber als Theaterfantasie unter extrem erschwerten Bedingungen macht diese "Schuld" immerhin viel Appetit auf die "Sühne".