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Theater
Leben gegen Leben abgewogen

Eine bemerkenswerte Debüt: Ferdinand von Schirachs erstes Theaterstück "Terror" hatte gleichzeitig in zwei Städten Premiere, insgesamt 16 Bühnen präsentieren es. Und es ist ein Stück mit zwei Enden, bei dem das Publikum entscheidet, welches gespielt wird. Der Frankfurter Intendant Oliver Reese setzte noch einen drauf und ließ zuvor Kleists "Zerbrochenen Krug" spielen - quasi als Gegenstück.

Von Cornelie Ueding |
    Das Modell einer Gerichtsverhandlung auf dem Theater: Nach dem Muster "Wie würden Sie entscheiden?" werden wir Zuschauer zu Schöffen erklärt, bekommen Teleprompter in die Hand gedrückt und müssen kurz vor der Urteilsverkündung abstimmen: Mit dem hauchdünnen Vorsprung von zehn der abgegebenen rund 500 Stimmen wird der Angeklagte, der Eurofighter-Pilot Lars Koch, vom Vorwurf des 164-fachen Mordes freigesprochen. Großer Applaus.
    Der dem Gericht vorliegende Fall ist gravierender Art. Als eine Art Prinz von Homburg im Cockpit war Koch losgestürmt, hatte gegen den ausdrücklichen Befehl des Verteidigungsministers ein von islamistischen Terroristen gekapertes Verkehrsflugzeug im Anflug auf ein mit 70.000 Zuschauern vollbesetztes Stadion gerade noch rechtzeitig abgeschossen. Die Kernfrage des Prozesses: Darf man Menschenleben gegen Menschenleben abwiegen, durfte er die kleinere Gruppe von Unschuldigen in den Tod schicken, um die weit größere Zahl Unschuldiger zu retten? Eine Frage, mit der sich das Bundesverfassungsgericht bereits 2005 beschäftigt hatte und diese Option mit dem Hinweis auf die "Unverletzbarkeit der Würde des Menschen" dezidiert verwarf. Doch dort oben, im Kopf des jungen Offiziers in der Kanzel des Abfangjägers, der die Katastrophe ganz konkret auf sich und die Nichtsahnenden zukommen sah, spielte sich unter Stress ein Drama ab, das nichts mit den rechtsphilosophischen Debatten der Gelehrten zu tun hat – und er schoss. Und sagt vor Gericht, dass er es wieder tun würde, wieder tun müsste. Dennoch bleibt unklar, was solch eine Art des fiktionalen Dokumentartheaters bewirken soll: Soll die Fallstudie gar das Theater als moralische Anstalt wiederbeleben? Ist der Schlagabtausch von Argumenten im Bühnen-Prozessverfahren als Impuls gedacht, uns zu politischem Denken anzuregen?
    Gewiss, Szene und Tribunal, Bühne und Gericht haben viel und Grundsätzliches miteinander gemein. Beide fassen Wirklichkeit in Sprache, beider Argumentation bewegt sich in Grauzonen, entlang der schlüpfrigen Klippen der Deutungsspielräume, im Treibsand der Mehrdeutigkeit. Und genau diese gefährliche Grenzgängerei sollte man spüren, nicht vorgeführt, ja zum Teil während der ideengeschichtlich geladenen Plädoyers sogar vordoziert bekommen. Das Theater mag eine Art Gerichtsstätte sein, doch es ist kein Zufall, dass auf der Bühne ein Urteil im Sinne der Prozessordnung eben gerade nicht gesprochen wird. Und so ist leider die Neugier auf das Resultat das einzig Spannende an diesem Lehrstück. Denn wo die Gerichtswirklichkeit im Verhältnis 1:1 abgebildet wird, erfahren wir von den Menschen hinter der Aktenlage nur, was das Gerichtsprotokoll preisgibt. Selbst die verfänglichen Fallen der bösartig sachbezogenen Staatsanwältin dienen nur der Erweiterung eines juristischen Kollegs.
    "Wir brauchen … etwas Verlässlicheres als unsere spontanen Überzeugungen… Wir brauchen: Prinzipien.
    Diese Prinzipien, verehrte Damen und Herren Richter, haben wir uns selbst gegeben. Es ist unsere Verfassung. Wir haben uns entschlossen, jeden Einzelfall nach ihr zu entscheiden. Jeder Fall ist an ihr zu messen und an ihr zu prüfen. An ihr - nicht an unserem Gewissen, nicht an unserer Moral und schon gar nicht an einer anderen, höheren Macht. Recht und Moral müssen streng voneinander getrennt werden. Es hat lange gedauert, bis wir es begriffen haben: Genau das ist das Wesen des Rechtsstaates."
    Regieeinfälle wie die, dass der Verbindungsoffizier seine Aussage Wort für Wort mehr hervorkaut als spricht; und der Angeklagte bei der Schilderung der Nebenklägerin, deren Mann unter den 164 Toten war, zu weinen beginnt, machen vor allem das Dilemma dieser Art von Theater sichtbar.
    Regisseur Oliver Reese hat nun in einem Doppelprojekt der Uraufführung von "Terror" Kleists "Zerbrochenen Krug" vorangestellt. Gleiche Bühneneinrichtung: Auf erhöhtem Podest vor hoher Rückwand die Sitze für alle Prozessbeteiligten. Hier werden alle Akteure bei Gericht einer Ermittlung unterzogen und die doppelten Böden der Instanz lustvoll demontiert. Listig, gerissen, bigott bis ins Mark verwendet Richter Adam die Bühne des Provinzgerichts als Ort einer geradezu spektakulären Manipulation. Doch in Frankfurt flegelt er herum, macht Stielaugen, fährt wild auf, verdreht hektisch die Beine wie die Wahrheit und bleckt permanent die Zähne. Zickige Ausfälle, Rempeleien auf schmalstem Raum, kaum Abgründiges trotz hochkarätiger Besetzung, Karikaturen statt Ambivalenzen. Der Auftritt der abergläubischen Augenzeugin wird gar zur Schickimicki-Nummer. Dazwischen eingeklemmt und lange stumm: Eve, das Opfer von Adams erpresserischem Übergriffsversuch. Bis sie sich ans Publikum, die Beobachter dieses Wahrheitsverdrehungs-Prozesses wendet und ihre Not herausschreit. Bei Kleist könnte die Bühne zum Tribunal des Tribunals werden. Bei Schirach erleben wir nur den Versuch, das Tribunal auf die Bühne zu stellen.