Musik: Jeffrey Ching, Die wahre Geschichte von King Kong, Nr. 1, Prolog "Beast and Beauty" (Chor)
"Beast and Beauty" – Tier und Schönheit heißt es im Prolog, im eröffnenden Chor dieses neuen Musiktheaters zum Thema "King Kong". Nicht erst seit dem legendären Film von 1933 fasziniert dieser Gegensatz. Mindestens seit dem französischen Volksmärchen "La belle et la bête" (Die Schöne und das Biest) aus dem 18. Jahrhundert. Hier kämpfen – frei nach Goethe - die "zwei Seelen, ach" in unserer Brust: Mensch und Tier, Gut und Böse, schön und hässlich, gesittet und triebhaft.
"Die Figur der King Kong ist ja ein popkultureller Held, seine Geschichte hat eine Tragweite wie ein moderner Mythos. Dadurch, dass es so viele Remakes gibt, und man immer wieder an diesen Helden, diese tragische Figur erinnert wird, heißt das ja auch, das es etwas gibt, das uns permanent immer weiter begeistert, über Zeiten hinweg", sagt die Librettistin und Regisseurin Roscha Saïdow.
Protagonisten des Films vor einer Art Weltgericht
Mit dem britisch-chinesischen Komponisten Jeffrey Ching hat sie den "King Kong-Stoff" neu befragt. Fast 90 Jahre nach dem Streifen "King Kong und die weiße Frau" von 1933 stehen die Protagonisten des Films vor einer Art Weltgericht. Im Zeugenstand stellen sie ihre Version der Geschehnisse dar, dabei kommen verschiedene Wahrheiten ans Licht. Jeder projiziert etwas anderes in den Riesen-Affen. "Die wahre Geschichte von King Kong" hat also viele Facetten. Eine hat Roscha Saïdow besonders interessiert:
"Egal wie sehr er in der anderen Kultur stark war, oder egal was vielleicht die anderen Figuren, die in diesem Gerichtsprozess im Zeugenstand stehen und ihre Begegnung mit King Kong beschreiben, letztendlich ist er ein Mensch, der von einer Gesellschaft nicht akzeptiert wurde, allein weil er anders ist. Das ist in unserer heutigen Zeit ne wahnsinnig wichtige Frage und ein Bild, dem wir uns immer wieder widmen müssen."
Musik: Jeffrey Ching, Die wahre Geschichte von King Kong, Nr. 9 "King Kong" (Denham, Ann, Miranda, Waiter)
So vielschichtig wie die "Projektionsfläche King Kong" ist auch das Musiktheater von Jeffrey Ching und Roscha Saïdow. Da ist die Ebene der Opernsänger. Sie spielen im Heute, verkörpern aber Rollen aus dem Film von 1933: Denham, der sensationssuchende Regisseur, Ann, die Hauptdarstellerin und natürlich Kong. Einige Figuren wurden dazu erfunden, zum Beispiel als Gegenpol zu Ann Miranda, die eigentliche erste Braut von Kong, die dann Ann weichen musste. Alle Figuren haben ein stummes Schauspieler-Double. Nur die Richterin des Prozesses spricht.
Szenen aus dem alten Film
Auf einer zweiten Ebene, der Ebene der Vergangenheit, werden mit einem Miniatur-Puppentheater Szenen aus dem alten Film gespielt, im Jungle oder auf dem Empire State Building. Dabei projiziert und vergrößert eine Live-Kamera das Puppentheater-Geschehen auf eine auch durchsichtige Leinwand, die die Bühne quer teilt. Eine dritte Schicht zeigt schließlich vorproduziertes und live gefilmtes Material. Es sind keine konkreten, dafür aber assoziationsträchtige Bilder, die manchmal an die scherenschnittartige Schwarz-weiß-Ästhetik alter Stummfilme erinnern.
Musik: Jeffrey Ching, Die wahre Geschichte von King Kong, Nr. 21 "Denham. Help!" (Ann, Denham, Chor)
"Was wir haben ist eine wunderbar Verknüpfung von diesen ganzen verschiedenen Medien, Puppe im Film, aber auch Puppe im Zusammenspiel mit Musiktheater, mit Video, Opernsänger im Zusammenspiel mit Film, all diese Sachen treffen sich auch auf einer Schauspielebene, die Puppenspieler haben einen Sprechchor, die Opernsänger bedienen teilweise kleine Puppen, da ist vieles wie ein Netz gewebt worden."
Roscha Saïdow ist mit ihrer Regie vor allem ein spektakuläres Theatererlebnis gelungen. Besonders die ineinander schmelzenden, sich überlagernden Schichten üben eine große Faszination aus, etwa wenn sich ein live-gefilmter Sänger-Kopf im Puppentheater zeigt. King Kong selbst erscheint in verschiedenen Gestalten. Der Riesenaffe besteht aus einem eher sympathisch-gutmütig aussehenden Riesen-Kopf und zwei Riesen-Händen, die von drei Spielern an Bändern gelenkt werden. Später taucht er als Mensch, Sänger und Schauspieler auf.
Musik: Jeffrey Ching, Die wahre Geschichte von King Kong, Nr. 25 "Love once called me" (Ann, Chor)
Die sich überlagernden Schichten transportieren manchmal jedoch so viel Information, dass man vor Reizüberflutung den Überblick verliert. Wenn man dann noch die deutschen Übertitel des englisch gebotenen Stücks erfassen will, bekommt man wirklich Schwierigkeiten.
Vielschichtigkeit des Stoffes wird durch Polystilistik verdeutlicht
Jeffrey Chings Musik greift polystilistisch die Vielschichtigkeit des Stoffes auf, mit Jazz- und Unterhaltungsmusik-Anklängen aus den 1930er-Jahren, mit atonalen oder freitonalen Abschnitten, oder Bezügen auf die barocke, oratorische Polyphonie. Man denkt an Johann Sebastian Bach und hört zuweilen auch die Tonfolge B-A-C-H. Zwar sind die verschiedenen Stilistika auch verschiedenen Personen zugeordnet, doch im Ganzen ist die Musik eher illustrierend als opernhaft dramatisch. Dynamisch bewegt sich das Setting hauptsächlich im Forte-Bereich, nicht selten hatten die zum Teil mikrofon-verstärkten Sänger dennoch Schwierigkeiten gehört zu werden.
Musik: Jeffrey Ching, Die wahre Geschichte von King Kong, Nr. 9 "King Kong" (Denham, Ann, Miranda, Waiter)
Musikalisch empfahl sich die Magdeburger Philharmonie unter Kirill Stankow mit beeindruckender Präzision und Stil-Flexibilität. Auch sängerisch war das Niveau hochklassig, besonders überzeugten Lauren Urquhart als Ann, Andión Fenández als Miranda, James Bobby als King Kong und Bradley Smith als Denham. Die wahre Geschichte von King Kong, die eine Wahrheit gibt es nicht, auch das zeigt diese Produktion. Ihre Qualität liegt in der virtuosen Kombination, Gegenüberstellung und Überlagerung verschiedenster theatralischer Mittel, sie bietet so reichlich Assoziationsstoff, sich unterhaltsam mit der Faszination King Kong auseinander zu setzen. Besseres kann Musiktheater kaum leisten.