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Theaterbesuch als Pflichtunterricht

Theaterbesuche sollten Teil des Unterrichtstoffs an Schulen werden. Das fordert der Gründer und Leiter des Berliner GRIPS-Theaters, Volker Ludwig. 90 Prozent aller Kinder würden Theater nur durch die Schule kennenlernen können.

Volker Ludwig im Gespräch mit Beatrix Novy | 05.10.2009
    Beatrix Novy: Morgen kommt sogar der Bundespräsident, wenn das Berliner GRIPS Theater die Festivitäten zu seinem 40. Geburtstag einleitet. Zum Programm gehört auch eine Revue mit dem Titel "Linie 2 – der Albtraum". Das Stück "Linie 1" hat bis heute eine geradezu unwahrscheinliche Karriere in aller Welt gemacht, es funktioniert offenbar auch in Ländern, wo noch nie jemand eine Berliner U-Bahn gesehen, geschweige denn bestiegen hat. Aber das GRIPS ist ja viel mehr als "Linie 1", als Kinder- und Jugendtheater: Es ist der Inbegriff eines Aufbruchs. Volker Ludwig, sein Gründer und Leiter, weiß das selbst am besten. Aber wie sieht die Situation heute aus? Müsste, würde Volker Ludwig das GRIPS noch mal gründen?

    Volker Ludwig: Aber natürlich. Das wäre aber auch nur in Berlin möglich gewesen und es wird auch wieder nur hier möglich sein.

    Novy: Warum?

    Ludwig: Weil es eine besondere Atmosphäre war. Also, damals war es ja dieser Widerspruch – einerseits die linke Bewegung, von der wir ein Teil waren, und andererseits eine ziemlich zum Teil reaktionäre Stadt, also, diese Polarisierung war immer sehr nützlich. Und das Zweite, ganz andere ist, dass die Berliner Mentalität, die Berliner Sprache, die Berliner Bildhaftigkeit unendlich stark zur Qualität dieses Theaters beigetragen hat, zu den Dialogen, zu den Liedern.

    Novy: In 40 Jahren hat sich das Verhältnis zu Kindern, der Umgang mit Kindern sehr geändert, es gibt auch längst ein soziales Milieu, das mit dem GRIPS Theater vielleicht auch teilweise aufgewachsen ist. Wie hat sich die Besucherlage im GRIPS Theater in all den Jahren verändert, was ist da passiert und wie hat sich die andere, soziale Realität, die vom Wirtschaftswunderland in die heutige Situation geführt hat, ausgewirkt?

    Ludwig: Nun, wir fingen ja an mit einem antiautoritären Kindertheater, weil es das Wichtigste war, das Selbstwertgefühl der Kinder erst einmal zu stärken. Es war eine unterdrückte Klasse für uns, das hat sich sehr geändert. Wir mussten uns sehr stark durchkämpfen, es kamen also wirklich nur erst die progressiven, linken Lehrer zu uns, bis es dann allgemein ein Kulturgut wurde. Heute sind wir ganz allgemein anerkannt, heute kommt jeder. Aber die Schwierigkeiten sind jetzt neue, weil die engagierten Lehrer, diese Achtundsechziger-Generation ist abgetreten, und die neuen Lehrer muss man sehr, sehr stark animieren, damit die in dem zusätzlichen Stress, den sie jetzt haben – im Rahmen der ganzen Reformen und Reduktion von 13 auf 12 Schuljahre und so weiter –, dass sie überhaupt noch kommen können.

    Novy: Umgekehrt könne man meinen, dass es ja auch ganz entlastend ist, mit den Kindern, mit den Schülern mal ins Theater zu gehen, statt sie in der Klasse zu haben. Liegt es auch daran, dass Ihre Stücke immer Themen der sozialen Realität, also auch aktuelle Probleme aufnehmen, die dann natürlich auch diskutiert werden?

    Ludwig: Ja, also, die Lehrer lieben natürlich am meisten Stücke, die in ihren Rahmenplan passen, dann sparen sie sich einfach Arbeit, oder die ganz eng mit den Problemen in ihrer Klasse zu tun haben wie also Mobbing in der Grundschule oder Markenklamotten oder so etwas. Und das Problem ist heute, dass die existenziellen Probleme, die wir behandeln – wie Ehescheidung und so weiter –, dass das von den Lehrern nicht mehr gern gesehen wird, weil sie sich diese Probleme nicht noch zusätzlich aufhalsen wollen.

    Novy: Theater für Kinder halten Sie natürlich für wichtig. Sie haben im letzten Jahr angemahnt, dass es davon zu wenig gibt. Wie stellen Sie sich eine, sagen wir mal, bessere Situation im ganzen Land vor, nachdem man das GRIPS ja nicht exportieren kann?

    Ludwig: Na ja, es gibt ja fantastische Beispiele, an die man sich nur halten muss. In Skandinavien ist es einfach die Regel, dass Kinder ab Kindergarten zwei Mal im Jahr ins Theater gehen, das gehört einfach dazu. Die zehnjährigen Kinder dort sind einfach Theaterprofis. Deswegen sind ja auch die schwedischen Kinderstücke für deutsches Theater in der Regel zu kompliziert, weil die deutschen Kinder noch gar nicht im Theater waren oder nur ein Mal. Und in anderen Ländern ist das selbstverständlich, und Deutschland gibt Milliarden aus für diese riesige Theaterlandschaft und bringt so etwas nicht fertig. Die Hälfte aller Kinder wird nie ins Theater gehen, weil sie es in der Schule nicht kennengelernt haben. Es ist ein Skandal.

    Novy: Aber es sind doch immer mehr Kindertheater angegliedert worden, Kinder- und Jugendtheater, an die Stadttheater. Die müssen doch von Schulen besucht werden, sonst würden sie ja nicht existieren können.

    Ludwig: Ja, klar, es gibt ja auch so ein paar Inseln der Seligen, Osnabrück und so weiter, wo es wirklich geschafft wird, dass jede Klasse ein, zwei Mal ins Theater geht. Aber das sind Ausnahmen. Es ist halt freiwillig und es ist nur zum Teil, und es ist einfach traurig. Die Kinder haben entweder Glück oder Pech, auch in Berlin. Ein engagierter Lehrer, der bringt sein Kind vielleicht zehn Mal ins Theater und wenn jemand Pech hat und einen anderen Lehrer hat, der wird nie Theater kennenlernen, denn 90 Prozent aller Kinder können Theater nur durch die Schule kennenlernen.

    Novy: Das heißt, der Theaterbesuch sollte Teil des Curriculums sein?

    Ludwig: So ist das. Dafür kämpfe ich seit 30 Jahren, aber habe bisher keinen Erfolg gehabt.

    Novy: Trotzdem unermüdlich – Volker Ludwig vom GRIPS Theater, ein Erneuerer des Kindertheaters, kann man wohl sagen.